Colleen bedachte mich mit einem Warum-bin-ich-bloß-Pflegemutter-geworden -Blick, während Tony den Kopf schüttelte. »Sie muss lernen, dass es Grenzen gibt«, wiederholte er. »Auch wenn sie nur eine Nacht bleibt.«
Ich schob an ihnen vorbei in mein Zimmer. »Du hast was von mir und ich hab was von dir. Und du kriegst nichts davon zurück, bis ich nicht wiederbekomme, was mir gehört.«
Dann knallte ich die Tür hinter mir zu. Der Türrahmen vibrierte und ich ließ mich aufs Bett fallen. Ich suchte mein Erdmännchen und drückte es ganz fest.
Ein paar Minuten später klapperte jemand an meiner Tür.
»Ich bin’s, Colleen. Können wir reden?«
»Nein.«
»Wir haben Regeln, Naomi.«
»Na und?«
»Daran müssen sich alle halten«, beharrte Colleen. »Wir können Sharyna und Pablo nicht erlauben, Horrorfilme zu gucken. Die sind nicht … so groß wie du. Sie haben andere Erfahrungen gemacht als du. Kannst du das nicht verstehen? Wir wollen nicht, dass sie Albträume bekommen.«
Das verstand ich. Aber er hatte mein Eigentum einkassiert.
»Sag ihm, dass ich meine DVD wiederhaben will!«, schrie ich.
»Du bekommst sie zurück, wenn wir beide das Gefühl haben, dass du was draus gelernt hast«, sagte Colleen.
Die geben kein Stück nach. Die Holmans hätten mir schon längst was zu essen gemacht, mir einen süßen Kaffee aufgesetzt und Kohle für eine brandneue DVD gegeben. Das Ganze mit Zahnpastawerbungslächeln.
» Und er bekommt seinen Kram zurück, wenn er was draus gelernt hat «, fauchte ich.
»Wir unterhalten uns morgen«, sagte Colleen.
»Mit dem rede ich nicht«, erwiderte ich.
»Ich will mich wirklich nicht mit dir streiten, Naomi«, sagte Tony und kam hinter Colleen die Treppe rauf. »Aber Regeln sind Regeln.«
»Gute Nacht«, sagte Colleen.
»Gute Nacht«, wiederholte Tony.
»Gute Nacht, Nomi!«, rief Pablo aus dem Flur.
»Ab ins Bett!«
So süß.
Ich saß mit angewinkelten Knien auf dem Bett, schaukelte mit geschlossenen Augen vor und zurück. Das musste ich eine halbe Stunde lang gemacht haben, dann wurde es mir langweilig.
»Tony, du Arschgesicht«, flüsterte ich. »Du blödes verficktes Super-duper-Arschgesicht.«
Ich schloss die Augen.
Als ich mich um meinen Dad kümmern musste, war ich die Chefin gewesen. Ich konnte ins Bett gehen, wann ich wollte. Gucken, was mir gefiel. Machen, was ich wollte. Jetzt sagen mir Sozialarbeiter und irgendwelche Fremden, was ich machen soll.
Ich wälzte mich erst aus dem Bett, als Pablo, Sharyna und Tony aus dem Haus waren. Wartete, bis ich Tonys Truck abfahren hörte, dann zog ich die Vorhänge auf. Die Morgensonne zwang mich, die Augen zusammenzukneifen. Ich schaute hinaus in den Garten und hörte so ein nerviges Vogelgezwitscher in der Nähe. Hinten im Garten am Schuppen war ein Minifußballtor. Ein orangefarbener Ball lag in der Ecke vom Netz. Eine sauber gemähte Rasenfläche war auf drei Seiten von Blumen und Pflanzen umgeben.
Stufen führten von der Hintertür an einen kleinen Teich, der die Form einer Acht hatte. Sehr schick. Louise meinte ja, Arschgesicht ist Landschaftsgärtner oder so. Wenigstens ist er in seinem Job auf der Höhe. Ich kann mich nicht mal mehr erinnern, was hinter meiner alten Wohnung war – hab nie einen Fuß da rausgesetzt.
Ich schaute mir die DVDs aus Tonys Schlafzimmer an, die auf dem Boden verteilt lagen. Ich hob sie alle auf, setzte mich aufs Bett damit und ging sie durch. Die Verurteilten, Die glorreichen Sieben, Der Clou, Manche mögen’s heiß, Saturday Night Fever, Sarafina!, Babylon, Burning an Illusion. Affe hängt in den Seilen! Hat er auch was von diesseits der Jahrtausendwende?
Ich beschloss, Colleen zu suchen. Ich ging mit den DVDs raus in den Flur, sprang die Treppe runter und hörte die Waschmaschine. Das Geräusch kam aus dem Keller.
