1 ...7 8 9 11 12 13 ...22 Stress und Gesundheit
Der menschliche Körper ist mit einem brillanten System zum Umgang mit Bedrohungen ausgestattet. Allerdings haben wir meist keine Kontrolle über die Art der Bedrohungen, denen wir uns gegenüber sehen: ständige Sorgen um die finanzielle Situation, Familienkonflikte, das Leben in einer gefährlichen Umgebung oder, im Falle eines Kindes, die allgemeine An- oder Abwesenheit einer feinfühligen, zugänglichen Bezugsperson – und dadurch entsteht Stress. Eine wahrgenommene Bedrohung löst eine komplexe Reihe neurochemischer Prozesse aus, in die auch das Stresshormon Cortisol involviert ist. Die Hauptaufgabe des Cortisols ist es, den Körper nach dem stressigen Ereignis in einen Zustand des Gleichgewichts und der Stabilität (Homöostase) zurückzubringen. Das Problem ist, dass sich das Cortisol bei der Regulation verschiedener von Stress beeinflusster Systeme, hauptsächlich des Stoffwechsels, nebenbei auch auf andere Systeme auswirkt, allen voran auf das Immunsystem. Die Aufgabe des Cortisols besteht darin, dem Körper zu signalisieren, dass er mit dem Kämpfen aufhören und in einen stabilen Zustand zurückkehren soll; es hat auch eine dämpfende Wirkung auf das Immunsystem und macht den Körper damit anfälliger für Krankheiten. Das ist einer der Gründe dafür, dass Menschen, die unter chronischem Stress leiden, häufiger krank werden als andere. Unglücklicherweise werden durch wiederholte Episoden von akutem Stress und auch durch chronischen Stress übermäßige Mengen an Cortisol freigesetzt – das kann das Gedächtnis und die kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigen und sogar für eine Zunahme von Bauchfett sorgen, was wiederum ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko nach sich zieht. Babys, deren Bindungsbedürfnisse nicht erfüllt werden, beginnen ihr Leben also unter schlechteren geistigen wie körperlichen gesundheitlichen Bedingungen.
Als Erwachsene haben wir oft keinen Begriff mehr davon, wie stressig solch profane Probleme für ein Kind sein können, doch bei einem Baby kann jedes unerfüllte Bedürfnis zu einem Anstieg des Cortisolspiegels führen – und damit zu einer Erweiterung des schwarzen Lochs. Glücklicherweise gibt es ein Gegenmittel: die Geborgenheit, die es bei der Mutter oder dem Vater erlebt. In Laborstudien konnte gezeigt werden, dass der Cortisolspiegel von Babys sinkt, wenn sie in einer stressigen Situation auf den Arm genommen und gehalten werden.
In der Studie aus Minnesota untersuchten L. Alan Sroufe, Byron Egeland, Elizabeth A. Carlson und W. Andrew Collins die Entwicklung von 180 Kindern vom letzten Schwangerschaftstrimester bis ins Erwachsenenalter und stellten fest, dass eine sichere Bindung am Anfang des Lebens einen nachweisbaren Schutz vor den verheerenden Auswirkungen von Stress während der gesamten untersuchten Zeitspanne darstellte.
Außerdem fanden sie Zusammenhänge zwischen Unsicherheit und späteren psychischen Problemen. Sicherheit zu geben bedeutet, einen sicheren Hafen der Geborgenheit und eine sichere Basis für Erkundung zu bieten, je nachdem, was gebraucht wird. In der zuvor beschriebenen Szene konnten wir sehen, wie Leis Vater seiner Tochter beides gab. In der Minnesota-Studie zeigten Kinder, deren Eltern ihnen keine emotionale Geborgenheit geben konnten, mehr Störungen des Sozialverhaltens in der Adoleszenz, und Kinder, die von ihren Eltern am Erkunden gehindert wurden, litten als Jugendliche mit größerer Wahrscheinlichkeit unter Angststörungen. Die Studie fand zudem einen Zusammenhang (wenn auch keinen ganz so deutlichen) zwischen diesen zwei Arten von Unsicherheit und Depressionen – die Kinder fühlten sich entweder hoffnungslos und entfremdet oder hilflos und ängstlich.
Der Weg der Entwicklung ist voller Aufgaben, die Ihr Baby bewältigen muss, Fertigkeiten, die es zu lernen, und Fähigkeiten, die es zu entwickeln gilt. Und wie sie sehen werden, spielt Bindung bei vielen davon eine entscheidende Rolle.
