Bildung ist kein handelbares Produkt
Wenn interaktive Lernprogramme und virtuelle Bildungsangebote häufig als „Bildungsprodukte“ bezeichnet werden (wie z. B. von Bertelsmann Stiftung/Heinz Nixdorf Stiftung 2000, 14, 18, 27, 54 usw.), so wird Lehren und Lernen einfach identisch gesetzt und das Subjekt zum Objekt der lehrenden Modellierung gemacht. Genauso wenig macht es Sinn, in quantifizierender Redeweise wie bei industriellen Prozessen von „Lerneffektivität“ und „Nutzen-/Kosteneffizienz“ zu sprechen (ebd., 55) und diese am Behalten, bewertet in Noten oder Punkten, messen zu wollen. Wissen wiedergeben zu können ist kein brauchbarer Indikator für erworbene Kompetenz. Zwar lassen sich die Kosten von Bildungsprozessen berechnen, aber nicht ihre Wirksamkeit und ihr Nutzen, weil diese bzw. dieser sich erst im weiteren Lernen bzw. in der späteren Arbeit der Ausgebildeten, in ihrer Teilhabe an der gesellschaftlichen Lebensgestaltung und in ihrem lebenslangen Lernen offenbaren. „Wir müssen umdenken und begreifen, dass die Kosten von Bildung in Wahrheit Investitionen in unser aller Zukunft sind, an der wir ein existenzielles gesellschaftliches Interesse haben“ (Kluge 2003, 240; Zimmer/Psaralidis 2000).
Bildungsinhalte benötigen einen Kontext
In Hochschulen ist die Integration von Forschung und Lehre für die Aktualität der Studieninhalte und damit zur Erhaltung ihrer gesellschaftlichen Relevanz wichtig. Dies hat zur Konsequenz, dass die Studiengegenstände, die Ziele, Inhalte und Herangehensweisen nie abschließend bestimmt und festgelegt werden können. Daher kann keine Lehrveranstaltung der anderen gleichen, was die Voraussetzung für ihre Vereinheitlichung und mediale Objektivierung wäre. Mit den akkreditierten Studienmodulen in Bachelor- und Masterstudiengängen geschieht genau das Gegenteil. In der Bestandszeit von Studieninhalten gibt es bedeutsame Unterschiede. So kann es einerseits geschehen, dass eine junge Theorie schon bald durch eine noch jüngere Theorie ersetzt wird. Andererseits gibt es theoretische und wissenschaftliche Grundlagen von langer Dauer, wie z. B. die physikalischen Gesetze der technischen Mechanik. Diese könnten dazu verleiten anzunehmen, dass zumindest diese Grundlagen gut für virtuelle Studienmodule geeignet seien. Dabei wird jedoch übersehen, dass diese Grundlagen ihren Stellenwert im Studium erst aus ihrer Bedeutsamkeit für den im Diskurs immer wieder neu zu bestimmenden Studieninhalt erhalten. Das bedeutet, dass die jeweiligen Grundlagen nur bezogen auf den jeweiligen Studieninhalt vereinheitlicht werden können, also jeweils auch mit diesem aktualisiert werden müssen. Daher bietet auch die Standardisierung von kleinsten, noch sinnvollen Lerninhalten nicht immer eine angemessene Lösung. Dagegen sind das selbst organisierte Lernen, also das eigenständige Mitbestimmen und Mitbearbeiten eines Lerngegenstandes, und die Präsentation und gemeinsame Diskussion des Lernergebnisses zu fördern.
Modularisierung darf nicht zu stupidem Auswendiglernen führen
Auch die aktuelle, vor allem unter ökonomischen Prämissen geführte Diskussion um die Modularisierung des Studiums scheint in einer durchgehenden Vereinheitlichung aller Lerninhalte den besten Weg zu einem kürzeren und effektiveren Lernen zu sehen. Der Erwerb der Inhalte soll jeweils direkt am Ende eines Moduls geprüft und mit Punkten belohnt werden. Nicht bedacht wird dabei, dass eine solche Form von Modulen leicht zum Auswendiglernen von Antworten auf in immer gleicher Weise gestellte Fragen führt und so gerade die geforderte Kompetenzentwicklung für komplexe und sich verändernde berufliche Anforderungen behindert. Lebendigkeit und Aktualität des Lernens werden so gerade verhindert. Denn Kompetenzen und Expertenwissen entstehen erst in der reflektierenden und kompilierenden Auseinandersetzung mit allen Lerninhalten in Lern- oder Praxisgemeinschaften. Wenn Module dagegen als offene Lernabschnitte mit problembezogenen selbstständig zu erbringenden Leistungen verstanden werden, dann machen sie das Lernen nicht zu einem Prozess stupiden Nachvollziehens und Auswendiglernens, sondern geben ihm Lebendigkeit und können in der Tat zu einem engagierten und praxisorientierten Lernen beitragen. Gerade Online-Lernmodule verleiten zu einer Vereinheitlichung der Inhalte, statt die neuen Möglichkeiten von Computer und Internet für ein lebendiges Lehren und Lernen zu nutzen, wie in den folgenden Kapiteln gezeigt wird.
