Julian Dillier
Eine Erzählung
Vorwort
Im Schatten der Dorfkapelle
Angeheuert
Residenz
Trinklä
Jugendland
Autoritäten
Geheimnisse
Gesprächsstoff
Meebesseri
Schwester Leonardina
Der Tod
Sünden
Heimat
Fronleichnam
Staatskunde
Rathaus
Weihnachten
Theater
Ein Kind von Bruder Klaus
Epilog
Glossar
Wir blicken in die Zeit der 1930er-Jahre, auf eine kleine, in sich ruhende Welt: Sarnen im Kanton Obwalden. Hier steht die Kirche noch mitten im Dorf. So eine Kirche leuchtet fürsorglich übers ganze Dorf, und sie ist in Gestalt des Herrn Pfarrers und im Takt ihrer hohen Feiertage eine heilige Autorität. Mit zwei anderen, schwächeren, bildet sie ein Dreigestirn: Da ist die politische Autorität mit den hohen Herren im Rathaus, und da ist die pädagogische mit dem in Staatskunde beschlagenen Herrn Lehrer der Dorfschule und den Professoren des altsprachlichen Kollegiums.
Im Schatten der Dorfkapelle Maria Lauretana schlummert eine alltägliche, in ihrer Art aber nicht minder anmutige Einrichtung: Es ist der Merkur-Laden einer gewissen Frau Bartsch. Als einstige, nunmehr verwitwete Offiziersgattin bringt sie aus Dresden den Duft der weiten Welt in den ländlichen Flecken Sarnen. Der blitzsaubere Eingang und eine gut assortierte Schaufensterauslage adeln ihr Kolonialwarengeschäft zu einem vornehmen Salon, dem die Gattinnen von Juristen und höheren Beamten ihre Aufwartung machen und den feinsten Kaffee, die beste Schweizer Schokolade und die zartesten Biskuits kaufen. Frau Bartsch ist stets adrett gekleidet, und so wähnen sich ihre Besucher mehr als Gäste denn als Kunden. In ihrer andachtsvollen Geschäftigkeit pflegt die weltläufige Heimkehrerin mit ihren Gästen nämlich einen distinguiert-vertrauensvollen Umgang, der darüber hinaus im Fall der redseligen und scharfzüngigen Rathaus-Kanzlistin Anni Seiler zu einer mitunter geheimnisträchtigen Vertraulichkeit reift. Allein, Frau Bartsch ist stets darauf bedacht, Anstand und Sittlichkeit zu wahren und einfältigem Gerüchtebrauen und unrühmlichem Geheimniskrämern beherzt entgegenzutreten.
Im Merkur-Laden findet das Dorfleben sein Echo. Im Frühling erfüllen Gespräche zur Landsgemeinde den Raum, Ostern erlebt seine Auferstehung auf den Ladengestellen und die köstlichen Weihnachtsgeschenke stehen dem Gabentisch des Schützenfestes in nichts nach. Frau Bartsch, ebenso geschäftstüchtig wie kunstsinnig, bietet alles so weihevoll feil, dass es an die Verrichtungen an einem Altar gemahnt. Wie die Kirche mit ihrer liturgischen Ordnung das Heilige in den Alltag einführt, so besitzt Frau Bartsch die Gabe, dem Alltäglichen die höhere Weihe des Sonntäglichen zu verleihen.
In diese ebenso kleine wie weite Welt tritt eines Tages der zehnjährige Ich-Erzähler, indem er als Ladenhilfe und Botengänger anheuert. Vor seinen Augen entfaltet sich das Wirken und Weben eines vielfältigen Figurenkabinetts, er hört von Angelegenheiten, die Erwachsene als «frivol» und «scandaleux» abkanzeln, von der Kanzlistin, die mit ihren Seidenstrümpfen das ganze Rathaus durcheinanderbringe, dass eine schöne Handschrift der Schlüssel für den Staatsdienst sei und «in der Schule deshalb auswendig gelernt werden» müsse, «weil die Kinder nicht zum Denken erzogen werden dürfen». Wenn das keine Gebrauchsanweisung fürs Erwachsenwerden ist!
Mit dieser autobiographischen Erzählung entführt uns Julian Dillier mit rührender Feinsinnigkeit in seine Kindheit im Hauptort von Obwalden. Es ist ein Erinnerungsstück an die 1930er-Jahre, gezeichnet in einer anekdotenhaften Leichtfüssigkeit, grundiert mit einem liebevollen Heimatsinn und umrahmt von einer altersweisen Genügsamkeit.
