Erste Klassifikationen für schmerzversorgende Einrichtungen und multimodale Programme seit Ende der 1970er Jahre.
In den Jahren 1977–79 wurden die zu dieser Zeit existierenden schmerzversorgenden Einrichtungen vom »Committee on Pain Therapy« der Amerikanischen Gesellschaft der Anästhesisten (ASA) analysiert und kategorisiert, sodass das »International Directory of Pain Centers/Clinics«, ein Verzeichnis aller Schmerzzentren/-einrichtungen (sog. Oryx-Verzeichnis; APS-AAPM-Verzeichnis) und deren Klassifikation, entstand (Carron 1979, Gerbershagen 2003):
1. Überregionales Schmerzzentrum
2. Regionales Schmerzzentrum
3. Syndrom-bezogenes Schmerzzentrum/-einrichtung, inklusive Akutschmerz-Abteilungen
4. Verfahrens-orientiertes Schmerzzentrum/-einrichtung
Die dazu gehörigen Programme wurden fünfstufig subklassifiziert:
1. Großes übergeordnetes multidisziplinäres Programm; mehr als sechs beteiligte Disziplinen; Behandlung unterschiedlicher Schmerzsyndrome; Forschung und Lehre; universitär
2. Übergeordnetes, multidisziplinäres Programm; mind. 4–6 beteiligte Disziplinen; weitere wie 1.
3. Kleines multidisziplinäres Programm; 2–3 Disziplinen
4. Syndrom-orientiertes Programm, auf die Behandlung von Patienten mit speziellen Schmerzerkrankungen spezialisiert
5. Verfahrens-/Modalitäten-orientiertes Programm, Verwendung von einzelnen Verfahren
Im Anschluss an diese ersten Vorschläge für eine Klassifikation folgten weitere Definitionen der International Association for the Study of Pain (IASP) und der damaligen Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS) und heutigen Deutschen Schmerzgesellschaft e. V.
Die sog. »Task Force« der IASP formulierte 1990 Richtlinien für die anzustrebenden Charakteristika von schmerztherapeutischen Versorgungseinrichtungen, die den aktuellen Vorschlägen der Ad-hoc-Kommission »Interdisziplinäre Multimodale Schmerztherapie« der Deutschen Schmerzgesellschaft e. V. in ihren Grundsätzen bereits sehr ähnlich waren (Gerbershagen 2003, IASP 2009). Sie unterstrichen die multi-/interdisziplinäre Herangehensweise für Diagnostik und Therapie chronischer Schmerzsyndrome als zu präferierende Methode, um die Gesundheitsversorgung chronischer Schmerzpatienten zu gewährleisten. Die Überlegungen reichten sogar bis dahin, dass man sich fragte, ob schmerztherapeutische Einrichtungen, die nicht multi-/interdisziplinär arbeiten, weiterhin eine Existenzberechtigung haben sollten (Kröner-Herwig 2013).
Folgende Kriterien wurden von der »Task Force« der IASP vorgeschlagen:
• Therapeuten: umfangreiche professionelle Kenntnis, um der Diagnostik und Therapie der bio-psycho-sozialen Anforderungen chronischer Schmerzen gerecht zu werden
• Team: mind. zwei Ärzte (und/oder ein/e Psychiater/in), klinische/r Psychologe/in, Physiotherapeut/in, weitere (je nach Ausrichtung des Zentrums)
• Regelmäßige Besprechungen
• Organisation durch einen Zentrumsleiter
• Umfassende diagnostische und therapeutische Optionen: physikalisch-medizinisch, psychosozial, pflegerisch, physiotherapeutisch/ergotherapeutisch/sozialmedizinisch, je nach Ausrichtung weitere.
Erste interdisziplinär und multimodal arbeitende Schmerzklinik in Mainz
In Deutschland wurden diese grundsätzlichen Überlegungen mit der Gründung der ersten interdisziplinär und multimodal arbeitenden Schmerzklinik in Mainz im Jahr 1970 zunächst mit sog. »Streubetten« in anderen Fachabteilungen umgesetzt. Wie schon in den Anfängen Bonicas war auch hier die Umsetzung des multimodalen Konzeptes von zahlreichen organisatorischen und strukturellen Herausforderungen begleitet. Von besonderer Bedeutung war die Einführung qualitätssichernder und standardisierter Vorgehensweisen, z. B. bzgl. der Anamnese- und Untersuchungsverfahren und der Entwicklung eines Schmerzfragebogens als Screeninginstrument, in dem bio-psycho-soziale Faktoren detailliert erfragt wurden. Zusätzlich wurden Schmerzkonferenzen etabliert, die schon zu diesem Zeitpunkt als besonders wertvoll für die Weiterbildung erachtet wurden, denen allerdings für die Gesamtpatientenversorgung eine nur limitierte Bedeutung beigemessen wurde (Gerbershagen 2003).
