Das nun ist der Fokus dieses Buchs, nämlich rassismuskritische Perspektiven einzubringen und so einen wichtigen Beitrag zu liefern, um die gähnende Lücke in deutschen systemischen Arbeitskontexten zu füllen. Systemische Berater*innen in Deutschland – das wahrlich auch eine Kolonialgeschichte hat, wenn auch eine andere als Großbritannien – sollen ermutigt werden, Rassismus als gesellschaftlich wirkmächtige Konstruktion – mit ganz konkreten und realen Auswirkungen! – bei ihrer therapeutischen Arbeit und in Supervisionen zentral zu berücksichtigen. Die Autor*innen, die sich in ihrer Selbstpositionierung als » weißes Autor*innenteam« beschreiben, betonen ausdrücklich, dass das vorliegende Buch aus einer weißen Perspektive geschrieben ist und sich primär an weiße Berater*innen richtet, die sich mit Macht- und Rassismuskritik in Bezug auf die eigene systemische Arbeit befassen und diese kritisch hinterfragen wollen. Sie zeigen auf, wie weiße Personen, einschließlich Berater*innen, von allgegenwärtigen rassistischen Machtstrukturen profitieren, sei es bewusst oder unbewusst. Sie zeigen auch auf, wie wichtig die Reflexion über die eigene Positioniertheit und insbesondere das Bewusstsein der eigenen weißen Privilegien sind, um die Machtverhältnisse wenigstens im systemischen Beratungssetting ein bisschen auszugleichen. Aber sie betonen auch, wie wichtig es ist, dass in Aus- und Weiterbildungskontexten und der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Systemischer Beratung die Auseinandersetzung mit Weißsein als ein zentrales Element mit einbezogen wird. Auf diese Weise, so sagt das Autor*innenteam, können Systemische Berater*innen die eigene Positioniert- und Verstricktheit innerhalb dieser Machtverhältnisse kritisch reflektieren, Macht- und Rassismuskritik konkret in ihre Arbeit integrieren und zu einer Sichtbarmachung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen beitragen. Die drei umfangreichen Expertinnen-interviews enthalten bedeutende Erfahrungen und Sichtweisen, die alle weißen Systemischen Berater*innen und Supervisor*innen zu überraschenden Perspektivwechseln und Erkenntnissen auffordern.
Ich selbst habe viel von der Lektüre dieses Buches gelernt und sehe es als eine echte Bereicherung und Inspiration für die systemische Lehre, Supervision und Praxis. Ich wünsche dem Buch und dem Autor*innenteam von ganzem Herzen den Erfolg und die weite Leser*innenschaft, die sie voll verdienen.
Prof. Dr. Eia Asen Anna Freud Centre und University College London
El Hachimi, M. u. A. v. Schlippe (2000): Therapie und Supervision in multikulturellen Kontexten. In: System Familie 13: 3–13.
Falicov, C. (1983): Cultural perspectives in family therapy. Rockvill, ML (Aspen).
Hegemann, T. u. R. Salman (Hrsg.) (2001): Transkulturelle Psychiatrie: Konzepte für die Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturen. Bonn (Psychiatrie Verlag).
Henrich, J., S. Heine a. A. Norenzayan (2010): Most people are not WEIRD. Nature 466: 29.
McGoldrick, M., J. K. Pearce a. J. Giordano (1982) (Hrsg.): Ethnicity and family therapy. New York (Guilford).
McPherson, W. (1999): Stephen Lawrence Inquiry Report. London (H. M. O.).
1 Weiß bezieht sich hier auf eine soziale Konstruktion, bezeichnet Menschen, die nicht durch Rassismus diskriminiert werden und soll kursiv geschrieben deutlich machen, dass damit nicht eine reale Hautfarbe gemeint ist (siehe Kap. 2.2).
2 Schwarz ist hier bewusst mit einem großen »S« geschrieben, da es sich in diesem Kontext nicht um die Farbe, sondern um eine politische Selbstbezeichnung von Menschen handelt, die durch Rassismus diskriminiert werden.
