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Begrenzte Chancen zum Diskurs
Systematisch ignoriert wird dabei, dass die Lernenden zu einem erfolgreichen Lernen die unmittelbar angeregte themenbezogene Kommunikation bzw. kritisch reflektierende Diskussion mit den Lehrenden und auch mit den anderen Lernenden brauchen und suchen. Es geht ihnen um die Lebendigkeit unmittelbarer Kommunikation über die Ziele, Inhalte, Abläufe und Kontexte ihres Lernens, das Kommunizieren unterschiedlicher Wahrnehmungen, Einschätzungen, Erfahrungen, Vorstellungen, Bedeutungszuschreibungen und Empfehlungen in den konkreten Situationen, in denen sich die Lehrenden und Lernenden hier und heute in der Gesellschaft bewegen. Die Online-Studienangebote boten früher selten ein Forum für synchrone Diskurse, durch die kritisch-reflektierende Bildung und Kompetenzentwicklung wesentlich angeregt und ermöglicht werden, wie dies in Präsenzveranstaltungen der Fall ist.
Diese unmittelbare Lebendigkeit der Diskurse in Präsenzveranstaltungen kann prinzipiell durch kein multimediales und interaktives Bildungsangebot ersetzt werden – auch nicht durch Intelligente Tutorielle Systeme (ITS), wie bisher entwickelte und größtenteils misslungene Versuche gezeigt haben. Auch die Ausweitung und Intensivierung der Kommunikation in Online-Bildungsgängen können die gefragte Lebendigkeit des Lehrens und Lernens, z. B. durch eine mentorielle Betreuung mit erheblich höherem Kommunikationsaufwand, nur sehr begrenzt wiederherstellen. Asynchronität und Aufwand der (obwohl meist recht formlosen) Schriftlichkeit gegenüber der Mündlichkeit der Kommunikation sind hier die entscheidenden Hemmnisse.
Lernen mit Web 2.0, Chancen und Gefahren
Mit dem Surfen im Internet und den Instrumenten des Web 2.0 können heute eine reichhaltige, aber auch unübersichtliche Vielfalt weiterer Informationen und Sichtweisen zu den Lernaufgaben gefunden werden, was die Chancen für die Erarbeitung einer eigenen Bearbeitung und Lösung deutlich erhöht. Allerdings erfordert dies genaue Vorstellungen über das Ziel der Aufgabenbearbeitung, Kompetenzen zur Auswahl, Analyse und Bewertung der gefundenen Informationen, zur kritischen Reflexion der Aufgabenbearbeitung und des erreichten Ergebnisses sowie der Kontexte, Voraussetzungen und Folgen. Die Nutzung dieser Chancen kann allerdings gründlich misslingen (Carr 2010; Spitzer 2010, 2012): Die außerordentlich große Vielfalt der Informationen sowie der verfügbaren Instrumente und Methoden im Internet und deren gleichzeitige parallele Nutzung kann durch das Hüpfen von Inhalt zu Inhalt zu Oberflächlichkeit, Mangel an Konzentration und Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem und damit zum Verlust an analytischer Tiefe des Denkens und zum Verfehlen der ursprünglichen Fragestellung führen. Das Denken wird zu einem flüchtigen und oberflächlichen Prozess, und das Kurz- und Langzeitgedächtnis lernt das schnelle Vergessen. Dies wäre das genaue Gegenteil erfolgreichen Lernens. Auch wenn der Computer heute aus den Informationen, die in den Hypermedia-Strukturen der heutigen Webseiten stehen, das Spektrum der für die jeweilige Fragestellung möglicherweise bedeutsamen Informationen schon relativ gut herausfiltern kann, ist die Informationsflut immer noch so groß, dass die zutreffenden Informationen nur mit großem Aufwand gefunden und erfasst werden können. Das noch in Entwicklung befindliche semantische Web könnte hier durch eine auf Bedeutungsstrukturen basierende Informationspräsentation Abhilfe schaffen und damit auch zur Entdeckung neuer Zusammenhänge führen, die zuvor nicht erkennbar waren (Pellegrini/Blumauer 2006).
Was konstituiert erfolgreiches Lernen?
