Oft schränkt unsere Geschichte unseren Blick ein
Manchmal machen uns die Lektionen, die wir in unserer Kindheit gelernt haben, blind dafür, was unsere Kinder brauchen, und das selbst dann, wenn wir zur Orientierung eine Karte wie den Kreis der Sicherheit haben. Wenn wir in unserer eigenen Kindheit nicht das Glück einer sicheren Bindung hatten, kann es besonders wichtig, aber auch besonders schwierig sein, uns im Hinblick auf unser pädagogisches Verhalten zu öffnen. Haben Sie in der Intimität Erfüllung gesucht, aber nicht wirklich gefunden? Haben Sie das Gefühl, dass Sie immer irgendetwas davon abhält, die Art von Leben zu führen, die Sie sich erhofft haben? Natürlich wäre es eine grobe Verallgemeinerung, zu sagen, dass eine unsichere Bindung hinter allem steht, womit Sie unzufrieden sind, aber Bindung hat einen solch starken Effekt auf jeden Aspekt unseres Lebens, dass Unsicherheit in der frühen Kindheit bei den Enttäuschungen, die wir als Erwachsene erleben, durchaus eine Rolle spielen kann. Dieses Buch lädt Sie dazu ein, Ihren eigenen Bindungsstil und dessen Auswirkungen auf Ihr Leben zu erforschen.
Perfektes Kind → perfekte Eltern?
Eine häufige Nebenwirkung von perfektionistischer Erziehung ist der Wunsch nach dem perfekten Kind. Dieses Phänomen steht mit einem bestimmten Bindungsstil in Zusammenhang und wird durch implizite Erinnerungen an die Bindung an unsere Eltern angetrieben, die wir nun in unsere eigene Elternschaft hineintragen. Wie jene Erinnerungen zu unserem Vermächtnis werden, wenn wir uns nicht bewusst sind, wie sie im Hintergrund unserer Elternschaft die Fäden ziehen, werden wir in Kapitel 5 noch ausführlicher besprechen. Doch das Muster des perfekten Kindes sehen wir, wohin wir auch blicken. Wenn man die Reaktionen auf Amy Chuas Buch Battle Hymn of the Tiger Mother aus dem Jahr 2011 betrachtet, wird einem klar, mit welcher Ernsthaftigkeit viele Eltern in den Erfolgen ihres Kindes eine Reflexion davon sehen, wie gut sie ihre „Aufgabe“ als Eltern gemacht haben. Das Buch war ursprünglich als Kommentar zu unserer Kultur gedacht, wurde dann aber zum Gegenstand einer hitzigen Debatte darüber, ob es richtig ist, wenn wir als Eltern Perfektion von unseren Kindern verlangen. Die Vorstellung, dass ein erfolgreiches Kind mit erfolgreichen Eltern gleichbedeutend ist (egal, ob es um die Manieren des Kindes, seine sportlichen Leistungen, seine Intelligenz oder seine äußere Erscheinung geht), ist weitaus verbreiteter – und augenscheinlich überzeugender –, als wir es uns oft eingestehen wollen.
Dann gibt es da noch den Impuls, unsere Kinder als etwas „Besonderes“ zu betrachten. Auch er steht mit einem bestimmten Bindungsstil im Zusammenhang, der in Kapitel 5 erläutert wird. Er kann sich, wie in Kapitel 1 erwähnt, darin ausdrücken, dass wir jedem Gefühl des Kindes absoluten Vorrang einräumen, weil wir annehmen, unser Kind sei nicht imstande, Frustration oder Ärger auszuhalten. Wir werden noch ausführlicher darauf eingehen, wie unsere Versuche, unsere Kinder übermäßig zu beschützen und ihnen möglichst alle Schwierigkeiten und Probleme aus dem Weg zu räumen, sie der Fähigkeiten berauben, die sie brauchen, um Resilienz zu entwickeln. Dabei handelt es sich um eine Reihe von Fähigkeiten, die nur im Kontext gemeinsamer Problemlösung und verständnisvoller Unterstützung und unter nicht idealen Umständen gelernt werden können. Dieser Impuls kann sich aber auch darin ausdrücken, dass wir das Kind überschätzen und glauben, es sei außergewöhnlich begabt und seinen Altersgenossen überlegen. Wie in Kapitel 1 erwähnt, stärkt es nicht das Selbstwertgefühl eines Kindes, wenn man ihm sagt, es sei besser als die anderen; stattdessen verstärkt es seine narzisstischen Tendenzen. Eine sichere Bindung, die auf dem Vertrauen des Kindes in die Liebe der Eltern beruht, stärkt sein Selbstwertgefühl.
