»Was?«
Zwei Köpfe wandten sich der Glasfront zu.
»Das sind nur Arbeiter«, erkannte Taisho mit einem Aufatmen. »Dennoch, wir sollten unser Glück nicht überstrapazieren. Möglicherweise sind Denunzianten darunter.«
»Denunzianten?«, hakte Shilla nach. »Als wir durch die Straßen flohen, haben uns viele Leute gesehen, aber bis auf einen Einzigen hat niemand versucht, uns aufzuhalten. Ich hatte den Eindruck, die Bevölkerung leiste dem Nexus und seinen Schergen passiven Widerstand.«
»Das trifft durchaus zu. Wer sich uns nicht anschließt, steht deshalb nicht zwangsläufig auf der Seite des Nexus. Allerdings gibt es einzelne Personen, die ihre Lage verbessern wollen, indem sie andere ausspionieren. Sind die Informationen bedeutsam, dann können sie sogar auf zusätzliche Lebensjahre hoffen. Für viele ist das ein großer Anreiz. Jeder Soldat erhält bei seiner Verpflichtung zusätzliche drei Jahre, und wer sich bewährt, wird mit weiteren honoriert. Versteht ihr? Das ist im ganzen Nexoversum so und viele erliegen der Verlockung. Ihr seid nicht von hier, nicht wahr? Sonst wüsstet ihr das.« Taishos Augen nahmen einen sehnsüchtigen Ausdruck an. »Bei euch ist es bestimmt viel besser. Ihr seid frei … Ihr könnt leben . Ich wünschte, ich könnte eure Galaxie kennenlernen …«
»Langsam«, sagte Jason. »Wie war das? Zusätzliche Lebensjahre? Kennt der Nexus etwa das Geheimnis des ewigen Lebens?« Joran, Botero, das Juvenil und der Hairaumer, schoss es ihm durch den Kopf. Half Joran etwa den Invasoren und wurde im Gegenzug mit Informationen versorgt, wie das Elixier hergestellt werden konnte, das relative Unsterblichkeit verlieh?
»Nein, nein.« Taisho schüttelte den Kopf. Seine Stimme klang hart. »Sobald eine Person ihr fünfunddreißigstes Lebensjahr beendet hat, muss sie sich in den Roten Hallen zur Enthirnung einfinden. Für besondere Verdienste kann man jedoch zusätzliche Lebenszeit geschenkt bekommen.«
»Bei allen …«, entfuhr es Jason, der blass geworden war. »Ich glaube, jetzt begreife ich … Das meinte Crii-Logan, als er davon sprach, dass sie auf der Sentok dienten, bis ihre Zeit gekommen sei. Und die Aufgabe der Sentok ist, die Gehirne der Toten einzusammeln …«
»Nicht die Gehirne von Toten«, hörte er Shilla entsetzt aufschreien. »Diese … Barbaren …«
»Was?«
Es dauerte einen Augenblick, bis die Vizianerin ihre Erschütterung überwunden hatte. »Die Gehirne werden lebenden Wesen operativ entfernt und in einer Nährlösung bei Bewusstsein gehalten. Sie erleiden dabei furchtbare Qualen. An Bord der Sentok und auch hier auf Reputus müssen sich Hunderte, wenn nicht Tausende lebender Gehirne in Agonie befinden.«
»Das … das muss ein Irrtum sein. Bist du dir sicher? Kannst du sie etwa hören?«
»Nein, sie sind gut abgeschirmt – zum Glück. Ich glaube, ich könnte es nicht ertragen, ihre Schreie empfangen zu müssen …«
Taisho bestätigte die grauenhafte Enthüllung. »Das ist das Schicksal aller Bewohner des Nexoversums. Es ist kein Schauermärchen, ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Shilla sah die abscheulichen Bilder in meinen Gedanken. Ich werde den Anblick nie vergessen können …«
»Weshalb lassen sich die Völker abschlachten und rebellieren nicht gemeinsam gegen den Nexus?«, fragte Jason verständnislos. »Ich begreife das nicht … Wie kann so etwas generationenlang geduldet werden? Der Nexus war bestimmt nicht immer so mächtig und den anderen Völkern überlegen. Was sind das für Wesen, die fähig sind, solchen Massenmord anzuordnen und auszuführen?«
Noch immer hatte er sich nicht völlig von dem Schock erholt, den ihm Shillas und Taishos Erläuterungen versetzt hatten. Lebende Gehirne … Es war kaum zu fassen, dass es Wesen von solcher Grausamkeit gab, die, aus welchen Gründen auch immer, unterlegene Völker wie Schlachtvieh hielten und auf brutalste Weise ermordeten. Er begriff auch nicht, weshalb sich die Leidenden nicht zusammenschlossen und gemeinsam gegen die Tyrannei rebellierten. War die Angst vor der Vergeltung des Nexus so groß? Diese geheimnisvolle Macht vermochte doch unmöglich ihre Position zu behaupten, wenn sich das ganze Nexoversum erhob. So viele treue Anhänger und Kriegsschiffe konnte der Nexus unmöglich aufbieten, um im gesamten Riesenreich die Rebellion niederzuschlagen.
