1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 Als ich im Morgengrauen aufwachte, hatte Salazar Belgrame spurlos verlassen. Ich wagte es nicht, die Wächter der Gerechtigkeit nach ihm zu fragen, aus Angst zu hören, dass Lestad ihn bei den Unglücklichen eingesperrt hatte. Oder dass er verschwunden war. Ich hatte reine und schmerzhafte Erinnerungen an unsere ehrliche Zusammenkunft, an unsere eng umschlungenen brennenden Körper. Ich hasste mich dafür, Belgrame gegründet zu haben. Ich hatte einen Fehler gemacht und alles verloren. Zumindest fast. Noch konnte ich Lestads Wahnsinn aufhalten und Salazars Anteil retten. Ich weigerte mich zu glauben, dass unser Modell ohne ihn komplett zusammenbrechen würde.
Ich nahm an dem von Lestad spontan organisiertem Treffen teil, bei dem weder Salazar, noch seine Abwesenheit erwähnt wurden. Er schien gut gelaunt, von unergründlicher Macht bestärkt. Dann erklärte er mir:
„Ich habe über die eingeschränkte Freiheit nachgedacht. Xuang. Auch hier müssen wir uns frage : Hat der Mensch von Natur aus das Bedürfnis, frei zu sein, oder strebt er nach Freiheit, einfach, weil er sie haben kann? Ich habe darauf keine Antwort. Aber du hast Recht. Es gibt keine absolute Autorität. Deshalb schlage ich vor, einen,Praegressus ‛ ins Leben zu rufen, damit jeder Bewohner die Hoffnung hat, eines Tages sein Leben zu ändern, wenn ihm seine Zuordnung nicht gefällt. Wir müssen ihnen zeigen, dass der Staat großmütig ist.“
„Alles nur Schall und Rauch.“
Ganz genau. Der Peagressus würde also so von statten gehen, dass die Bürger, die mit der Zuordnung, die der LeXuS ihnen bei ihrer Volljährigkeit zuweist, nicht zufrieden sind, sich freiwillig melden konnten. Kandidaten, die bereit waren, alles für ein besseres Leben zu tun und sogar im Namen von Belgrame zu sterben. Spiele und Blut. Mäßige Freiheit. Lestad war von dieser Idee dermaßen begeistert, dass er sich beeilte, das Projekt absegnen zu lassen und ein Team schicken würde, um daran zu arbeiten.
Von diesem Moment an, hatte ich die Wahl, komplett unterzugehen, oder an Lestads Seite zu agieren. Ich kontrollierte nichts mehr, die Distrikte funktionierten perfekt, ich hätte spurlos verschwinden können, genau wie die rebellischen Bürger Belgrames. Ich nannte sie „die Verschwundenen“. Aber ich war noch zu etwas Nütze. Lestad brauchte mich, und Salazar hatte mich im Stich gelassen. Ich wollte nicht aus Zuneigung alles aufgeben, ich hatte meinen Stolz. Ich hatte ihn enttäuscht, aber ich würde mein Potenzial nicht verschwenden. Mein Spiel war aufgeflogen. Zu lieben, wenn ich selbst es Tausenden von Menschen verboten hatte.
Lestad hatte Recht: Ich war verachtenswert.
Ich arbeitete mit ihm zusammen, veröffentlichte die Ergebnisse meiner Forschung und beseitigte die Mängel im System. Als mir klar wurde, dass die Zahl der Deserteure von Jahr zu Jahr anstieg und dass die Betreiber die Abtrünnigen fürchteten, wollte ich mich ihnen anschließen. Ich wohnte dem allerersten Praegressus bei und war überzeugt. Ich hatte eine Welt voll Gewalt und Gehorsam aufgebaut und sie war mir über den Kopf gewachsen. Ich wollte sie nicht mehr, aber sie war alles, was ich noch hatte. Ich hatte die Wahl, mich entweder zurückzuziehen und Platz für Lestad zu machen, der Belgrame am Laufen hielt, oder Wiedergutmachung zu leisten.
Ich kontaktierte einige Bürger, von denen ich wusste, dass sie Spione waren. Ich hätte umgebracht werden können, aber dieses Risiko ging ich ein. Merkwürdigerweise wurde ich Teil der Rebellion und unser gegenseitiges Vertrauen wuchs während ich für die Rebellen arbeitete. Ich stand in ihrem Dienst und war ihnen äußerst hilfreich. Es war ein gutgemeinter Austausch. Ich begann, die bewachten Ausgänge Belgrames zu öffnen, damit Ausreißer die Grenze überqueren konnten, ich nahm Waffen entgegen und schmuggelte sie nach draußen. Aber mein größter Erfolg war, die Widerstandskämpfer zum Sturz des Regimes zu ermutigen. Wir dachten über den zentralen Punkt Belgrames nach, die Priorität des LeXuS: die Kinder. Wenn wir in der Lage wären, natürliche Geburten zu fördern, hätten die Protokolle keinen Wert mehr. Mir wurde klar, dass ich nicht die Einzige war, die etwas verändern wollte. Die Betreiber halfen mir und ich öffnete meine Augen gegenüber unseren Mitbürgern und die vielen Ideen, die sich unter ihnen verbreiteten. Wir hatten es unter anderem einem Partnerpaar ermöglicht, ihre biologische Tochter zur Welt zu bringen. Ein großer Erfolg.