Verbesserung der traditionellen Fernlehre durch Virtualisierung
Auch an der Fernuniversität Hagen, die quasi als Hochschule für Berufstätige (ca. 80 % der Studierenden) eine Sonderstellung einnimmt, sind die gleichen konstituierenden Faktoren für Bildungsprozesse wirksam: Zum einen sind Berufstätige, darunter ein erheblicher Teil an Gasthörern und Zweithörern von anderen Universitäten, in berufliche Kommunikationen eingebunden, die auch für ihr Fernstudium bedeutsam sind. Zum anderen sollen „die Potenziale des Internets primär für die Intensivierung der Kommunikationsbeziehungen zwischen den Lernenden und der Hochschule genutzt werden“ (Uhl 2003, 65). Diese Intensivierung dient dazu, das bestehende Defizit in der unmittelbaren Kommunikation mit den Lehrenden, das bislang hilfsweise durch Mentoren in reduzierten Präsenzveranstaltungen in dezentralen Studienzentren etwas ausgeglichen wird, nunmehr zumindest über asynchrone Online-Kommunikation stärker in Gang zu setzen. Auch hier zeigt sich, welche Bedeutung dem Dialog bzw. dem Diskurs zwischen Lehrenden und Lernenden für den Studienerfolg zukommt.
Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich beispielsweise in der beruflichen Weiterbildung. Hier werden seit einigen Jahren Ansätze des Blended Learning , also der Kombination von Präsenzveranstaltung und virtuellem Angebot, favorisiert, weil die reine mediengestützte Weiterbildung letztlich doch defizitär blieb. Mit Blended Learning findet eine Funktionsverschiebung der interaktiven Medien vom Ersatz der Lehrenden zu einem vermittelnden Medium der Lehrenden statt, das damit Teil des pädagogischen Diskurses zwischen Lehrenden und Lernenden wird (Kuhlmann/Sauter 2008). Diese Funktionsverschiebung macht den unmittelbaren subjektiven Diskurs über die Lerngegenstände wieder zur führenden Form in Bildungsprozessen.
Die Zukunft gehört dem Lernen im virtuellen Bildungsraum
Aus der dargestellten Diskussion der konstituierenden Faktoren von Bildungsprozessen könnte nun der Schluss gezogen werden, dass virtuelle Bildungsangebote prinzipiell keinen Erfolg haben können und es daher angebracht ist, zu Präsenzveranstaltungen zurückzukehren. Das wäre jedoch ein unangemessener Kurzschluss, der die zweifelsohne vorhandenen Vorteile der interaktiven Medien und des Internets für Bildungsprozesse missachtet. Von entscheidender Bedeutung für eine erfolgreiche Implementierung ist, wie die Entwicklung der Nutzung von E-Learning zeigt, dass nicht allein die medialen Produktinnovationen in den Blick genommen werden, sondern auch die Prozessinnovationen (Arnold, P. 2009). Es ist also in der Perspektive der Förderung einer ganzheitlichen Kompetenzentwicklung der Lernenden die Frage zu stellen, welche Stärken der Neuen Medien wie in Bildungsprozessen genutzt werden können und wie die Vorteile des Lehrens und Lernens in Präsenzveranstaltungen in und mit Online-Bildungsangeboten erhalten und weiter ausgebaut werden können.
2.4 Konstituierende Faktoren virtuellen Lehrens und Lernens
Ein pädagogisches Verhältnis kann nur zwischen Menschen bestehen
Nach der Methode der logischen Rekonstruktion (PAQ 1980, 19–62) der Gründe der bislang oft nicht erfüllten Erwartungen von Online-Bildungsangeboten (siehe z. B. Uhl 2003; Haug/Wedekind 2009) und der konstituierenden Faktoren erfolgreicher Bildungsprozesse lassen sich die grundlegenden Voraussetzungen wie die konstituierenden Faktoren für ein erfolgreiches Lehren und Lernen mit digitalen Medien herleiten. Die früher und oft noch immer geltende – bewusst hergestellte oder unbewusst befolgte – generelle Funktionsbestimmung der digitalen Medien im virtuellen Lehren und Lernen als Ersatz personaler Lehre ist danach vollständig aufzugeben. Ein pädagogisches Verhältnis zwischen Lehren und Lernen, das erst durch den Diskurs über die gesellschaftlichen Bedeutungen von Lehr- und Lerngegenständen und die subjektive Zuschreibung von Bedeutungen konstituiert wird, kann prinzipiell nur zwischen Personen bestehen. Ein pädagogisches Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden oder zwischen gemeinsam Lernenden ist, bezogen auf das gemeinsame Dritte, nämlich die Lehr- und Lerngegenstände, immer kommunikativ vermittelt durch die Benutzung vielfältiger Symbolsysteme (z. B. Sprache, Schrift, Formel, Grafik, Zeichnung, Bild, Film), deren Träger sehr unterschiedliche Medien (z. B. Buch, Zeitschrift, Arbeitsblätter, Lernsoftware) sein können.
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