Stefano Mancuso
PFLANZENREVOLUTION
WIE DIE PFLANZEN
UNSERE ZUKUNFT ERFINDEN
Aus dem Italienischen
von Christine Ammann
Verlag Antje Kunstmann
Für Annina
Ob es um Materialien, Energieversorgung oder Anpassungsstrategien geht – die Pflanzen haben schon vor undenklichen Zeiten optimale Lösungen entwickelt. Ein Buch, das die Pflanzenwelt erforscht, um die Zukunft der Menschheit zu imaginieren.
Um unsere eigene Zukunft auf der Erde zu sichern, müssen wir uns von den Pflanzen inspirieren lassen. In seinem neuen Buch entwickelt Stefano Mancuso eine revolutionäre Sicht auf die Pflanzenwelt.
Denn Pflanzen haben in Jahrmillionen vollkommen andere Überlebensstrategien entwickelt als wir: Wo der Mensch auf zentralisierte, hierarchische Lösungen setzt, handeln Pflanzen flexibel, dezentral und als Gemeinschaft.
Sie verbrauchen sehr wenig Energie, überleben unter extremen Bedingungen, lernen aus Erfahrung und haben dabei Tausende Lösungen gefunden, die ganz anders sind als die der uns vertrauteren Tierwelt. Wie die Pflanze Licht einfängt und Energie nutzt, dient schon heute der Architektur als Inspiration; wie das Wurzelgeflecht Informationen aufschließt und verarbeitet, macht es zum Modell eines kollektiven Organismus. Von der Konstruktion neuer Roboter bis zur Organisation von großen Gemeinschaften gibt es keine bessere Inspirationsquelle als die Pflanzen. Die Strategien, mit denen sie ihre Funktionen regeln, sind ein außergewöhnlich effizientes Paradigma für ein nachhaltiges Leben, für eine demokratische Zukunft.
„Dieses Buch ist ein Manifest. Ein Leitfaden für den Aufbau einer nachhaltigen Zukunft.“
LA REPUBBLICA
STEFANO MANCUSO, international renommierter Pflanzenforscher, ist Professor an der Universität Florenz und leitet das Laboratorio Internazionale di Neurobiologia Vegetale. In Deutschland wurde er mit seinem Buch Die Intelligenz der Pflanzen einem breiten Publikum bekannt.
VORWORT
1 GEDÄCHTNIS OHNE GEHIRN
Tiere und Pflanzen lernen durch Erfahrung
Pflanzen mit langem Gedächtnis
2 VON DER PFLANZE ZUM PLANTOIDEN
Ist die Bioinspiration wirklich ein neuer Ansatz?
Warum ausgerechnet die Pflanzen?
Die Individualität der Pflanzen
Von Pflanzen inspiriert: Der Plantoid
3 DIE RAFFINIERTE KUNST DER NACHAHMUNG
Vorbild, Nachahmer und Empfänger
Die Königin der Mimikry, Boquila trifoliolata, und die Augen der Pflanzen
Pflanzen, Steine und farbige Signale
Human Resources oder der Mensch als Ressource der Pflanze
4 BEWEGUNG OHNE MUSKELKRAFT
Und sie bewegen sich doch!
Pinienzapfen und Hafergrannen
Bewegungsfreudige Samen: der Gewöhnliche Reiherschnabel
5 CHILI-SÜCHTIGE UND ANDERE PFLANZENSKLAVEN
Die Kunst der Manipulation
Extraflorale Nektarien: Von Dealern und Konsumenten
Meine erste Begegnung mit Chili-Süchtigen
Chemische Manipulation
6 GRÜNE DEMOKRATIEN
Ein paar Vorbemerkungen zum Körper der Pflanzen
Problemlöser und Problemvermeider
Wurzelschwärme und Insektenstaaten
Athener, Bienen, Demokratie und Pflanzenmodule
Das Condorcet-Jury-Theorem
Die doppelte Buchführung der Vernunft
Organisation und Chaos
Kooperativ wie Pflanzen
7 ÜRPFLANZEN
Ein Wohn-Tower wie ein Zweig
Victoria Amazonica: Wie ein Blatt die Londoner Weltausstellung rettete
Kaktus, Wasser und Hochhäuser
8 WELTRAUMPFLANZEN
Unsere Reisegefährten im All
Paria des Himmels
9 LEBEN OHNE SÜSSWASSER
Süßwasser, eine begrenzte Ressource
Mit Salzwasser leben
Jellyfish Barge – Das schwimmende Gewächshaus
ANHANG
Literaturhinweise
Am Ahorn wachsen Samara genannte Nussfrüchte. Dank ihrer Hubschrauberflügel werden sie vom Wind weitergetragen.