Rassismus prägt als Machtverhältnis Biografien und Strukturen in unserer Gesellschaft. In den letzten Jahren hat sich die Situation von Menschen, die in Deutschland durch Rassismus diskriminiert werden, erneut enorm zugespitzt. Sowohl rassistische Gewalttaten, aber auch öffentliche rassistische Äußerungen – nicht zuletzt vonseiten verschiedener politischer Akteur*innen – haben deutlich zugenommen. Die Art und Weise, wie öffentliche Diskurse geführt und verschiedene Themen behandelt werden, führt zu einer weitreichenden Marginalisierung von Menschen, die in Deutschland leben und durch Rassismus diskriminiert werden. Die Anschläge in Halle (09.10.2019) und Hanau (19.02.2020) stellen abermals eine erschreckende Zuspitzung von rassistischer Gewalt und Terror in Deutschland dar (vgl. Agar u. Kalarickal 2020). Auch die weltweiten Proteste im Rahmen der Black Lives Matter-Bewegung, die infolge des Mordes an George Floyd (25.05.2020) die häufig ignorierte rassistische Polizeigewalt in den Fokus öffentlicher Diskurse rückten, weisen erneut auf die Folgen von strukturellem Rassismus hin. Gleichzeitig sind es nicht nur rassistisch motivierte, physische Gewalt und intentional diskriminierende Verhaltensweisen, die die Lebensrealität vieler Menschen prägen. Auch die Auswirkungen von (un)bewussten Grundhaltungen und verinnerlichten Bildern haben einen enormen Einfluss auf das gesellschaftliche und individuelle Leben. Rassistische Diskriminierung drückt sich auch durch alltägliche Handlungen, Denkweisen und Verhaltensmuster aus. Dies wiederum führt zu einem Aufrechterhalten und damit zur kontinuierlichen Reproduktion von rassistischen Strukturen in unserer Gesellschaft (vgl. Ogette 2019, S. 16 f.). Wenn davon ausgegangen wird, dass diese gesellschaftlichen Machtstrukturen in allen Bereichen des Lebens wirken, werden rassistische Strukturen auch im Kontext Systemischer Beratung 3reproduziert – trotz aller Reflexion der Berater*innen. Das vorliegende Buch versteht sich als Annäherung hinsichtlich der Zusammenführung von Systemischer Beratung mit dezidiert macht- und rassismuskritischen Perspektiven. Dabei sind drei Aspekte grundlegend: Erstens bilden die Betroffenenperspektiven einen fundamentalen Bestandteil einer macht- und rassismuskritischen Auseinandersetzung. Vor allem gilt dies für den Kontext der Beratung, da nur so Menschen mit eigenen Rassismuserfahrungen ernst genommen und die individuellen (psychischen und physischen) Auswirkungen von Rassismus auch im wissenschaftlichen bzw. praxisbezogenen Diskurs sichtbar werden. Zweitens sind alle Menschen Teil von gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Das Gesellschaftssystem in Deutschland ist von multidimensionalen Machtstrukturen bzw. sozialen Hierarchien geprägt, die diskriminierend und als strukturelle Gewalt wirken (vgl. Galtung 1975, S. 12 ff.). Neben anderen relevanten Machtstrukturen, wie der klassistischen oder der (hetero-/cis-) sexistischen, stellt die rassistische Machtstruktur eine wesentliche Dimension dar. Weiße Menschen profitieren – in der Regel unbewusst – davon, Bi_PoC (Black, indigenous People_and People of Color) sind entsprechend mit den negativen Auswirkungen konfrontiert. Drittens und daraus folgend wird eine Verortung von Rassismus und anderen Diskriminierungsformen an vermeintliche gesellschaftliche oder politische »Ränder« abgelehnt, da sie die Reflexion eigener Verstricktheit in eben jene Machtverhältnisse erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wo Systemische Beratung in Theorie und Praxis Anschlussmöglichkeiten bietet, wo aber auch Widersprüche zu Macht- und Rassismuskritik bestehen und Systemische Beratung Gefahr läuft, Rassismus selbst zu reproduzieren.
Im systemischen Denken werden Familiensysteme und andere soziale Konstellationen als grundlegend und relevant für die Situation eines jeden Individuums gesehen und maßgeblich mit in die Beratung einbezogen (vgl. Hanswille 2015, S. 697). Daher erscheint es in hohem Maße anschlussfähig, naheliegend und längst überfällig, dass die systemische Community in Deutschland Rassismus als gesellschaftlich wirkmächtige Konstruktion mit ganz konkreten und realen Auswirkungen in der systemischen Arbeit berücksichtigt. Denn was bedeutet es für die Systemische Beratung, wenn Machtstrukturen wie Rassismus mitgedacht werden? Und wenn dies im Hinblick auf die innere Haltung der Beratenden 4, auf die Beziehungsebene zwischen Beratenden und Beratungsnehmenden, auf deren Lebensrealitäten sowie auf die strukturellen Kontexte, in denen Systemische Beratung stattfindet, geschieht? Inwiefern ist eine angemessene Beratung überhaupt möglich, ohne gesellschaftliche Machtverhältnisse zu berücksichtigen?
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