Für die Abtrünnigen war ich nicht Xuang. Ich war ein anonymer, namenloser Kontakt. Ich arbeitete mit Wächtern der Gerechtigkeit zusammen, von denen es einigen wirklich wichtig war, frei zu leben, und anderen weniger. Ich hatte meine Kraft wiedergefunden und damit auch meine Seele. Das gefiel mir, allerdings nicht so sehr, wie Lestads Treiben zum Stillstand zu bringen. Er wusste nichts von den Hindernissen, die seinen extravaganten Plänen im Weg standen. Die Abtrünnigen wurden immer stärker, und obwohl ich Belgrame nicht verlassen konnte, da wir sonst aufgeflogen und hingerichtet worden wären, arbeitete ich von innen heraus. Das ging jahrelang so weiter. Durch meine Aktionen rief ich die größte Rebellion in der Geschichte Belgrames ins Leben.
Ich war bereit bis zum letzten Schachzug an ihrer Seite zu kämpfen, bis mich einer von ihnen über Salazars Zustand informierte. Meinen Quellen zufolge lag er im Sterben. Er war im Zivilkrankenhaus außerhalb Belgrames untergebracht, wo er, seit er Belgrame verlassen hatte, in ein „normales“ Leben zurückgekehrt war. Ich hätte mich ihm schon früher anschließen können, aber dazu fehlte mir immer der Mut. Was hätte ich dort draußen vorgefunden? Ich war seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr dort gewesen. Lestad hatte Salazar seit dessen Verschwinden nie wieder erwähnt.
Diese Nachricht brachte alles durcheinander und veränderte den Lauf meines Spiels. Ich würde als Zuschauerin zusehen, wie die Abtrünnigen die Macht übernehmen und das Chaos nutzen würden, um sich aus der Stadt zu schleichen. Lestad würde alles tun, um mich daran zu hindern, Belgrame zu verlassen, ich musste dafür sorgen, dass er vor meiner Abreise neutralisiert wurde. Für alles andere war es zu spät, aber wenn auch nur die geringste Chance bestand, Salazar wiederzusehen, würde ich sie ergreifen, auch wenn das bedeutete, Lestad den Abtrünnigen auszuliefern, so wie sie es sich erträumt hatten.
***
In dieser dunklen Stunde erkenne ich, dass die Erfahrungen, die wir gemacht haben, aus wirtschaftlicher Sicht brillant waren. Katastrophen sind menschlich. In diesem Krankenhauszimmer, nur einen Steinwurf von der Welt entfernt, die wir siebzig Jahre zuvor geschaffen hatten, denke ich an das zurück, was wir uns gegenseitig versprochen hatten: Glück. Vielleicht waren wir eine mächtige Sekte, vielleicht auch Pioniere. Aber wir lagen falsch. Ich hoffe, dass der LeXuS mit uns, seinen Gründern, sterben wird. Zumindest habe ich alles in meiner Macht stehende getan, um unser Unrecht wiedergutzumachen.
Vierzig Jahre. So lange habe ich gewartet, bis ich Salazar wieder gefunden und erkannt habe, dass unser Schicksal schon lange bevor wir begannen, Gott zu spielen, vorbestimmt war. Der LeXuS und Belgrame mussten existieren, damit die Menschheit erkennen konnte, dass ihr Wert in der Fähigkeit liegt, sich selbst zu lieben. Salazar hatte mich verlassen müssen, um mir die nötige Kraft zu geben, Lestad zu stürzen. Und die Gründer mussten verschwinden, um Platz für ein neues Gleichgewicht zu schaffen.
Ich presse meine Lippen gegen seine Stirn und höre den Alarm seines Beatmungsgerätes. Salazar hatte gewartet, bis ich gekommen war, damit er gehen konnte. Tränen laufen über meine Wangen und ich flüstere:
„Ich habe dir meine ganze Liebe und meine ganze Lust gegeben. Und jetzt wissen wir, wie wertvoll beides ist. Aber du hattest Recht, kein Gefühl der Welt ist es wert, sein Schicksal hinzuschmeißen. Ich bin stolz darauf, meines erfüllt zu haben.“
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