Jedem Menschen ohne Partner des anderen Geschlechts wurde empfohlen, seine sexuelle Energie zu verfeinern oder der sexuellen Aktivität mit dem gleichen Geschlecht noch Übungen hinzuzufügen, die man allein durchführen kann und die ich mittlerweile gelernt hatte, und darüber hinaus weitere Quellen für Yin- oder Yang-Energie für sich zu suchen.
„Männliche Energie kann ich solchen Quellen wie der Sonne oder den Bergen gefunden werden, weibliche Energie in Quellen wie der Erde, dem Mond und den Seen.“ 77
Die Taoisten warnten vor häufiger Masturbation und Orgasmus, unabhängig von der sexuellen Orientierung. Sie stellten fest, dass ein Höhepunkt die sexuelle Begierde ansteigen lässt und zugleich erschöpfend ist. 78 Dies kam mir paradox vor, bis ich eine Weile darüber nachdachte. Ich merkte, dass auch bei mir sexuelle Übersättigung im Anschluss das Verlangen nach heißem Sex steigern konnte – vielleicht, um der Schwermut emotionaler Spannung oder Distanz in der Zeit des „Katers“ zu entkommen. Sich einen Orgasmus zu wünschen, wenn man eigentlich sexuell schon satt ist, kam mir so vor, wie zu essen, wenn man innerlich unruhig ist und eigentlich gar keinen Hunger hat. Auf diesen Punkt kommen wir in Kapitel sechs noch mal zurück, wenn wir uns anschauen, wie Orgasmus zum Zwang werden kann.
Die Taoisten betrachteten Hypersexualität oder „uneingeschränkte Verausgabung“ als die vorhersehbare Auswirkung, wenn man sexuelle Übersättigung verfolgt, ohne zuvor das eigene innere Gleichgewicht hergestellt zu haben – und nicht als ein Merkmal wirklicher Libido. Aus ihrer Sicht waren vorzeitige Ejakulation, ein Unwohlsein nach dem Orgasmus, feuchte Träume und „lüsterne Gedanken“ häufig ein Anzeichen für Erschöpfung und nicht für einen Überschuss an sexueller Energie. Ihre Lösung? Den Raubbau grundsätzlich zu vermeiden.
„Ich werde aufmerksam für meine Gefühle nach dem Orgasmus. Sofort verschwindet jeglicher Drang völlig. Ich denke „Warum war mir das so unglaublich wichtig?! Was hat mich da getrieben? Warum war das unbedingt notwendig?!“ Es fühlt sich so an, als würde irgendetwas die Kontrolle über mich übernehmen, und es ist ganz schwierig zu beschreiben. Zum anderen fühle ich mich nach dem Orgasmus … neutralisiert. Als wäre all meine männliche Essenz verschwunden, wie ein Weichling fühle ich mich: schwach, schüchtern und introvertiert. Es ist richtiggehend beunruhigend. Vorher fühlte ich mich viel mehr als Mann.“
Dennis
Waren möglicherweise viele von uns in einem Hamsterrad hyperaktiver sexueller Gewohnheiten gefangen, die unser Unbehagen nur immer weiter verstärkten? Während ich über meine sexuelle Energie mit einem neu gewonnenen Respekt nachdachte, spielte sich in meinem Leben ein Drama ab, das meine Motivation steigerte, mein bisheriges Wissen mit anderen zu teilen.
Eines Tages brachte ein Freund einen sympathischen jungen Mann mit zu einer Party bei mir zu Hause. Lars war ein begabter Grafikdesigner, sensibel, ehrlich, liebenswürdig und ein bisschen schüchtern. Er kam in Begleitung einer sehr höflichen und viel älteren Frau. Mir war zunächst nicht klar, dass die beiden ein Paar waren.
Ein paar Wochen später besuchte mich der Freund, der die beiden mitgebracht hatte, wieder. Er war am Boden zerstört; Lars war tot.
Scheinbar war er erst ein paar Monate mit der Frau zusammen gewesen. Und während dieser Zeit hatte er für ihn völlig uncharakteristische Phasen von gewalttätigem Verhalten durchlebt. Beispielsweise hatte er sich in Bars in Kämpfe verwickelt, so dass ihm sogar einmal eine Verhaftung drohte. Mein Freund, der Lars’ ganze Familie schon seit Jahren kannte, sprach nach seinem Tod auch mit seiner Geliebten. Sie erzählte ihm, dass Lars sexuell aggressiv geworden war. In der Nacht seines Todes hatte sie nicht mit ihm schlafen wollen. Sie ging in ein anderes Zimmer und legte sich hin. Er kam später nach, setzte sich auf sie und verlangte von ihr, Sex mit ihm zu haben. Sie verweigerte sich. Er zog einen Revolver hinter seinem Rücken hervor und schoss sich selbst in den Kopf.
