Multimodalität als mehrdimensionale, aufeinander abgestimmte Vorgehensweise
Im Falle eines Risikos für eine Chronifizierung, z. B. im Zusammenhang mit einem operativen Eingriff (Fletcher et al. 2015) oder bei ersten Hinweisen auf bestehende Risikofaktoren (z. B. sog. yellow flags,
Kap. 3.1), sollten (haus-)ärztlicherseits erweitere Beratungsmaßnahmen unter Einbeziehung möglicher psychosozialer Risikofaktoren und eine leitliniengerechte Versorgung erfolgen (z. B. Bundesärztekammer (BÄK) et al. 2017). Die größte Zahl der aktuellen Untersuchungen zu dieser Thematik konzentriert sich auf Rückenschmerzen. Die Validität der verfügbaren Parameter zur Objektivierung und Vorhersage einer potenziellen Chronifizierung ist umstritten (Karran et al. 2017). Daher werden einerseits die bislang verwendeten Messinstrumente (Donath et al. 2018, Kaiser et al. 2018, Wippert et al. 2017) und andererseits präventive multimodale therapeutische Maßnahmen, die einer Chronifizierung zu einem frühen Zeitpunkt vorbeugen können, aktuell überprüft (Fancourt and Steptoe 2018, Steffens et al. 2016). Dennoch werden schon heute multimodale teamintegrierte Verfahren im Bereich der Primärversorgung zur Prävention einer Chronifizierung empfohlen und auch eingesetzt (Arnold et al. 2009, Marin et al. 2017, Seal et al. 2017).
Bei manifesten Hinweisen für eine Chronifizierung sollen die therapeutischen Verfahren im Sinne einer multimodalen Vorgehensweise definitiv angepasst werden. Bei weiterbestehenden Risikofaktoren trotz leitliniengerechter Therapie (Bundesärztekammer (BÄK) et al. 2017) oder bei bereits manifester Schmerzchronifizierung sollen die komplexen Wechselwirkungen biomedizinischer, psychologischer und sozialer Einflussfaktoren ganzheitlich, d. h. unter Berücksichtigung aller Belange der Schmerzerkrankung, diagnostiziert und entsprechend des individuellen Belastungsausmaßes multimodal behandelt werden (Casser and Nagel 2016). Für die multimodale Therapie ist das enge Zusammenspiel eines interprofessionellen Teams mit speziell geschulter ärztlicher, physiotherapeutischer, psychologischer, pflegerischer und co-therapeutischer Kompetenz grundlegend, um den unterschiedlichen diagnostischen und therapeutischen Herausforderungen gerecht werden zu können (Kaiser et al. 2015). Eine längerfristige Verbesserung von Lebensqualität, Funktionalität und Schmerz soll so erzielt werden. Die zugehörige erweiterte Diagnostik findet in Deutschland im Rahmen einer standardisierten interdisziplinären algesiologischen Diagnostik (sog. Assessment, OPS 1-910) statt (Casser et al. 2013;
Kap. 5.4). Sie dient als ergebnisoffenes Verfahren u. a. zur Beurteilung, ob eine interdisziplinäre multimodale Therapie erfolgen soll. Sowohl diagnostisch als auch therapeutisch vorgegeben und unerlässlich sind dabei regelmäßige interprofessionelle Teambesprechungen mit Abstimmung des sich anschließenden Vorgehens (Arnold et al. 2009).
Interprofessionelle multimodale Vorgehensweise: hauptsächlich tagesstationär und stationär
Die Art, wie multimodale Therapie realisiert wird, richtet sich nach den beteiligten Disziplinen im Team und deren therapeutischer Ausrichtung. Im ärztlichen Bereich variieren die diagnostischen und therapeutischen Dimensionen facharztspezifisch von rein konservativen, medikamentös fokussierten über interventionelle bis zu operativen Ansätzen. Diese werden oft mit bewegungstherapeutischen und psychotherapeutischen Ansätzen kombiniert, die ebenfalls verschiedene Schwerpunkte aufweisen. Eine solche kooperative Behandlung wird im ambulanten Setting mit Hilfe von ärztlichen Verordnungen umgesetzt.