Natürlich besteht eine der drängendsten Sorgen von Eltern darin, dass ihre Kinder „zurückbleiben“ könnten. Zwar wüssten viele von uns noch nicht einmal, wie sie die Frage „Hinter was zurückbleiben?“ beantworten sollten, doch hält uns die vage Vorstellung, ein wichtiges Ziel verfehlt zu haben, wenn wir unsere Kinder nicht antreiben, in dieser Sorge gefangen. Oft dreht sich diese Sorge um die kognitive Entwicklung. Werden unsere Kinder intelligent und gebildet genug sein und ausreichend gute Leistungen in der Schule erbringen, um später da anzugelangen, wo sie hinwollen (oder wo wir sie gerne sähen)? Die Debatte darüber, worauf in der Früherziehung besonders Wert gelegt werden sollte, tobt weiter: auf die soziale Entwicklung, die emotionale Intelligenz, die Fantasie und die Kreativität oder die intellektuellen Fähigkeiten? In den Vereinigten Staaten konzentrieren wir uns noch immer hauptsächlich auf Letzteres, und das, obwohl die Länder, die wir auf dem Marktplatz der Erwachsenen als unsere größten Konkurrenten ansehen, in den ersten Schuljahren eher das Spielen und die sozialen Interaktionen als wichtig erachten – und deren Kinder in den höheren Klassen bessere kognitive und sonstige Leistungen erbringen. In diesen Ländern wird die Bedeutung des Spiels für die kognitive, soziale und emotionale Entwicklung von Kindern erkannt. Betrachten Sie die Beziehung zu Ihrem Kind als dessen ersten Spielplatz: ein Platz, an dem es die Welt erforschen kann, sicher und ohne jene Einschränkungen, die durch Angst oder das Ausklammern von bestimmten Gefühlen entstehen.
Die Sorge um die kognitiven Fähigkeiten unserer Kinder ist normal, aber sie ist auch symptomatisch dafür, dass man sich auf den Horizont in der Ferne konzentriert anstatt auf das, was jetzt und hier in diesem Augenblick passiert. Für ganz kleine Kinder ist das Hier und Jetzt das Einzige, was es gibt, und sind sie vollauf damit beschäftigt. Die in diesem Buch besprochenen Themen haben viel mit genau dieser Frage zu tun: Wie können Eltern der emotionalen Sicherheit Priorität einräumen und nach dem Spruch „Jetzt gut, immer gut“ 7 ihren Kindern das geben, was sie brauchen? Hier ist eine kurze Faustregel: Je mehr sich die Kinder in ihren primären Beziehungen zu Beginn ihres Lebens sicher und geborgen fühlen, desto entspannter und resilienter werden sie sein, wenn sie sich später im Leben verschiedenen Herausforderungen und Gelegenheiten gegenübersehen.
Wie ermöglichen wir unseren Kindern also eine sichere Bindung?
Die gute Nachricht für Eltern ist, dass Elternschaft nicht kompliziert sein muss. Wenn wir uns an unseren (bereits tief in uns angelegten) Fähigkeiten orientieren, können wir die sogenannte Aufgabe des Elternseins viel eher als das Geschenk beziehungsweise Privileg angehen, das es in Wirklichkeit ist. Und wenn wir dem authentischen Wunsch vertrauen, unseren Kindern das zu geben, was für sie am besten ist, sowie der enormen Fähigkeit der Kinder, genau das aus uns hervorzuholen, kann das Elternsein fast schon zum Kinderspiel werden.
Sie wissen vermutlich inzwischen, dass wir hier nicht von einer Art Einfachheit nach dem Motto „Schlafe aus, fühle dich nie überfordert, Elternsein ist so leicht wie eine Sommerbrise“ sprechen. Vielmehr wollen wir sagen, dass die „harte Arbeit“ des Elternseins zu etwas viel Angenehmerem wird, wenn wir als Eltern erst einmal unseren positiven Absichten vertrauen und über ein einfaches visuelles Bild verfügen, das uns ermöglicht, die Bedürfnisse unseres Kindes in eine klare und verständliche Landkarte zu übersetzen.
Erinnern Sie sich an Lei und ihren Vater aus Kapitel 1. Denken Sie an Baby Sophie und seine Mutter. In jenen einfachen, natürlichen Interaktionen können Sie den ursprünglichen Instinkt des Kindes erkennen, nach Fürsorge zu suchen, und den in ähnlicher Art und Weise angeborenen Instinkt der Eltern, Fürsorge zu geben. Obgleich es in den ersten Tagen und Wochen eines Babys nicht so offensichtlich ist, kann man bereits kurze Zeit nach der Geburt sehen, wie das Kind anfängt, die Welt zu erkunden. Oder gehen Sie auf einen beliebigen Spielplatz, und Sie werden dort den gleichen Austausch beobachten können, der zwischen Lei und ihrem Vater stattfand: Lei möchte loslaufen, um ihre Welt und ihre Fähigkeit, mit ihr zu interagieren, zu erkunden; ihr Vater ist da, um ihr das zu ermöglichen. Und das ist Sophie fünf Monate später:
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