Die Lebensgeschichten der Bandmitglieder waren ein Spiegelbild jener ihrer Generation. Alle drei stammten aus zerrütteten Familien. Alle drei (sogar ihr früherer Schlagzeuger) hatten eine schmerzliche Kindheit zu erdulden gehabt; zwei haben nicht einmal die Highschool abgeschlossen.
Obwohl man sie dem „Seattle Sound“ zurechnet, waren sie keine Band aus Seattle. Kurt Cobain und Chris Novoselic stammten aus Aberdeen, einer abgelegenen Holzfällerstadt an der Küste des Staates Washington. Die Band entstand dort und im nahegelegenen Olympia, der Heimstatt von K Records und der „Naiv Pop“-Band Beat Happening. Beides waren große philosophische, teils sogar musikalische Einflüsse für Nirvana. Wenn Kurt über Punkrock sprach, meinte er damit nicht grüne Haare und mit Sicherheitsnadeln durchstochene Nasenflügel. Er meinte das grundehrliche Do-it-yourself- und Lo-Tech-Ethos von K, Touch & Go, SST und anderen ungezügelten Indie-Labels. Punkrock ist ein Versuch, sich die Musik wieder aus dem vereinigten Reich der Konzerne zurückzuholen und sie den Menschen zurückzugeben, eine Art elektronische Volksmusik.
Die Mitglieder von Nirvana waren nie Handlanger der Industrie – sie haben das Hauptquartier ihrer Plattenfirma in L.A. genau ein Mal besucht. Nirvana definierten sich mit großer Sorgfalt als außerhalb des von Madison Avenue, den Fernsehbonzen, den großen Plattenfirmen und Hollywood ausgeheckten Mainstreams stehend. Um einen mittlerweile allgemein anerkannten Ausdruck zu gebrauchen: Nirvana verkörperten eine Alternative. Und wenn acht Millionen Menschen zum Ausdruck brachten, dass sie das auch so sahen, musste man eben den Mainstream neu definieren.
Viele Bands in den Charts machten ganz gute Musik, aber es blieb reine Unterhaltung. Nirvanas Musik zeitigte Wirkung. Sie war nicht glatt, nicht berechnend. Sie war erfrischend, angstmachend, schön, bösartig, vage und jubelnd. Und sie hatte nicht nur einen starken Rhythmus, sondern man konnte sogar mitsummen.
Die Band war nie auf der Suche nach Ruhm und noch weniger in der Lage, damit fertigzuwerden. Der Ruhm war eine Überraschung. Er erschreckte sie. Es war zu viel auf einmal. Es war schon für Chris und Dave schlimm genug, am schlimmsten aber war es für Kurt. Sie verbrachten einen Großteil des Jahres 1992 zurückgezogen, und erst am Anfang des darauffolgenden Frühjahrs waren sie fähig, alles mit etwas Distanz zu betrachten.
Dave erzählte seine Version der Geschichte im Laundry Room, einem bescheidenen Aufnahmestudio in Seattle, das er gemeinsam mit seinem alten Freund und Schlagzeugtechniker Barrett Jones besitzt. Er trug ein Button-Down-Shirt mit einem K-Records-Ansteckknopf am Revers und saß am Boden mitten unter Instrumenten, Verstärkern und Kabeln. Dabei verschlang er irgendein ungesundes Essen aus dem nahegelegenen Seven-Eleven-Supermarkt. Er wirkte weit abgeklärter, als man es ihm mit seinen vierundzwanzig Jahren zugetraut hätte. Er war sehr beherrscht; zeigte keine Anzeichen von Größenwahn, stellte aber auch sein Licht nicht unter den Scheffel. „Er ist der ausgeglichenste Bursche, den ich kenne”, sagte Kurt ganz stolz über ihn.
Dave ist der Unauffälligste der drei – schon alleine, weil er weder zwei Meter groß ist wie Chris noch der Frontman wie Kurt. Genau wie Chris besucht er regelmäßig Konzerte in Seattle und steht dabei mitten in der Menge – einfach wie jedermann. Er befand sich in einer idealen Situation, und das wusste er auch ganz genau. Er war Mitglied einer der erfolgreichsten Rockbands der Welt und konnte gleichzeitig die Leute, die ihn auf der Straße erkannten, an den Fingern einer Hand abzählen.
„Chris hat ein goldenes Herz“, sagte ein Freund der Familie. „Er ist eine gute Seele.“ Chris sprach langsam und behutsam. Obwohl er kein Intellektueller und Bücherwurm ist, hat er einen sehr tiefgehenden gesunden Menschenverstand. Er hat in jeder noch so vertrackten Situation eine ganz klare Aussage parat. Er sieht sich selber als Nachrichten-Junkie, ist sehr gut über die Zustände im früheren Jugoslawien, dem Herkunftsland seiner Familie, informiert und davon zutiefst betroffen.
