Yusuf hat vier Geschwister und ist schon sieben Jahre alt. Seine beiden Brüder arbeiten in Schweinfurt und seine Eltern sind Rentner. Ben ist gerne bei Familie Celik. Sie sind entspannt, nehmen sich Zeit und interessieren sich dafür, was er denkt und wie es ihm geht. Sie wollen ihren Sohn Yusuf in der Schule unterstützen, haben aber selber als Jugendliche in der Heimat keinen Abschluss erworben. Yusufs Mutter war nur zwei Jahre in der Schule und hat außerdem keine Vorstellung davon, wie das deutsche Schulsystem funktioniert. Letztes Jahr haben sie sogar die Eingangsuntersuchung verpasst, deshalb kommt Yusuf jetzt erst mit Ben in die Schule. Ganz anders als bei Ben zuhause reden Yusufs Eltern positiv von der Schule, fragen nach Linus und ob er gute Noten hat. Ben und Yusuf freuen sich auf die Schule, sie stellen sich vor, dass sie später den älteren Menschen in ihrer Wohngegend vorlesen könnten und wollen dann auch einen Einkaufsdienst organisieren, weil sie ja auch Preise vergleichen können und sich später ein Moped kaufen wollen.
Ben hat viele Ideen und freut sich darauf, in der Schule bald mehr Freunde zu haben und Lesen und Schreiben zu lernen.
Sechs Kilometer nordöstlich von Ben streift Jenny mit ihrer Halbschwester Aischa durch die Straßen des Stadtteils Lindleinsmühle. Die beiden verstehen sich trotz der vier Jahre Altersunterschied gut. Sie schlafen zuhause in einer Hängematte und kennen beide ihren leiblichen Vater nicht. Dafür ist praktisch jeden Monat ein anderer Mann bei Mama, der dann oft auch für eine Weile bei den drei Frauen wohnt. Im Bad riecht es eigentlich immer nach fremdem Männerschweiß, und beim Essen ist es nie wirklich entspannt. Neulich hat der aktuelle Lover Jenny eine Ohrfeige verpasst, weil sie »Iih!« geschrien hat, als er den Deckel der Pfanne hochhob. Sie mag nun mal definitiv keinen Spinat, und er ist nicht ihr Vater. Jenny und ihre Halbschwester wachsen in einer sozio-emotionalen Gefährdungslage auf. Sie fühlen sich unterwegs in der Stadt deutlich wohler als dort, wo sie wohnen. Mutter Alina besucht zurzeit ein Berufsgrundschuljahr für Schulabbrecher und sie hasst es. Weil sie mit Haushalt, Kindern und Schule nicht zurechtkam, leben die beiden Brüder in einer Pflegefamilie. Sie sind vier und sieben Jahre alt. Toni, der jüngere, ist Jennys richtiger Bruder, Ahmet, der ältere, ihr Halbbruder. Sie mag irgendwie beide nicht, weil sie so wild sind und nicht für fünf Cent auf Mama hören. Deshalb hält sie es für gut, dass sie nicht bei ihnen wohnen, sondern irgendwo bei einer Familie in Karlstadt.
Es gibt allerdings einen Jungen, den Jenny gerne mag: Frederik ist Aischas Klassenkamerad und wohnt mit seiner Tante und deren Freund in der Wohnung schräg gegenüber. Frederiks Mutter ist kurz vor Weihnachten in die JVA Würzburg eingefahren. Seitdem ist Frederiks Kontakt zu ihr praktisch abgebrochen. In Bayern dürfen die Kinder von Strafgefangenen nicht einmal jede Woche mit den Eltern telefonieren und die Besuchszeiten sind stark beschränkt. Es heißt, die Kontaktbeschränkungen seien ein Teil des Abschreckungspotenzials der Haftstrafe. Frederik leidet sehr darunter. In die Wohnung neben Frederik ist eine Familie aus Syrien eingezogen: die Eltern und vier Kinder im Alter von drei, sechs, neun und elf Jahren.
Rassim ist in Jennys Alter und wird wohl mit ihr eingeschult werden. Sie findet ihn komisch, weil er immer wegguckt, an seinem Pullover oder Sweatshirt lutscht und sich dauernd umschaut. Frederik hat erzählt, dass Rassim letztes Jahr noch in Syrien lebte und eines Morgens mit seinem siebenjährigen Bruder zum Holzsammeln unterwegs war, als dieser direkt neben ihm von einem Scharfschützen erschossen wurde. Aus heiterem Himmel fiel er einfach um.
Jenny fühlt sich unsicher und weiß nicht genau, auf wen sie sich im Leben eigentlich verlassen kann. Zuhause herrscht immer eine gereizte Stimmung, ihre Mutter findet es wichtiger, dem Lover zu gefallen, als für ihre Töchter da zu sein, Frederik weint viel und Rassim hat ’ne Macke, das merkt jeder. Die Welt und das Leben begegnen Jenny eher beängstigend und verschlossen, hoffentlich wird die Schule nicht auch eine Katastrophe.
Unser letzter Besuch führt uns 14 Kilometer weiter in den Süden Würzburgs nach Rottenbauer. Dort wohnt Leon mit seiner Schwester und seinen Eltern im Neubaugebiet.
Leon wurde mit einem seltenen Herzfehler geboren und leidet selbst nach zwei Operationen im Säuglingsalter auch heute noch an einer Herzschwäche. Er wächst in einer sozio-physio-emotionalen Gefährdungslage auf. Seine Eltern kümmern sich rührend um ihn und tun alles, um ihn – wie sie sagen – zu beschützen. Während seine jüngere Schwester mit dem Dreirad die Garagenauffahrt runterdüst, ermahnt ihn seine Mutter schon, wenn er beim Fahrradfahren nicht durchgängig die Hand an der Vorderbremse hat. Leon wäre gerne öfter unterwegs, aber durch die Angst der Eltern ist sein Lebensradius sehr klein geworden. Jedes Mal, wenn er sich mit Interesse und Engagement einem neuen Rätsel wie z. B. der Güllegrube im Aussiedlerhof, einem Geheimnis wie z. B. dem verlassenen Haus am Ortseingang oder einer Verrücktheit wie dem gemeinsamen Regentanz mit allen Kindern aus der Straße zuwenden will, wird er von seiner Mutter zurückgehalten. Er fühlt sich schwach, kommt sich minderwertig vor, schaut oft nur noch zu, wenn die Kinder aus der Nachbarschaft zusammen spielen, und hat schon lange keinen Mut mehr, sich für seine Interessen einzusetzen. Die erlebten Einschränkungen beeinträchtigen ihn bei der Entwicklung einer gesunden Weltbeziehung. Von Jahr zu Jahr ist ihm sein gesundheitlicher Makel bewusster geworden und sind mehr und mehr Minderwertigkeitskomplexe entstanden. Er gerät zunehmend in die Rolle sozialer und emotionaler Deprivation. Aus dem kleinen Neubaugebiet werden insgesamt sieben Kinder mit ihm eingeschult. Sie kennen sich seit drei Jahren, weil sie gemeinsam in der Bärengruppe des Kindergartens waren. Leon gehört dazu, war immer dabei und wird auch immer gefragt. Er könnte glücklich sein. Aber merkwürdigerweise empfindet er kein Glück. Er ist skeptisch und zurückhaltend, wenn er daran denkt, was die Schule für ihn bringen wird.
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