Was ist also der konstitutive Kern erfolgreichen Lernens? In der Lebendigkeit der Kommunikation der Lernenden zeigt sich, dass das Lernen als das Eindringen in einen gesellschaftlich relevanten Gegenstandsbereich offensichtlich erst durch den Diskurs mit den anderen, also vor allem mit den Lehrenden und den anderen Lernenden oder auch mit anderen Fachexperten oder Partnern, konstituiert wird. Der Lerngegenstand, die Ziele, Inhalte und Methoden sind das gemeinsame Dritte, auf das sich das Lehren begründet darstellend und das Lernen reflektiert fragend jeweils beziehen. Aufgrund der Kompetenzdifferenzen zwischen den Beteiligten ist die Konstituierung des Lerngegenstandes ein Prozess subjektiv begründeter und reflektierter Auseinandersetzung. In dieser Auseinandersetzung wird der Lerngegenstand zu einem immer besser differenzierten und in seinen Kontexten bestimmten Gegenstand.
Dies geschieht in Praxisgemeinschaften oder in sich auf Praxis beziehenden Gemeinschaften (Arnold 2003b; Lave/Wenger 1991). Darin zeigt beispielsweise der Lehrende oder ein Lernender, wie er an einen Gegenstand reflektiert und begründet herangeht oder herangehen würde, gibt eine Einführung in die theoretischen und methodischen Grundlagen und praktischen Herangehensweisen, zeigt die Bedeutung in unterschiedlichen Praxisfeldern auf – und all dies im Diskurs in der Lerngemeinschaft. Die Lernenden erfahren die Grundlagen und Aufgaben einer Fachdisziplin im Kontext der Wissenschaften und der gesellschaftlichen Praxis durch reflektierte Erfahrungen und kritische Auseinandersetzungen mit dem Denken und Handeln eines Lehrenden als Experten seiner Disziplin und ihrem eigenen Handeln im Wissenschafts- und Praxisbezug. Sie erwerben dadurch zugleich reflexive und soziale Kompetenzen zur eigenen erfolgreichen Teilhabe in den jeweiligen Wissenschafts- und Praxisfeldern. Durch die unmittelbaren Diskurse in Lerngemeinschaften erfahren sie zugleich eine wichtige, oft auch prägende Förderung der Entwicklung ihrer Persönlichkeit.
Bildung ist subjektives Ergebnis des Lernens
Durch reflexiv lernendes Handeln in Bildungsprozessen gleichen die Lernenden zunehmend ihre Kompetenzdifferenzen zu den Lehrenden und Fachexperten aus. Dies geschieht nicht in der Weise, dass sie zu einem Klon des Lehrenden werden, sondern dass sie ein eigenständiges Kompetenzprofil durch ihre begründeten Lernhandlungen herausbilden. Im Diskurs mit den Lehrenden, Lernenden, Experten und Nichtexperten werden die ausgetauschten Informationen erst zu Wissen im Subjekt umgearbeitet, indem die Lernenden den Informationen individuelle Bedeutungen zuschreiben. Wissen ist immer eine subjektive Leistung und nur im Subjekt existent als ein wesentliches Fundament seiner Kompetenzen. Daher kann das Wissen, das sich beispielsweise ein Lehrender im Laufe seiner Ausbildung und Tätigkeit erworben hat, niemals direkt, in Inhalt und Form gleich, auf einen Lernenden übertragen werden. Vielmehr muss er sein Wissen in Informationen und Handlungen transformieren, die für die Lernenden Anlass sein können, sich aus vorhandenen oder gewonnenen eigenen Begründungen heraus damit aktiv zu befassen, wenn es für sie daraus etwas zu lernen gibt. Erst dadurch wird ein Lerngegenstand als ein gemeinsamer konstituiert, und in der begründeten Auseinandersetzung damit erwirbt der Lernende – auch in mehr oder weniger intensiver Kommunikation und Kooperation mit anderen Lernenden – seine Lernfähigkeit und seine Kompetenzen. Lernen muss immer noch jeder selbst, und dies muss durch die medialen und personellen Arrangements ermöglicht und gefördert werden (Lerche 2009, 173–176).
Lernerfolg ist keine Frage des Behaltens der dargebotenen Informationen, sondern entscheidend ist, welche Kompetenzen durch selbst erarbeitetes Wissen herausgebildet werden konnten, und dies zeigt sich erst im weiteren Verlauf des Lernens oder in der späteren Arbeit, nicht in punktuellen Tests. Denn Wissen und Kompetenzen von Experten und Novizen unterscheiden sich nicht nur quantitativ, sondern aufgrund der mit dem Lernen zugleich stattfindenden Prozesse der „Wissenskompilierung“ auch qualitativ (Kerres 2001a, 163). Bildung als erworbenes Kompetenzprofil einer Person ist immer ein komplexes kompiliertes Ergebnis der Leistungen des Lehrens und der Leistungen des Lernens. Sie kann daher weder einfach gemessen noch verkauft oder gekauft werden wie ein gewöhnliches Produkt. Bildung als Qualität einer Person ist auf keinem Markt handelbar.
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