100 BOYFRIENDS
BRONTEZ PURNELL
100 BOYFRIENDS
Aus dem Amerikanischen von
Harriet Fricke
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel
100 Boyfriends bei MCD x FSG Originals, einem Imprint
von Farrar, Straus and Giroux, New York.
© 2021 by Brontez Purnell
Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde
im Rahmen des Programms «NEUSTART KULTUR» aus Mitteln
der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien
vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.
1. Auflage
© 2021 Albino Verlag, Berlin
Salzgeber Buchverlage GmbH
Prinzessinnenstraße 29, 10969 Berlin
info@albino-verlag.de
Aus dem Amerikanischen von Harriet Fricke
Umschlaggestaltung und Satz: Robert Schulze
Umschlagillustration: Seth Bogart
Printed in Germany
ISBN 978-3-86300-326-5
Mehr über unsere Bücher und Autor*innen:
www.albino-verlag.de
«Fuck all y’all»
I. AKT: ARMY OF LOVERS I. AKT ARMY OF LOVERS
Am nächsten Morgen
Stricher (Erster Teil)
Der geerbte Wintermantel
Boyfriends
Damn a lover Comes home to die
Boyfriend #666 / Der Satanist
Eds Name, mit Bleistift
II. AKT: 100 SEITEN ZUM ABSCHIED
Meine Kündigung
Mäandern (Erster Teil)
Boyfriends (Interpretationen)
Heute, morgen – und von vorne
Stricher (Zweiter Teil)
Boyfriend #19 / Der Weiße mit den Dreadlocks
Vorruhestand
III. AKT: NO NEW BOYFRIENDS
Manifest: No New Boyfriends
Kalter Krieg und Top-Strategie
Wiederholung
Zwei Jungs aus den Bergen
Boyfriend #100 / Der Agent
Mäandern (Zweiter Teil)
Stricher (Dritter Teil)
Mr. Raleighs Kampf mit dem Gym
Boyfriends (Fortsetzung)
Existieren sie auch, wenn keiner hinsieht?
EPILOG: ROCK ’N’ ROLL IST FÜR MICH GESTORBEN – TAGEBUCH EINER EUROPA-TOURNEE
Danksagung
I. AKT
ARMY OF LOVERS
Beim Aufwachen bekam ich einen Schreck. Zuerst wusste ich nicht, wo ich war. Wie es eben so ist, wenn man im fremden Bett wach wird und denkt: «What the fuck?!» Doch beim Blick nach links weiß man wieder: «Ach, ja, der hübsche Kerl.»
Neben einem attraktiven Menschen aufzuwachen, hat etwas Beruhigendes, und ich bin mir sicher, er dachte dasselbe, nur konnte ich nicht wieder einschlafen, weil seine sonnengepeitschte Discokugel Lichtblitze durchs Zimmer jagte.
Sein Körper war bedeckt davon; sogar der Gips an seinem Bein war von Licht gesprenkelt.
Am Nachmittag zuvor war ich in sein Zimmer gekommen. Seine Mitbewohnerin feierte bei ihnen zu Hause eine After-Party. Sie war sternhagelvoll und meinte: «Ich stell euch meinem Mitbewohner vor, bin mir sicher, ihr werdet poppen.»
Wir dröhnten uns komplett zu und redeten über alles Mögliche, von Nu Jazz bis hin zu Kindheitstraumata.
Ich legte mich in sein Bett, und er zog mich an sich, schlang seine Arme um mich; ich war irritiert, weil es lange her war, dass mich jemand so berührt hatte, vor allem ein rattenscharfer Kerl mit Gipsverband.
«Ich lass euch kurz allein», sagte meine Freundin, einen Kokainring um die Nase. Er zog mich fester an sich, und ich nahm meine Brille ab. Als ich so in seinen Armen lag, spürte ich, wie mein Schwanz hart wurde, und tat das, was mir als Erstes durch den Kopf ging.
«Ich hau wohl besser ab», sagte ich.
«Bin die ganze Nacht hier», sagte er.
Ich schaffte es tatsächlich nach Hause, aber – Oh Scheiße. Brille vergessen.
«Komm bitte wieder – sofort», sagte er, als ich anrief und nach der Brille fragte.