Es ist natürlich möglich, dass keinerlei Zusammenhang zwischen der Verschlechterung seiner Gefühlslage und seinem Verhalten einerseits und seinem Sexualleben andererseits bestand. Doch für mich war es klar, dass ein wie auch immer geartetes schwerwiegendes Ungleichgewicht mit der Zeit ihrer intimen Beziehung korrespondierte. Tief berührt von dieser Tragödie, schwor ich feierlich, meine Verführungskünste niemals dazu einzusetzen, einen Liebhaber in Gefahr zu bringen. Ich fing an, den sorgsamen Umgang mit Sexualenergie mit jedem zu besprechen, der auch nur das geringste Interesse zeigte.
Während ich kurz in Manhattan wohnte, arbeitete ich für einen Freund, dem ein Nachtklub für Schwule gehörte. Als Managerin für den Veranstaltungssaal entwarf ich Poster für Drag Queens, fand viele neue schwule Freunde und führte lebhafte Diskussionen über den Graben zwischen den Geschlechtern. Anfangs war ich erstaunt, wie offen meine homosexuellen Freunde für meine Gedanken waren. Dann wurde mir langsam klar, dass Menschen, die sich zu gleichgeschlechtlichen Beziehungen hingezogen fühlen, sich wahrscheinlich mehr Gedanken über die Entfremdung der Geschlechter machen als irgendjemand sonst außer mir. Sie fühlten sich in keiner Weise von meinen Ideen bedroht, im Gegenteil, viele konnten sofort etwas damit anfangen.
Einige kannten den postorgastischen Kater bereits. Ein Freund erzählte mir seine Geschichte:
„Nach einem sechsmonatigen Zölibat während einer Fortbildung war eines meiner ersten Ziele ein Schwulenstrand, wo ich auch Sex hatte. Ich war erstaunt, in was für eine tiefe Depression ich an den Tagen darauf fiel. Ich erinnerte mich an die Zeiten, in denen ich solche Strände in Holland regelmäßig aufgesucht hatte. Ich war immer krank. Vielleicht trifft das auf einige Menschen überhaupt nicht zu, doch so, wie ich Sex benutzt habe, entstand daraus immer ein Kater.“
Einer meiner engsten Freunde in New York war ein Mann, den ich schon seit Jahren aus Brüssel kannte, wo wir beide gewohnt hatten. Ich liebte ihn wie einen jüngeren Bruder, doch unsere Freundschaft war eine Herausforderung für mich. Mark hatte mir anvertraut, dass er nur relativ selten masturbierte, im Vergleich zu einem anderen schwulen Freund, der sein Zweitschlafzimmer in einen Pornoaltar verwandelt hatte (das war noch vor den Internet-Zeiten). Doch jedes Mal, wenn er es tat, folgte darauf ein niederschmetternder Verlust an Selbstvertrauen. Irgendein Ereignis legte ihn dann jedes Mal total lahm, wie zum Beispiel eine Diskussion mit seiner Familie, die nicht gerade begeistert waren, dass er nur herumlungerte, ohne eine Karriere zu verfolgen. Dann schlug er sich regelmäßig in die Büsche, fühlte sich wertlos und suchte nach einer aufregenden Dosis vorübergehenden Vergessens.
Es dauerte eine Weile, bis er sein Muster erkannt hatte, doch schließlich hörte er mit dem Masturbieren auf. Die Büsche im Park waren fortan tabu, und innerhalb weniger Monate war er mit einem seiner früheren Liebhaber zusammen, den er zehn Jahre zuvor aus den Augen verloren hatte. Es war seine erste richtige Beziehung. Trotz meiner Predigten über Orgasmen ejakulierten beide hin und wieder, und ihre Beziehung war sehr unbeständig. Zu guter Letzt, als Eric ein paar Wochen nicht in der Stadt war, entschloss Mark sich, mit der Herumlungerei aufzuhören, sich einen Job zu suchen und sich von Eric zu trennen.
Er fing einen Job in einem brandneuen Buchladen von Barnes & Noble an, die eine clevere Strategie verfolgten, was die Auswahl ihres Managements anging. Sie warfen alle 450 Angestellten als einander gleichgestellt in ein vierstöckiges Gebäude. Es mussten Kisten abgeladen, durch die Gegend geschoben und ausgepackt werden, und so bildeten sich spontan Teams und Anführer. Ich ging oft kurz dort vorbei und war verblüfft, wie Marks natürliche Führungsqualitäten voll erblühten: Er war charismatisch, fleißig, lustig, zuverlässig und einfach genial, wenn es darum ging, Müßiggänger zum Mitmachen zu animieren (wer wusste schließlich mehr darüber, wie man sich vor Arbeit drückt, als er?).
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