dann komm zu mir, mein Liebster!
Komm, eile wie ein Hirsch;
sei flink wie die Gazelle,
die in den Bergen wohnt.
SIE
Nachts lieg ich auf dem Bett und kann nicht schlafen.
Ich sehne mich nach ihm und suche ihn,
doch nirgends kann mein Herz den Liebsten finden.
Ich seh mich aufstehn und die Stadt durcheilen,
durch Gassen streifen, über leere Plätze –
ich sehne mich nach ihm und suche ihn,
doch nirgends kann ich meinen Liebsten finden.
Die Wache greift mich auf bei ihrem Rundgang.
»Wo ist mein Liebster, habt ihr ihn gesehn?«
Nur ein paar Schritte weiter find ich ihn.
Ich halt ihn fest und lass ihn nicht mehr los;
ich nehm ihn mit nach Hause in die Kammer,
wo meine Mutter mich geboren hat.
Ihr Mädchen von Jerusalem, lasst uns allein!
Denkt an die scheuen Rehe und Gazellen:
Wir lieben uns, schreckt uns nicht auf!
DIE ZUSCHAUER
Was kommt dort herauf aus der Wüste?
Wie Rauchsäulen zieht es heran;
es duftet nach Weihrauch und Myrrhe,
nach allen Gewürzen der Händler.
Schaut hin! Das ist Salomos Sänfte,
geleitet von sechzig Beschützern,
von Israels tapfersten Helden,
im Kampfe erprobt und bewährt.
Das Schwert hat ein jeder am Gürtel
zum Schutz gegen nächtliche Schrecken.
Aus edelstem Holz ließ der König
den tragbaren Thronsessel machen,
die Säulen mit Silber beschlagen,
die Lehne mit Gold überziehen.
Aus purpurnem Stoff sind die Kissen,
mit Liebe gewebt und bestickt
von Jerusalems Frauen und Mädchen.
Ihr Frauen von Zion, kommt her,
den König zu sehn und die Krone,
mit der seine Mutter ihn schmückte
zum heutigen Tag seiner Hochzeit,
dem Tag voller Freude und Glück.
ER
Preisen will ich deine Schönheit,
du bist lieblich, meine Freundin!
Deine Augen sind wie Tauben,
flattern hinter deinem Schleier.
Wie die Herde schwarzer Ziegen
talwärts vom Berg Gilead zieht,
fließt das Haar auf deine Schultern.
Weiß wie frisch geschorne Schafe,
wenn sie aus der Schwemme steigen,
glänzen prächtig deine Zähne,
keiner fehlt in seiner Reihe.
Wie ein scharlachrotes Band
ziehn sich deine feinen Lippen.
Wangen hinterm Schleier
schimmern rötlich wie die Scheibe
eines Apfels vom Granatbaum.
Wie der Turm des Königs David,
glatt und rund, geschmückt mit tausend
blanken Schilden, ragt dein Hals.
Deine Brüste sind zwei Zicklein,
Zwillingsjunge der Gazelle,
die in Blumenwiesen weiden.
Wenn die Schatten länger werden
und der Abend Kühle bringt,
komm ich zu dir, ruh auf deinem
Myrrhenberg und Weihrauchhügel.
Deine Schönheit will ich preisen!
Du bist lieblich, meine Freundin,
und kein Fehler ist an dir!
ER
Komm, meine Braut, geh doch mit, lass die Berge!
Lass den gefahrvollen Libanon, komm!
Fort von dem Gipfel des Berges Amana,
fort vom Senir und vom ragenden Hermon,
fort von den Lagerplätzen der Löwen,
fort von den Bergen der Panther, komm mit!
ER
Verzaubert hast du mich,
Geliebte, meine Braut!
Ein Blick aus deinen Augen
und ich war gebannt.
Sag, birgt er einen Zauber,
an deinem Hals der Schmuck?
Wie glücklich du mich machst
mit deiner Zärtlichkeit!
Mein Mädchen, meine Braut,
ich bin von deiner Liebe
berauschter als von Wein.
Du duftest süßer noch
als jeder Salbenduft.
Wie Honig ist dein Mund,
mein Schatz, wenn du mich küsst,
und unter deiner Zunge
ist süße Honigmilch.
Die Kleider, die du trägst,
sie duften wie der Wald
hoch auf dem Libanon.
ER
Meine Braut ist ein Garten
voll erlesener Pflanzen!