Lernen, Gefühle zu regulieren
Ihr Wonneproppen mag Ihnen während der ersten Monate oftmals gar nicht so wonnevoll vorkommen. Experten der Entwicklungspsychologie sind sich weitgehend einig, dass ein zuverlässiges Elternteil oder eine andere primäre Bezugsperson – in der Psychologie „Bindungsfigur“ genannt – vor allem dazu dient, dem Säugling in seiner ganzen Angst zu helfen. Offensichtlich können Babys mit der intensiven und verwirrenden Erfahrung von Gefühlen nicht alleine umgehen. Zuerst regulieren Mutter oder der Vater die Gefühle des Babys von außen – sie beruhigen es, wenn es schreit, singen Schlaflieder, lächeln es zärtlich an, wiegen es hin und her und vielerlei mehr. Wenn das Baby erlebt, dass jemand ihm helfen kann, schwierige Gefühle annehmbar und verkraftbar zu machen, wendet es sich in Situationen, in denen es etwas braucht, in zunehmendem Maße an diese Bezugsperson, und dadurch lernt es langsam, sich selbst zu beruhigen. Schließlich, wenn alles nach dem in uns angelegten Plan verläuft, lernt das Kind, seine eigenen Gefühle zu regulieren. Jetzt beginnt in ihm die Fähigkeit zu knospen, sich selbst zu trösten, wenn es in den Kindergarten gebracht wird, anstatt den ganzen Vormittag lang zu schluchzen. Es kann sich jetzt die Angst vor dem Monster unter dem Bett manchmal selbst ausreden, anstatt endlos bei anderen nach Beschwichtigung zu suchen, weil es sich nicht selbst beruhigen kann. Jetzt kann es sich kurz wegdrehen, wenn es sich bei der Begegnung mit jemand Unbekanntem schüchtern fühlt, und dann noch einmal hinschauen, sobald es sich beruhigt hat. (Außerdem hat es die wichtige und wertvolle Lektion gelernt, dass es sich, falls notwendig, auch im weiteren Leben zur Co-Regulation an andere wenden kann.) Seine emotionale Erregung steuern zu können gibt dem Kind nicht nur die Freiheit, sich dem Lernen und seiner Entwicklung zu widmen, sondern es verhindert zudem die gefährliche Anhäufung von Cortisol und fördert folglich die Gesundheit. Aktuelle und noch laufende Forschungen zeigen, dass die Fähigkeit zur Gefühlsregulation weitreichende positive Auswirkungen hat, denn wenn man nicht unter dem Stress zu lange anhaltender oder übertriebener Gefühle leidet, ist man frei, das Leben in seiner ganzen Fülle auszukosten.
In der Minnesota-Studie wurde festgestellt, dass Sicherheit Kinder weniger für Frustration oder Aggression anfällig machte, wenn sie sich sozialen Konflikten ausgesetzt sahen, ebenso weniger dafür, einfach aufzugeben und sich abzuwenden. Sie zeigten größere Hartnäckigkeit und Flexibilität, sowie allgemein weniger Geheule und Getue.
Auf diese Weise leistet uns die Fähigkeit zur Emotionsregulation während unseres ganzen Lebens gute Dienste. Sie hilft uns, unsere Arbeit produktiver zu machen, effektiv und liebenswürdig mit diesem nervigen Nachbarn umzugehen und unseren Wunsch, „die Welt zu verändern“, in die von uns gewünschten Bahnen zu lenken – und Emotionsregulation ist auch für Beziehungen super. Und das nicht nur, weil wir unserem tobenden Kleinkind nicht tatsächlich „den Hals umdrehen“ oder uns permanent über die „Unsensibilität“ unserer Freunde beschweren, wenn wir unsere Gefühle regulieren können, sondern auch, weil die Fähigkeit zur Co-Regulation von Gefühlen ein wichtiger Bestandteil von Intimität ist. Sie haben einen Arzttermin, vor dem Sie sich fürchten? Wenn Sie Ihren Partner oder einen engen Freund an Ihrer Seite haben, kann Ihnen das helfen, Ihre Angst (und das Cortisol) auf einem erträglichen Niveau zu halten. Haben Sie schon einmal an der Seite eines vertrauten Menschen einen Verlust betrauert und festgestellt, dass Ihr Kummer sich schneller verflüchtigte, als Sie es für möglich gehalten hätten? Falls ja, was fühlen Sie jetzt, während Sie sich an diesen Moment erinnern, in Bezug auf diesen Menschen?
Ein warnender Hinweis: Verwechseln Sie „Emotionsregulation“ nicht mit dem Abwehren oder Unterdrücken von Gefühlen. In der Wiege einer sicheren Bindung lernen Babys und Kinder, dass Gefühle etwas Normales, Akzeptables und Nützliches sind. Allein die Akzeptanz eines Gefühls ist schon sehr wirksam, um zu verhindern, dass es außer Kontrolle gerät oder über seine Nützlichkeit hinaus weiter bestehen bleibt. Wir helfen unseren Babys, diese wertvollen Fertigkeiten zu lernen, indem wir während ihrer gesamten Erfahrung „mit ihnen sind“. Diesem Thema ist Kapitel 4 gewidmet.
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