Vielleicht ergeht es Ihnen wie mir, und Sie sind versucht, am stillen Dorfplatz im Schatten der Dorfkapelle nach dem kleinen Tempel jener grossen Dame Ausschau zu halten und weiteren Geschichten aus dem Land «ob dem Wald» zu lauschen. Mit etwas Glück entdeckt man vor Ort eine eigene Figur wie Frau Bartsch, eine höchstpersönliche «Lichtgestalt mit zugehöriger Lehranstalt».
Heute, im Februar 2022, wäre der Schweizer Mundartautor Julian Dillier 100 Jahre alt geworden. Frau Bartsch aus dem Jahr 1989 ist sein einziges Prosastück und wird zu seinem Geburtstag neu aufgelegt.
Sachseln, im August 2021
Marc von Moos
Im Schatten der Dorfkapelle
Auch ein Dorf kann schlafen. Es liegt da wie mit geschlossenen Augen, etwa am frühen Morgen. Die Geschäfte mit heruntergezogenen Rollläden. Der Dorfbrunnen steht in leisem Dunst. Einige Frauen, auch Klosterfrauen, huschen in die Dorfkapelle, in der Allee des Frauenklosters raschelt es im Laub. Wenn man in der Frühmesse ministrieren muss, begegnet einem vielleicht ein frühes Fuhrwerk oder es fällt ein Lichtschimmer auf die Strasse aus dem Stall der stummen Fangers, die die Kühe melken und das Vieh mit Heu versorgen. Das Dorf erwacht erst gegen acht Uhr.
Der Gottesdienst in der Kapelle ist zu Ende. Nach diesem Gottesdienst öffnen die Geschäfte, rattern die Rollläden hinauf und da erscheint Frau Bartsch mit dem Besen vor dem Laden. Wenn sie herauskommt, schliesst auch der Konditormeister Spichtig gähnend seine Konditorei auf. Zuvor bindet er sich immer eine saubere weisse Schürze um. Ein Zeichen für Vater Hurni, seinen Laden gegenüber der Post wie zur Markierung zu umschreiten und einen Blick in seinen Garten zu werfen. Unversehens springen in diesem Augenblick aus dem Uhrenladen Imfeld zwei Mopse ins Freie, beschnuppern das Trottoir nach Neuigkeiten, keuchend und mit kurzem Atem, und bezeichnen mit hochgestrecktem Bein ihren Besitz an der Hauswand.
Frau Bartsch, die Inhaberin des Merkur-Ladens im Schatten der Dorfkapelle, widmete die erste Verrichtung des Tages der Sauberkeit um ihren Laden. Für sie war ein blitzsauberer Eingang, zusammen mit einem gepflegten Schaufenster, eine Einladung, sie in ihrem Kolonialwarengeschäft zu besuchen. Sie empfing jeden Kunden wie einen Gast. Sie kleidete sich auch immer so, als ob sie ihre Kunden wie Gäste behandeln wollte. Als Bub fiel mir dies auf. Andere Frauen im Dorf trugen schmucklose, graue Berufsschürzen, sie hingegen war stets sehr adrett angezogen.
Frau Bartsch war eine sehr gepflegte Frau. Mich dünkte, sie wirke immer gleich alt. Weil sie die fünfzig schon überschritten hatte, gehörte sie in meinen Augen bereits zur älteren Generation. Zu jener Generation, die gerne erzählte, wie früher alles besser war, gesitteter und vornehmer. Weil Frau Bartsch das Wort «vornehm» recht gerne in den Mund nahm, verglich ich sie heimlich mit einer der adligen Frauen, wie sie mir in den Romanen begegneten, die ich mir heimlich vom kleinen Büchertischchen der Mutter stibitzt hatte. Es ging in diesen Romanen auch gar üppig zu und her mit Liebschaften in Adelskreisen.
Frau Bartsch hatte etwas an sich, das mich an solche Kreise mahnte. Sie trug durch ihre Heirat mit einem Internierten aus sehr gutem Haus in Dresden einen deutschen Namen, hatte kurze Zeit in Deutschland gelebt und war nach dem Tode ihres jungen Mannes in ihre liebe Obwaldner Heimat zurückgekehrt. Als junge Witwe übernahm sie mitten im Dorf einen kleinen Merkur-Laden.
Und dieser Laden hatte es in sich.
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