An Granatapfelbäumen
reifen köstliche Früchte.
Herrlich duften die Rosen
und die Blüten der Henna.
Narde, Safran und Kalmus,
alle Weihrauchgewächse,
Zimt und Aloë, Myrrhe,
alle Arten von Balsam
sind im Garten zu finden.
Eine Quelle entspringt dort
mit kristallklarem Wasser,
das vom Libanon herkommt.
Aber noch sind mir Garten
und Quelle verschlossen!
SIE
Kommt doch, ihr Winde,
durchweht meinen Garten!
Nordwind und Südwind,
erweckt seine Düfte!
Komm, mein Geliebter,
betritt deinen Garten!
Komm doch und iss
seine köstlichen Früchte! …
ER
Ich komm in den Garten,
zu dir, meine Braut!
Ich pflücke die Myrrhe,
die würzigen Kräuter.
Ich öffne die Wabe
und esse den Honig.
Ich trinke den Wein,
ich trinke die Milch.
Esst, Freunde, auch ihr,
und trinkt euren Wein;
berauscht euch an Liebe!
SIE
Ich lag im Schlaf, jedoch mein Herz blieb wach.
Da klopft’s! Ich weiß: Mein Freund steht vor der Tür.
ER
»Mach auf, mein Schatz, mach auf, ich will zu dir!
Mein Täubchen, öffne doch, lass mich hinein!
Mein Haar ist nass vom Tau der kühlen Nacht.«
SIE
»Ich habe doch mein Kleid schon ausgezogen
und müsst es deinetwegen wieder anziehn.
Auch meine Füße habe ich gewaschen;
ich würde sie ja wieder schmutzig machen!«
Durchs Fenster an der Tür greift seine Hand;
ich höre, wie sie nach dem Riegel sucht.
Mein Herz klopft laut und wild. Er ist so nah!
Ich springe auf und will dem Liebsten öffnen.
Als meine Hände nach dem Riegel greifen,
da sind sie feucht von bestem Myrrhenöl.
Schnell öffne ich die Tür für meinen Freund;
doch er ist fort, ich kann ihn nicht mehr sehn.
Mein Herz steht still, fast tötet mich der Schreck!
Ich suche meinen Freund, kann ihn nicht finden.
Ich rufe ihn, doch er gibt keine Antwort.
Die Wächter finden mich bei ihrem Rundgang.
Sie schlagen ohne Mitleid auf mich ein
und reißen mir den Umhang von den Schultern.
SIE
Ihr Mädchen alle, ich beschwöre euch:
Wenn euch mein Freund begegnet, sagt ihm doch,
die Liebessehnsucht macht mich matt und krank!
DIE MÄDCHEN
Beschreib ihn uns,
du schönste aller Frauen!
Wer ist es, den du suchst?
Was unterscheidet ihn
von anderen Männern,
dass du uns so beschwörst?
SIE
Mein Liebster ist blühend und voller Kraft,
nur einer von Tausenden ist wie er!
Sein schönes Gesicht ist so braun gebrannt,
sein Haar dicht und lockig und rabenschwarz.
Die Augen sind lebhaften Tauben gleich.
Ganz weiß sind die Zähne, als hätten sie
gebadet in Bächen von reiner Milch.
Die Wangen sind Beete voll Balsamkraut,
die herrlichsten Würzkräuter sprießen dort.
Wie Lilien leuchtet sein Lippenpaar,
das feucht ist von fließendem Myrrhenöl.
Die Arme sind Barren aus rotem Gold,
mit Steinen aus Tarschisch rundum besetzt.
Sein Leib ist ein Kunstwerk aus Elfenbein,
geschmückt mit Saphiren von reinster Art.
Die Beine sind marmornen Säulen gleich,
die sicher auf goldenen Sockeln stehn.
Dem Libanon gleicht er an Stattlichkeit,
den ragenden Zedern an Pracht und Kraft.
Sein Mund ist voll Süße, wenn er mich küsst –
ja, alles an ihm ist begehrenswert!
Seht, so ist mein Liebster und so mein Freund.
Nun wisst ihr’s, ihr Mädchen Jerusalems!
DIE MÄDCHEN
Schnell, sag uns noch,
du schönste aller Frauen:
Wo ging dein Liebster hin?
Wir wollen mit dir gehn
und nach ihm suchen!
Wo könnte er denn sein?
SIE
Er ist in seinem Garten,
wo Balsamsträucher stehn,
wo er die Herde weidet
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