Bald lag ich wieder in seinen Armen, diesmal war er auf Schmerztabletten. Er schob meinen Kopf nach unten. Ich bin mir sicher, dass ich ihm nachts, während eines Kokain-Wodka-Wortschwalls erklärt hatte, dass ich nicht gern Schwänze lutsche. Aber offenbar hatte er meine Meinung geändert. Ich hörte seine Stimme. Wie ein seufzender Engel. Vielleicht auch wie ein Typ auf Schmerztabletten, der einen geblasen kriegt? Ein vokal-lastiges (aber ansonsten völlig unverständliches) Stöhnen, unterbrochen nur von «jaa», «mehr» oder «ist das geil». Nach einer halben Stunde oder so haute ich ab, weil ich auf der anderen Seite der Stadt zu einer Lesung wollte.
«Kommst du danach wieder?», fragte er.
«Noch mal?» Langsam fühlte ich mich, als würde mich tatsächlich jemand brauchen.
«Ja», erwiderte er.
Ich fuhr nach Hause, spülte mir den Arsch, fuhr weiter zur Lesung und auf direktem Weg zurück zu ihm, auf die Knie, auf ihn drauf.
«Steck ihn rein», sagte er und wieder vokal-lastiges (aber völlig unverständliches) Stöhnen.
Nachdem er gekommen war, stieg ich von ihm runter und fragte, ob er Lust auf Hähnchen vom Grill hätte. «Ja. Und Whiskey», erwiderte er.
Schmerztabletten und Whiskey – sein Style gefiel mir.
«Du bist jetzt mein Freund – du musst das Essen holen.»
«Bin pleite und mag grad nicht zu Fuß gehen, außerdem ist es kalt und neblig», sagte ich und dachte, ich hätte meine erste Aufgabe als Fake-Freund erfolgreich abgewehrt.
«Nimm die blaue Patagonia-Jacke aus dem Schrank – du kannst sie behalten, wenn du willst. Meine Kreditkarte ist im Portemonnaie. Benutz sie, PIN ist fünf sechs neun acht. Hol dir mein Fahrrad aus dem Keller. Das Bianchi Pista aus Chrom … und beeil dich verdammt nochmal», sagte er lachend.
Ich machte alles so, wie er gesagt hatte, und fuhr in seiner Jacke, auf seinem Fahrrad, mit seinem Geld die Straße runter. Ich war hin und weg von dem Rad, weil ich Vintage-Bike-Junkie bin und Bianchi die Chrome-Pistas gar nicht mehr herstellt – ich glitt durch die neblige Nacht und fühlte mich wie der Silver Surfer, nur eben auf einem Fahrrad.
Zum Hähnchenladen waren es nur zehn Minuten, aber zuerst das Wichtigste: Wie viel Geld hatte der Naivling auf seinem Konto?
Ich hielt beim Geldautomaten, tippte die PIN ein, fünf sechs neun acht, und drückte auf Kontostand: $ 80.690,78. What the fuck?! Nach Abbruch der Transaktion steckte ich die Karte ein zweites Mal in den Schlitz und tippte die Zahlen nochmal ein, weil ich wissen wollte, ob ich richtig gelesen hatte – hatte ich.
Während ich zum Imbiss weiterradelte, dachte ich: Scheiße, was ARBEITET der Typ?
Eine Litanei an Fragen schoss mir durch den Kopf. Warum wohnt er in dem beschissenen Zimmer? Warum wohnt er in der beschissenen Wohnung? Wenn ich zwanzig Dollar von seinem Konto klaue, kriegt er das dann mit und ist angepisst? Hat er sich das Bein beim Skifahren in Tahoe gebrochen oder bei irgendeinem anderen Reiche-Leute-Scheiß? Und die wichtigste: Soll ich versuchen, ihn zu heiraten?
Ich konnte mich nicht erinnern, wann auf meinem Konto oder dem eines Bekannten mehr als, sagen wir, viertausend Dollar gewesen wären – und das hier war nur sein Girokonto. Wie viel mochte er auf dem Sparkonto haben?
Schnell verdrängte ich die Fragen, weil An-Geld-denken unappetitlich ist und die Rechnung zu viele Unbekannte enthielt. Man kann sich das Leben eines anderen nicht vorstellen, wenn man ihn kaum kennt, und mal ehrlich, ich kannte meinen Fake-Freund ja überhaupt nicht.
Ich kam an einem Schaufenster vorbei und nahm mein Spiegelbild wahr. Ich sah aus wie boyfriend material oder wenigstens wie so ein Arsch mit Abschluss an einem Scheiß-WASP-College an der East Coast. Doch eigentlich war ich nur ein Hochstapler, was mich allerdings auch scharf machte, weil Verbrechen sexy sind. Aber das hier war seine arschteure Vintage-Patagonia, sein arschteures Vintage-Bianchi, seine Kreditkarte. Lieber Gott, fühlte er sich jeden Tag so? Wie ein normaler, erfolgreicher Erwachsener?
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