Den Kreis im Blick behalten
Wenn unsere Fähigkeit, ruhig und selbstsicher auf unsere Kinder einzugehen, von einem aufreibenden Alltag eingeschränkt wird, was ja sehr oft der Fall ist, sind wir nur allzu leicht vom gegenwärtigen Moment abgelenkt und sehen nicht, was das Kind gerade von uns braucht. Vielleicht will es eine Weile im Arm gehalten und getröstet werden? Oder seiner Fantasie und Lebenslust folgen und hinausgehen, um die Welt zu erkunden, in dem Vertrauen, dass jemand da ist und auf es wartet, falls es Angst bekommt? Während wir hastig versuchen, zehntausend Dinge auf einmal zu erledigen und dabei noch „gute“ Eltern zu sein, fragen wir uns manchmal: „Warum braucht mein Sohn gerade jetzt Trost?“ oder: „ Warum rennt meine Tochter herum wie von der Tarantel gestochen, wenn es Zeit ist, ins Bett zu gehen?“ Selbstverständlich ist es sinnvoll, sich zu fragen, was hinter bestimmten Bedürfnissen steckt, damit wir das zugrunde liegende Problem lösen können. Aber zuerst müssen wir herausfinden, was das eigentliche Bedürfnis ist. Dazu können wir uns den Kreis der Sicherheit, vollständig dargestellt in Kapitel 3, einprägen, sodass wir ihn abrufen können, wann immer wir verwirrt sind und nicht wissen, was unser Kind gerade will. Wenn wir das Bedürfnis unseres Kindes anerkennen und akzeptieren, können wir unser Kind in seiner Einzigartigkeit besser verstehen.
Mit-Sein: Sich auf die Gefühle und Bedürfnisse des Kindes einstimmen
Bei vielen Menschen führt der Druck, „es richtig zu machen“, dazu, dass sie permanent etwas tun, ob sie nun die neuesten Erziehungstipps lesen, nach der besten Schule suchen oder das Verhalten der Kinder managen. Das Gegenmittel dazu, sich auf diese Weise hauptsächlich auf die Zukunft zu konzentrieren („Was braucht mein Kind, um später erfolgreich zu sein?“), ist das, was wir Mit-Sein nennen („Was braucht mein Kind jetzt gerade? “). Es ist ein Zustand der feinfühligen Einstimmung, in dem wir an der emotionalen Erfahrung unseres Kindes teilhaben (ohne sie aber völlig zu übernehmen), ihm helfen, schwierige Gefühle zu verstehen und zu regulieren, und bei ihm sind, während es sie durchlebt. Mit-Sein bedeutet, die Ruhe zu bewahren – und nicht zu versuchen, etwas an der Erfahrung des Kindes zu ändern, sondern sie stattdessen anzunehmen und ihm zu zeigen, dass wir bei ihm sind, als ein Mensch, der manchmal ganz ähnliche Gefühle erlebt. Mit-Sein erfordert einige Übung von uns leistungsorientierten Menschen, aber es trägt viel dazu bei, eine sichere Bindung zu entwickeln. Kapitel 4 ist diesem Thema gewidmet.
Die Hände auf dem Kreis halten: Feinfühlig auf das Kind eingehen, aber auch die Führung übernehmen
Tatsächlich schließen sich diese beiden Dinge nicht aus. Eine der wichtigsten „Regeln“ im Kreis der Sicherheit lautet: Wann immer möglich, folgen Sie den Bedürfnissen Ihres Kindes; wann immer notwendig, übernehmen Sie die Führung. Um herauszufinden, welche Reaktion jeweils die beste ist, müssen wir mit dem Kind sein und uns zugleich auch daran erinnern, dass wir als Eltern größer, stärker, weiser und stets gütig sein sollten. Zuallererst sind wir Eltern, nicht Freunde. Wenn wir die Führung übernehmen und unseren Kindern helfen, einen Weg durch ihre momentanen Schwierigkeiten zu finden, können sie besser mit unangenehmen Gefühlen umgehen. Wenn wir den Kindern vertrauen und sie ermutigen, können Probleme gemeinsam gelöst werden. Mit der Karte des Kreises der Sicherheit fällt es uns leichter, die Bedürfnisse unseres Kindes zu erahnen, und wenn wir durch Mit-Sein gut auf sie eingestimmt sind, erkennen wir eher, an welcher Stelle des Kreises das Kind sich befindet. Das Thema „Mit-Sein“ und die Frage, was es heißt, größer, stärker, weiser und gütig zu sein, stehen in Kapitel 4 im Vordergrund.