Manchmal denke ich, dass den meisten Menschen gar nicht bewusst ist, welche Bedeutung die Pflanzen für uns haben. Jeder weiß zwar, so hoffe ich zumindest, dass sie den Sauerstoff produzieren, den wir einatmen, und dass sie letztendlich am Anfang der Nahrungskette aller Tiere stehen. Aber wer denkt schon daran, dass sämtliche fossilen Energien wie Erdöl, Kohle oder Gas eigentlich nichts anderes sind als Sonnenenergie, die vor Jahrmillionen von Pflanzen umgewandelt und gespeichert wurde? Oder dass die meisten Wirkstoffe in unseren Arzneimitteln von Pflanzen stammen? Oder dass das wichtigste Baumaterial in vielen Weltgegenden noch immer das dafür so hervorragend geeignete Holz ist? Wenn wir es genau betrachten, sind wir, wie alle anderen tierischen Lebensformen, auf Gedeih und Verderb auf die Pflanzen angewiesen.
Nun sollte man annehmen, dass wir daher über die Pflanzen – von denen noch dazu ein Großteil unserer Wirtschaft abhängt – allerbestens Bescheid wüssten. Doch weit gefehlt: Allein 2015 wurden noch sage und schreibe 2034 neue Pflanzen entdeckt – und nicht etwa nur winzige Pflänzchen, die man leicht übersehen könnte. Gilbertiodendron maximum beispielsweise ist ein ungefähr 45 Meter hoher endemischer Baum im Regenwald von Gabun, mit bis zu 1,5 Meter Stammdurchmesser und über hundert Tonnen Gesamtgewicht. Und 2015 war auch kein Ausnahmejahr: Im letzten Jahrzehnt gab es jährlich über zweitausend Erstbeschreibungen neuer Arten.
Die Suche nach noch unentdeckten Pflanzen lohnt sich auf jeden Fall. Wir nutzen heute nachweislich über 31 000 Pflanzenarten: fast 18 000 davon für medizinische Zwecke, weitere 6000 für unsere Ernährung, 11 000 als Textilfasern und Baumaterial, 1300 im gesellschaftlichen Rahmen – etwa für religiöse Riten oder als Drogen –, 1600 als Energiequelle, 4000 als Tierfutter, 8000 für Umweltzwecke, 2500 als Gift – und so weiter. Wie sich leicht ausrechnen lässt, profitieren wir unmittelbar von 10 Prozent aller Pflanzenarten. Noch lohnender wäre es allerdings, wenn wir sie nicht nur nutzen, sondern auch von ihnen lernen würden.
Pflanzen sind nämlich vorbildlich zeitgemäß. Und genau das will ich mit diesem Buch zeigen. Die Pflanzenwelt hat schon vor undenklichen Zeiten optimale Lösungen für die Probleme entwickelt, mit denen wir heute zu tun haben, ob es um Materialien, autonome Energieversorgung, Resilienz oder Anpassungsstrategien geht. Eigentlich müssten wir jetzt nur noch wissen, wie und wo wir am besten suchen.
Pflanzen und Tiere haben sich in einem Prozess, der vor etwa einer Milliarde Jahre begann und vor 400 Millionen Jahren endete, evolutionär in die entgegengesetzte Richtung entwickelt. Auf der Suche nach Nahrung bewegten sich die Tiere fort; die Pflanzen aber blieben am Ort, erzeugten mithilfe der Sonne die notwendige Energie und passten sich an das ortsgebundene Leben an, etwa daran, dass sie leichte Beute waren. Keine einfache Aufgabe. Können Sie sich vorstellen, wie schwer es ist, in einer feindlichen Umgebung zu überleben, wenn man sich nicht vom Fleck rühren kann? Wie es wäre, eine von Insekten, pflanzenfressenden Tieren und anderen Feinden umlauerte Pflanze zu sein und nicht fliehen zu können? Sie hätten dann nur eine Überlebenschance: Ihr Körper müsste unzerstörbar sein und folglich völlig anders aufgebaut als jener der Tiere. Sie müssten eben eine Pflanze sein.
Die Pflanzen schlugen angesichts ihrer Fressfeinde einen evolutionär einzigartigen und von dem der Tiere so weit entfernten Weg ein, dass sie für uns geradezu zum Sinnbild der Andersartigkeit geworden sind. Sie könnten genauso gut Außerirdische sein, so grundlegend unterscheidet sich ihr Organismus von unserem. Viele Lösungen der Pflanzen sind denen der Tierwelt diametral entgegengesetzt: Die Tiere sind mobil, die Pflanzen sesshaft; die Tiere schnell, die Pflanzen langsam. Tiere sind Verbraucher, Pflanzen Erzeuger; Tiere produzieren CO 2, Pflanzen binden es, und so weiter. Doch der entscheidende und kaum jemandem bewusste Unterschied zwischen Pflanze und Tier liegt ganz woanders, nämlich im Gegensatz zwischen dezentraler Verteilung und Konzentration. Während sich die Körperfunktionen der Tiere in bestimmten Organen konzentrieren, sind die der Pflanzen über den ganzen Körper verteilt. Die weitreichenden Folgen, die sich daraus ergeben, können wir noch kaum überblicken. Pflanzen wirken auf uns auch darum so grundlegend anders, weil sie völlig anders aufgebaut sind als wir.
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