Ein umfassender und teamintegrierter multimodaler Ansatz ist in der ambulanten Regelversorgung chronisch schmerzkranker Patienten aktuell nicht abgebildet (Thoma 2018) bzw. nur im Rahmen einiger integrierter Versorgungsprogramme für wenige chronische Schmerzerkrankungen umsetzbar. Zum jetzigen Zeitpunkt beruht die Umsetzung einer multimodalen Vorgehensweise mit »gleichzeitige[r], inhaltlich, zeitlich und in der Vorgehensweise aufeinander abgestimmte[r] umfassende[r] Behandlung von Patienten mit chronifizierten Schmerzsyndromen« (Arnold et al. 2009, S. 112) auf (tages-)stationären Krankenhausbehandlungen. Weiterentwicklungen multimodaler teamintegrierter Verfahren im ambulanten Rahmen sind aktuell in Vorbereitung (Kassenärztliche Bundesvereinigung 2019, Pfingsten et al. 2019).
Die multimodale Vorgehensweise unterliegt den Vorgaben des OPS und orientiert sich an Empfehlungen der Deutschen Schmerzgesellschaft e. V.
Multimodale Therapieverfahren für chronische Schmerzerkrankungen unterliegen in Deutschland den OPS-Kriterien (Operationen- und Prozedurenschlüssel gem. deutscher Modifikation der Internationalen Klassifikation der Prozeduren in der Medizin [ICPM]) und orientieren sich an den Empfehlungen der Ad-hoc-Kommission »Interdisziplinäre Multimodale Schmerztherapie« der Deutschen Schmerzgesellschaft e. V. (Arnold et al. 2014, Arnold et al. 2009). Allerdings variieren die Angaben zu den Einzelkomponenten, die für eine erfolgreiche multimodale Therapie erforderlich sind, immer noch stark (Kaiser et al. 2017). Dabei werden Unterschiede in Hinblick auf die Struktur, den zeitlichen und personellen Rahmen und letztlich die dadurch erreichbaren Ziele deutlich. Auch standardisierte, abgestufte und ggf. krankheitsspezifische multimodale Konzepte, die den unterschiedlichen Chronifizierungsstadien und Bedürfnissen der Patienten Rechnung tragen, müssen noch detailliert erarbeitet werden (Gerdle et al. 2019, Kamper et al. 2015, Waterschoot et al. 2014).
Letztlich ist multimodale Schmerztherapie kein geschützter Begriff. Dies hat zur Folge, dass auch heute noch rein biomedizinisch fokussierte Kombinationstherapien als multimodal bezeichnet und als solche wahrgenommen werden, z. B. »multimodale Analgesie«. Der Bezug zu chronischen Schmerzen als multifaktorielles Geschehen geht bei einer solchen Vorgehensweise jedoch sowohl therapeutisch als auch hinsichtlich ihrer Effektivität und Nachhaltigkeit verloren. Die Effekte der multimodalen Therapie im eigentlichen Sinne, d. h. einer multidimensionalen Vorgehensweise, sind dagegen auch langfristig betrachtet unbestritten (Gatchel et al. 2014, Zhuk et al. 2018).
2.2 Entstehung und Entwicklung interdisziplinärer multimodaler Behandlungskonzepte
Schon Bonica war davon überzeugt, dass »deutlich mehr Forschung notwendig ist […] und dass das Verständnis für relevante Schmerzsyndrome eine multidisziplinäre/interdisziplinäre Anstrengung eines Teams von sowohl Wissenschaftlern als auch Klinikern erfordert, die ihre individuellen Kenntnisse und Fertigkeiten zu Studien beitragen.« (Bonica 1990, S. 370; Übersetzung Kieselbach). Obwohl Bonica weiterhin intensiv in Wissenschaft und Lehre über die multi-/interdisziplinäre Vorgehensweise berichtete, wurde sein Konzept der Interdisziplinarität über fast zwei Dekaden hinweg ignoriert (Bonica 1990). Es fehlte das Verständnis dafür, dass es sich bei chronischem Schmerz meist um eine komplexe eigenständige bio-psycho-soziale Erkrankung handelt, die ein ebenso komplexes therapeutisches Vorgehen erfordert. Auch Gerbershagen, der Gründer der ersten Schmerzklinik in Deutschland, wies später auf diese Problematik hin (Gerbershagen 2003, S. 304): »Allerdings verstanden die Schmerzspezialisten selten die Bedeutung der Gleichzeitigkeit und der Gleichwertigkeit der somatischen, psychischen und sozialen Bedingungsfaktoren in der Diagnostik und Therapie des chronischen Schmerzes und sicher nicht, dass alle bestehenden Schmerzbilder gleichzeitig behandelt werden müssen, wenn zufriedenstellende Langzeitergebnisse erzielt werden sollen.« Erst das steigende Interesse am Phänomen Schmerz Anfang der 1970er Jahre führte zu einem erheblichen Zuwachs an interdisziplinären Einrichtungen zur Schmerzversorgung.
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