Ich öffnete die knarzende Tür und stieg eine kurze Treppe hinunter. Ich konnte getrockneten Matsch, Gras, Öl und Waschpulver riechen. Die Luft war feucht. Ich erinnerte mich an etwas aus meiner Vergangenheit. Es ließ mir das Blut gefrieren. »Du musst da nicht rein, Naomi.« Das war Dads Stimme . »Ich sehe doch, dass dich das fertigmacht. Wenn du willst, mach ich dir warmes Wasser in eine Schüssel, dann kannst du dich in deinem Zimmer waschen. Wenn du willst, kannst du dich immer da waschen.«
Ich schüttelte den Kopf und die Erinnerungsblase platzte.
Auf einer Seite des Kellers stapelten sich unzählige Gartengeräte und Werkzeuge. In einer Ecke entdeckte ich eine kaputte Schubkarre.
Ich kam unten an. Colleen war gerade dabei, Buntes von Weißem zu trennen. Sie trug ihr rot-gold-grünes Kopftuch. Pinke Slipper mit Monstergesicht umkuschelten ihre Füße.
»Oh, du hast mich erschreckt«, schmunzelte Colleen. »Willst du dein Frühstück?«
»Ich mach mir selbst was«, erwiderte ich.
Colleen schaute auf die DVDs in meinen Händen. »Hast du gut geschlafen?«
»Ja, besser als die Nacht davor.«
»Was möchtest du zum Frühstück?«
»Ich hätte gerne Speck und Rührei.«
»Gib mir noch ein paar Sekunden, dann …«
»Ich kann mir selbst Frühstück machen«, fiel ich ihr ins Wort.
»Ich bin sicher, dass du das kannst.«
»Für meinen Dad hab ich auch immer Frühstück gemacht«, sagte ich. »Jedenfalls wenn was im Kühlschrank war.«
Ich drehte mich um, wollte wieder die Treppe rauf. »Hätte ich fast vergessen«, sagte ich. Ich übergab die DVDs. »Hier, kannst du wiederhaben. Ist nichts dabei, worauf ich stehe. Ist alles ganz schön alt … tut mir leid wegen gestern Abend.«
»Danke, Naomi. Der Grund, warum …«
Bevor Colleen ihren Satz beenden konnte, hatte ich mich schon umgedreht und war wieder hochgelaufen. Ich wollte sie nicht beleidigen, aber so früh am Morgen war ich noch keinem Vortrag gewachsen. Und ich hatte echt Hunger.
Rühreier und drei Scheiben Speck später setzte Colleen sich zu mir an den Küchentisch. Ich schaute sie an, kippte mir noch mehr braune Sauce auf meinen Teller. Ein großes Glas Cola stand daneben.
»Danke noch mal, dass du die DVDs zurückgegeben hast«, sagte Colleen. »Und dass du dich entschuldigt hast. Ich wollte sagen, der Grund, warum wir Sharyna keinen DVD-Player in ihrem Zimmer erlauben, ist, dass wir nicht noch mehr Ablenkungen für sie wollen. Ist so schon schwer genug, sie abends dazu zu bringen, den Fernseher auszumachen.«
»Ihr habt doch auch einen DVD-Player im Zimmer«, wandte ich ein. »Sogar Blu-ray. Und Pablo hat nicht mal einen Fernseher.«
»Tony und ich müssen ja auch keine Hausaufgaben machen«, sagte Colleen. »Und wir lernen auch nicht lesen. Als wir angefangen haben, Pflegekinder aufzunehmen, bekamen sie immer alles, was sie wollten, in ihr Zimmer. Spiele, Fernseher, alles. Aber man lernt aus der Erfahrung.«
»Die beiden haben bei mir angeklopft«, sagte ich. »Und ich wollte ihnen zeigen, dass wir Freunde sind. Ich wollte nicht, dass sie Angst vor mir haben … manchmal passiert mir das.«
Colleen nickte. »Das verstehe ich«, sagte sie.
»Gut, dass wir uns da einig sind«, sagte ich.
»Ist nur so, ich glaube nicht, dass sie schon mal irgendwas dieser Art gesehen haben …«, Colleen stammelte, »wie das, was du ihnen gestern gezeigt hast. Sharyna hatte eine ganz schlechte Nacht.«
»Aber Pablo fand’s toll«, verteidigte ich mich. »Er hat sich weggeschmissen vor Lachen.«
»Ich glaube nicht, dass es ihm gefallen hat, Naomi. Kinder in seinem Alter tun manchmal so, als würden sie etwas toll finden.«
Wieder Sozialarbeitergequatsche.
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