»Wäre es so simpel, wie du glaubst, dann wäre der Nexus bestimmt schon von unseren Ahnen ausgeschaltet worden«, sagte Taisho. »Wir haben jedoch keine Zeit für Diskussionen. Habt ihr die Arbeiter vergessen?«
»Was hast du anzubieten?« Jason schaltete sofort um und fiel ihm brüsk ins Wort, was er im gleichen Moment bedauerte. Die Bewohner des Nexoversums waren arme Teufel, niemand hatte ein solches Schicksal verdient. Wie viele Jahre blieben dem Jungen wohl? Vielleicht zehn oder weniger? Selbst wer mit dem Wissen um seinen Todestag aufwuchs, haderte zweifellos mit dem Schicksal und sann auf eine Möglichkeit, diesem zu entgehen, oder verfiel in tiefste Depressionen. Kein Wunder, dass Sessha so melancholisch gewirkt hatte.
»Das Beiboot der Sentok ist fast fertig beladen und wird in einer knappen Stunde starten. Es werden nur noch Lebensmittelcontainer an Bord gebracht. Alles ist vorbereitet.«
Taisho führte Jason und Shilla durch die Regalreihen. Vor sechs großen Metallkästen blieb er stehen. Die Hälfte von ihnen trug eine blaue Marke.
»In dreien befinden sich die besagten Lebensmittel. Die anderen sind leer. Ihr braucht lediglich hineinzusteigen. Ich werde die Marken auf eure Container kleben. Ein Kamerad wird sie in einer halben Stunde abholen und an Bord bringen. Crii-Logan fliegt zur Sentok zurück und ihr seid in Sicherheit.«
»Und mein Schiff?«, begehrte Jason auf. »Ich kann es nicht einfach hierlassen. Wie sollen wir ohne die Celestine jemals wieder nach Hause gelangen …«
»Hier geht es um mehr als nur um das Schiff«, erwiderte Taisho. »Ihr könnt nicht ewig vor den Soldaten davonlaufen. Sie werden ihre Bemühungen, euch zu finden, intensivieren. Was sie mit euch anstellen werden, wenn ihr in ihre Gewalt geratet … ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass keiner zurückkehrte, den die Sicherheit in Gewahrsam nahm. Wenn ihr am Leben bleiben wollt, habt ihr keine andere Wahl.«
»Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob wir dir vertrauen dürfen.«
»Auch in diesem Fall bleibt dir keine andere Wahl. Ihr müsst euch schnell entscheiden; die Arbeiter sind gleich hier.«
»Was passiert mit meinem Schiff, wenn wir es zurücklassen?«
»Keine Ahnung. Eine solche Situation hat es noch nie gegeben. Möglicherweise wird man das Boot abtransportieren, damit es nicht zu einem Mahnmal wird, dass etwas oder jemand es wagte, dem allmächtigen Nexus zu trotzen. Vielleicht gelingt es den Spezialisten, den Schutzschirm zu knacken und eure Geheimnisse zu ergründen. Vielleicht verlieren sie aber auch die Geduld und sprengen es in die Luft. Wie auch immer, im Moment besteht nicht die geringste Chance, dass ihr euer Schiff zurückbekommt. Selbst wenn es gelingen würde, die Soldaten abzulenken, sodass ihr in die Nähe gelangt, in der Sekunde, in dem der Schutzschirm auch nur eine winzige Strukturlücke zeigt, wird man die Gelegenheit nutzen, den Raumer zu zerstören. Und euch wird man töten, bevor ihr entkommen könnt. Das ist das Einzige, was mit Sicherheit feststeht.«
Jason war klar, dass Taisho recht hatte. Auch mit all seinen kleinen Bomben und technischen Spielereien käme es einem Selbstmord gleich, sich mit dieser Übermacht anzulegen.
»Es bleibt uns nichts anderes übrig, als Taishos Plan zu befolgen«, sagte Shilla. »Die Sentok fliegt nach Imasen. Eventuell finden wir dort, was wir brauchen, um nach Hause zurückzukehren. Du weißt, mit der Celestine , so wie sie ist, schaffen wir das nicht. Es ist vernünftiger, sie aufzugeben und ein anderes Schiff zu suchen.«
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