Zusammen mit seiner schönen und klugen Frau Shelli besaß er ein bescheidenes Haus im eher stillen Universitätsbezirk in den Vororten von Seattle. Dort wohnten auch seine Schwester Diana und der Tourmanager Alex Macleod. Macleod war ein aufgeweckter Schotte mit Pferdeschwanzfrisur. Er war so loyal, dass er sich für jedes Mitglied der Band in die Schusslinie geworfen hätte. Robert, der Bruder von Chris, kam öfters vorbei. Es war Anfang März, und Kim Gordon und Thurston Moore von Sonic Youth waren gerade auf Besuch – sie waren in der Stadt, um ihre Welttournee zu beenden. Die beiden und Mark Ami von Mudhoney waren soeben vom Platteneinkauf zurückgekommen und hatten unter anderem alte 78er-Platten von Benny Goodman erstanden. „Royal Garden Blues“ krachte und grammelte aus der alten Victrola-Anlage, und Chris sagte scherzhaft zu Moore: „Super, Low Fidelity! Genauso klingt unsere neue Platte!“
Das Wohnzimmer war mit legeren Secondhand-Möbeln ausgestattet und wurde von einer riesigen Jukebox beherrscht. Aber es hielten sich ohnehin immer fast alle in der Küche auf – die Katzen Einstein und Doris mit eingeschlossen. Im Kühlschrank waren jede Menge Gemüse und Lebensmittel ohne Konservierungsstoffe. Soweit es möglich ist, verwendeten sie ausschließlich Recycling-Papier. Im Keller standen eine altmodische Bar aus den 50er Jahren und drei Flipperautomaten – Kiss, die Addams Family und Evel Knievel. Dort hatte Chris am Vorabend des Beginns der Aufnahmen zu ln Utero eine Party geschmissen. Die Party dauerte bis zum Morgengrauen. Mit von der Partie waren alte Freunde wie Matt Lukin von Mudhoney, Tad Doyle von TAD und Dee Plakas von L7, aber auch neue wie Eddie Vedder und Mitglieder der erweiterten Nirvana-Familie: Ernie Bailey oder Gary Gersh, der A&R-Manager von Geffen. Zu essen gab es vegetarische Hors d’Œeuvres, die Shelli selbst gemacht hatte.
Chris führte ein sehr bodenständiges Leben und ging sorgsam mit seinem Geld um – keine Spur von einem High-Life-Pop-Star. Von seinem Tape-Deck fiel dauernd die Verschlussklappe herunter.
Nach einem kurzen Vorbereitungsgespräch kurz vor Weihnachten 1992 fand Anfang Februar 1993 der erste Teil der mehr als fünfundzwanzig Interviewstunden statt. Wir begannen immer ziemlich spät am Abend, nach Kurts Rückkehr von den Proben für In Utero, und redeten bis vier oder fünf Uhr morgens. Kurt war gerade dabei, in eine Mietwohnung in Seattle zu übersiedeln, und latschte in seiner und Courtneys Hotelsuite auf und ab. Er trug einen Pyjama, bei dem das Oberteil nicht zur Hose passte, lind rauchte eine Zigarette nach der anderen. Seine Erzählungen waren mit trockenem und sarkastischem Humor gepfeffert. Einmal setzte er mitten drin eine Mind-Machine auf – ein Mittelding zwischen Walkman und privater psychedelischer Lichtshow. Er experimentierte damit, um seine chronischen Magenschmerzen zu bekämpfen. Verschiedene Einstellungen dieser Maschine sollten angeblich Gedächtnis, Kreativität, Energie und Entspannung stimulieren.
Für international gefeierte Stars lebten Kurt und Courtney ein ziemlich schlichtes Leben. Es gab weder Wachposten noch muskulöse Fleischberge als Leibwächter. Kurt nahm ein normales Taxi in die Stadt, kaufte sich einen Burger bei McDonald’s und trug dabei als Tarnung nur einen tief ins Gesicht gezogenen ziemlich lachhaften Elmer-Fudd-Hut. Einem Besucher gelang es sogar einmal, sie in ihrem Hotelzimmer aufzuspüren: Er betrat das Hotel, nahm den Aufzug in ihr Stockwerk und spazierte einfach ins Zimmer. Kurt und Courtney saßen gemeinsam im Bett und schauten sich einen sinnlosen Leif-Garrett-Film im Fernsehen an. „Oh Hi“, sagte Courtney einfach, ohne mit der Wimper zu zucken.
Kurt wirkte zerbrechlich, wie ein Kleiderständer. Seine Sprache war eine Art monotoner Singsang. Die vielen Zigaretten und die Proben hatten seine Stimmbänder bis auf ein dumpfes Brummen abgenutzt. Dadurch wirkte er traurig und verbraucht, als hätte er gerade einen Heulkrampf gehabt. Aber so war das eben. „Alle glauben, dass ich nichts als ein emotionales Wrack bin, ein absolut negativer schwarzer Stern – und dass das immer so ist“, sagte Kurt. „Und ich werde immer gefragt, was mit mir los ist. Dabei ist doch alles in Ordnung. Ich bin überhaupt nicht traurig. Ich bin schon so weit, dass ich mich selbst betrachte und mir versuche vorzustellen, was die Leute in mir sehen. Vielleicht sollte ich mir die Augenbrauen abrasieren. Das wäre eine gute Idee.“
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