Unser eigenes Gepäck sortieren
Eine der wichtigsten Entdeckungen, die wir in unserer Arbeit gemacht haben, ist, dass viele Eltern Schwierigkeiten damit haben, bestimmte Bedürfnisse auf dem Kreis zu erkennen und auf sie einzugehen. Oft sind sie sich ihrer eigenen Reaktionen gar nicht bewusst, weil diese Reaktionen ihre Wurzeln in der eigenen Kindheit und den eigenen Bindungserfahrungen haben. Damit wollen wir nicht etwa andeuten, dass an allem, was Sie tun, Ihre Eltern die Schuld tragen. Vielmehr haben wir an uns selbst festgestellt, dass der Versuch, den Bindungsstil unserer eigenen Eltern zu verstehen, uns ermöglicht hat, mehr Empathie und Mitgefühl für sie und die Schwierigkeiten, mit denen sie zu tun hatten, zu entwickeln. Fühlen Sie sich womöglich deswegen dazu angetrieben, das „perfekte“ Kind großzuziehen, weil Ihre Eltern so viel Wert auf Perfektionismus gelegt haben? Kommen unangenehme Gefühle in Ihnen auf, wenn Ihr Kind auf mehr Unabhängigkeit drängt, weil Ihre eigenen Eltern es gar nicht zu mögen schienen, wenn Sie zu weit von ihrer Seite wichen, als Sie noch klein waren? Wie tief Sie bei der Erforschung Ihres eigenen Bindungsstils gehen wollen, bleibt natürlich Ihnen überlassen. In Kapitel 5 finden Sie eine Einführung dazu, wie Ihr Bindungsstil hinter den Kulissen die Fäden Ihres eigenen Elternseins zieht. In Kapitel 6 erfahren Sie dann etwas darüber, wie wir diese Botschaften in Bezug auf bestimmte Bedürfnisse an unsere Kinder weitergeben und wie diese mit uns kooperieren, indem sie jene Bedürfnisse vermeiden, die uns unangenehm sind, und auf diese Weise dafür sorgen, dass wir weniger ängstlich und mehr für sie da sind. Wenn wir verstehen, wie unsere Kinder mit ihrem Verhalten versuchen, Bedürfnisse vor uns zu verstecken, die uns unangenehm sind, kann uns das dabei helfen, unsere verdeckten Botschaften zu überschreiben und die sichere Bindung zu entwickeln, die wir uns wünschen.
Alles Gute auf Ihrem Weg zu einer sicheren Bindung
Wir schreiben dieses Buch, weil wir aus erster Hand wissen, warum Bindung eine so wichtige Rolle spielt. Diese Erkenntnisse stammen zum einen aus jahrzehntelanger klinischer Arbeit mit Erwachsenen, in der es für unsere Klienten entscheidend war, immer wieder auf die zentralen Überzeugungen zurückzukommen, die sie in Bezug auf sich selbst und andere während ihrer frühen Jahre gebildet hatten, und diese nach und nach zu verändern.
Aber es wird noch ein bisschen persönlicher. Als Begründer des Kreises der Sicherheit haben wir uns auch nach unseren eigenen Bindungserfahrungen gefragt, sowie danach, wie sie sich auf unser jeweiliges Leben auswirken. Wie sich dabei herausstellte, kommen wir alle aus Familien, die mal mehr, mal weniger mit genau den gleichen Themen zu tun hatten, die wir heute Eltern verständlicher machen wollen. Das bedeutet, dass diese Arbeit in weiten Teilen auch auf persönlichen Erfahrungen beruht, da wir stets versuchten, aktuelle Forschungsergebnisse in einen Zusammenhang zu bringen mit unserem eigenen Verständnis davon, wie wesentlich eine gesunde Bindung ist.
Wie Sie während der Lektüre dieses Buches immer wieder feststellen werden, liegt der Fokus darauf, wie bereichernd und wertvoll eine sichere Bindung ist: Diese Fähigkeit, die innerhalb einer bestimmten Art von Beziehung erlernt wird, ermöglicht uns, Freude zu empfinden, wenn uns gute Dinge widerfahren, und Resilienz zu entwickeln, wenn wir es mit schwierigen Situationen zu tun haben. Bindungssicherheit lohnt sich sehr: Ist sie gefestigt, schenkt sie uns ein tiefes Vertrauen und ermöglicht uns in emotionaler, intellektueller und zwischenmenschlicher Hinsicht ein gelingendes Leben und damit ein beständiges Gefühl der Erfüllung.
Das ist die gute Nachricht, die Sie auf den folgenden Seiten erwartet. Eine schlechte Nachricht gibt es nicht, was aber nicht bedeutet, dass der Weg zu einer sicheren Bindung immer glatt und geradlinig verläuft. In den Anfängen unserer Beschäftigung mit der Bindungsforschung erschien es uns sogar oft als äußert schwierige Angelegenheit, wenn uns klar wurde, was für eine sichere Bindung notwendig ist und was in unserer eigenen Kindheit wohl gefehlt hat. Diese Erkenntnisse können zunächst ziemlich hart sein, doch uns führten sie schließlich zu der Einsicht, dass unsere eigenen Eltern ihr Bestes taten, allerdings nicht in der Lage waren zu erkennen, was nicht gut funktionierte und wie ein effektiverer Weg hätte aussehen können. Mit diesem Buch wollen wir nun Ihnen helfen zu erkennen, was bei Ihnen gut funktioniert und an welchen Stellen Sie vielleicht wirklich Schwierigkeiten haben, ausreichend gute Eltern zu sein. Wir hoffen, dass Sie es als eine haltende Umgebung empfinden werden, während Sie Ihren eigenen Weg gehen.
Читать дальше