Die Probleme der Etablierung eines multi- bzw. interdisziplinären Settings im ambulanten Bereich glichen vielfach den heutigen: oft wurden chronifizierungsgefährdete oder bereits chronifizierte Patienten nicht zeitgerecht zu Schmerzspezialisten überwiesen. Oft fehlten im Falle einer Überweisung wichtige und insbesondere den psychologischen und psychosozialen Teil betreffende Informationen zur bisherigen Behandlung. Die hinzugezogenen fachärztlichen Kollegen untersuchten meist fachspezifisch und ohne einen schmerzmedizinischen Überblick zu haben. Psychologen waren mangels Informationen zu den somatischen Diagnosen auf die eigene Diagnostik fokussiert. So kam es daher beiderseits zu einer Fehlinterpretation und Überbewertung der jeweiligen Seite. Und schließlich war auch damals wie heute eine interdisziplinäre Vorgehensweise in Schmerzpraxen durch fehlende Abrechnungsmöglichkeiten erschwert.
Bis zur Jahrtausendwende wurden von Gerbershagen bereits zahlreiche Kriterien für Struktur-, Leistungs- und Ergebnisqualität in der Schmerztherapie erarbeitet und schrittweise umgesetzt (Gerbershagen 1986). Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahren entwickelten sich schließlich die ersten erfolgreichen und evidenzbasierten Behandlungsprogramme für chronische Schmerzerkrankungen, insbesondere auf Basis der sog. »functional restoration«, z. B. das functional restoration-Programm von Mayer und Gatchel (Kinney et al. 1991, Mayer und Gatchel 1988) in den USA und das Göttinger Rücken-Intensivprogramm (GRIP) (Hildebrandt et al. 1996) in Deutschland. Diese Programme bildeten die Grundlage für die internationale Entwicklung von multimodalen Programmen und Studien. Zusätzlich wurde neben medizinischen und physiotherapeutischen Elementen die kognitive Verhaltenstherapie als Komponente der multimodalen Therapie chronischer Schmerzen erkannt und etabliert (Gatchel 2003, Morley et al. 1999).
Trotz der sehr positiven Entwicklung bestanden auch zu diesem Zeitpunkt weiterhin Probleme bzgl. der Validierung von Struktur und Qualität sowie der Anerkennung und Finanzierung der interdisziplinären multimodalen Therapie in den USA und in Deutschland (Gatchel et al. 2014, Kaiser et al. 2015).
2.3 Kurzer Überblick über die interdisziplinären Therapien von der Jahrtausendwende bis heute
Die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit einer interdisziplinären multimodalen Vorgehensweise für chronische nicht-tumorbedingte Schmerzerkrankungen wurde bis heute in zahlreichen Publikationen und Reviews bestätigt (z. B. Flor et al. 1992, Gatchel et al. 2014, Kaiser et al. 2013). Für tatsächlich interdisziplinär durchgeführte Programme (
Kap. 3.2) konnte eine längerfristige Wirksamkeit (Oslund et al. 2009, Scascighini et al. 2008) mit positiven Langzeiteffekten für Schmerzlinderung, Funktionalität und psychosozialem Beeinträchtigungserleben festgestellt werden. Auch eine anhaltende Kosteneffizienz (Ektor-Andersen et al. 2008), besonders bei einer frühzeitigen Behandlung (Kronborg et al. 2009), mit Reduktion von Akutbehandlungen, von Arztbesuchen (Clare et al. 2019), der Medikamenteneinnahme und einer Reduktion von Arbeitsunfähigkeitszeiten konnten vielfach gezeigt werden. Die Effektivität von interdisziplinären gegenüber weniger strukturierten bzw. schlechter koordinierten multidisziplinären oder rehabilitativen Programmen und gegenüber Einzelinterventionen wurde ebenfalls in verschiedenen Studien aufgeführt (Scascighini et al. 2008, Weiner and Nordin 2010). Insbesondere Guzman et al. weist in seiner bis heute viel zitierten Arbeit (Guzman et al. 2001) auf die Notwendigkeit einer bei chronifizierten Patienten mindestens 100-stündigen Intervention im multidisziplinären Setting hin, um einen klinisch relevanten Effekt bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen zu erzielen. Die teamintegrierte Anwendung einer Kombination aus medizinischen, physiotherapeutischen und psychosozialen Verfahren wird in allen genannten Arbeiten als Behandlungsgrundlage dargestellt (Gatchel et al. 2014). Schließlich wurden in Deutschland in den Jahren 2009 bis heute die Grundlagen für eine Standardisierung und Definition der multimodalen Schmerztherapie, der Indikationsstellung und der strukturellen Erfordernisse seitens der Ad-hoc-Kommission »Interdisziplinäre Multimodale Schmerztherapie« der Deutschen Schmerzgesellschaft e. V. umfassend ausgearbeitet (Arnold et al. 2014, Arnold et al. 2009, Arnold et al. 2012, Casser et al. 2013). In einem über Jahre dauernden Konsensprozess einigten sich alle deutschen Schmerzfachgesellschaften schließlich 2016 auf eine Klassifikation schmerztherapeutischer Einrichtungen mit Kriterien für Struktur- und Prozessqualität (Muller-Schwefe et al. 2016).
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