Nachher feiert der ganze Tross den triumphalen Auftritt im Innenhof des schicken Phoenix-Motels – alle außer Kurt und Courtney, die sich in ein elegantes Hotel auf der anderen Seite der Stadt zurückgezogen haben. Das Phoenix ist mit einigen bösen Erinnerungen für sie verknüpft, sagt Courtney. Außerdem sind die Badetücher zu klein. Aber auch ohne die beiden hat sich der Ort in ein kleines Nirvana-Dorf verwandelt. Dave und seine Mutter und seine Schwester sind da, Chris und Shelli, außerdem der immer lächelnde Gitarrentechniker Ernie Bailey mit seiner Frau Brenda, Tourmanager Alex Macleod, Licht-Designerin Suzanne Sasic, Leute vom Gold Mountain Management, Mark Kates von Geffen/DGC, sogar zufällig in der Stadt weilende Mitglieder von Love Battery aus Seattle. Chris besorgt aus dem nächsten Supermarkt eine Menge Bier, und die Party dauert bis in die frühen Morgenstunden.
Am nächsten Tag pilgert Chris zum City Lights Bookstore, dem sagenumwobenen Denkmal aus der Beat-Ära. Er geht zu einem Bankomaten. Dort steht ein Obdachloser und verkündet: „Gute Neuigkeiten, Leute! Wir freuen uns mitteilen zu können, dass wir zu Ostern auch 20-Dollar-Noten annehmen!“ Chris gibt ihm eine.
Die Show im Cow Palace war ein Triumph. Sie war ein weiterer Beweis dafür, dass eine Punkrock-Band, die den Mainstream-Jackpot geknackt hatte, nicht nur einen Zufallstreffer gelandet hatte. Dieser Erfolg würde Auswirkungen haben, nicht nur für die Band selbst, sondern für alle Bands, die so wie sie waren, vielleicht sogar für das kulturelle Leben ganz allgemein. So sagte etwa Kim Gordon von Sonic Youth: „Wenn eine Band wie Nirvana aus dem Underground ganz nach oben kommt, dann drückt das eine echte Bewegung in der Kultur aus. Das ist nicht nur eine kommerzielle Angelegenheit.“
Was sich da in der Kultur bewegte, spiegelte sich nicht nur im Klang der Musik wider. Mindestens genauso wichtig war die Geschichte, wie diese Art Musik populär werden konnte. Das Phänomen Punkrock hat praktisch in dem Moment begonnen, als Johnny Ramone die erste Gitarrensaite anschlug. Er hat damit eineinhalb Jahrzehnte harter Arbeit von zahllosen Bands, unabhängigen Plattenfirmen, Radiosendern, Magazinen und Fanzines inspiriert. Kleine Schallplattenläden hatten sich in der Folge bemüht, eine Alternative zu dem unverbindlichen, herablassenden Mainstream-Rock zu schaffen, der der Öffentlichkeit von den großen Labels, den Mega-Plattenläden, den Radio-Stationen und den vom Starruhm geblendeten landesweiten Rock-Magazinen aufgehalst wurde.
Der von der Revolution des Punkrock aufgeputschte musikalische Underground baute ein weltweites Netzwerk auf, eine Art Schatten-Musikindustrie. Sie wuchs so lange, bis nicht einmal mehr die größten Anstrengungen der von den Baby Boomern kontrollierten Musikindustrie sie aufhalten konnte. R.E.M. waren die erste Explosion gewesen, später Jane’s Addiction, und dann kam der große Knall: Nevermind wurde über acht Millionen mal verkauft, setzte sich gegen Michael Jackson, U2 und Guns n’ Roses durch und erreichte die Nummer eins der Billboard Charts.
Damit begann eine neue Zeitrechnung: Alles war ab nun entweder prä- oder post-Nirvana. Radio und Presse begannen, das „Alternative“-Ding ernstzunehmen. Plötzlich änderten die Plattenfirmen ihre Strategien. Anstelle leichtgewichtiger, aber mit großem Aufwand beworbener Pop Acts, die sich zwar zu Beginn schnell verkauften, dann aber in die Bedeutungslosigkeit versanken, waren sie nun auf der Suche nach Verträgen mit Bands mit längerfristigem Potential. Auch die Promotion-Aktivitäten wurden bodenständiger – Schluss mit dem So-lange-Geld-hineinstopfen-bis-sich-etwas-verkauft. Gefragt war nun eine genaue Kopie davon, wie Nirvana ihren Weg gemacht hatten: eine kleine Kerngruppe bodenständiger Medien und Musikfans, deren unbezahlbare Mundpropaganda die Basis der Gruppe zunächst in kleinen Schritten, später dann sprunghaft verbreitert hatte. Ein Minimum an Werbung, einfach gute Musik.
Der Forscherdrang, den man entwickeln musste, um den Weg durch den Wust der Independent-Musik zu finden, war die Gegenbewegung zum passiven Herdenkonsum. Das war eine ziemlich vertrackte Entwicklung für die großen Plattenfirmen. Diese hatten sich nämlich mit der Zeit angewöhnt, sich bei der Bildung des Publikumsgeschmacks lediglich auf die Macht ihrer Werbedollars zu verlassen. Independent-Musik erforderte unabhängiges Denken, vom Künstler angefangen über den Vertrieb bis hin zu den Käufern. Es ist immerhin um einiges schwieriger, eine neue Single von Calamity Jane aufzuspüren, als auf dem Heimweg schnell die neueste C+C-Music-Factory-CD mitzunehmen.
1990 war es keinem Rock-Album gelungen, die Nummer eins der allgemeinen Album-Charts zu werden. Das veranlasste einige Experten in der Industrie sogar dazu, das Ende der Rockmusik vorherzusagen. Das Musikpublikum war von den Radio-Programmachern so sehr in einzelne Gruppen zergliedert worden, dass es immer unwahrscheinlicher schien, dass sich genügend Rock-Fans um ein einziges Album scharen würden, um es zur Nummer eins zu machen. Und während Rock immer mehr zu einer luftgetrockneten, zerkochten Pseudo-Rebellion verkam, trafen Strömungen wie Country oder Rap die Stimmungen und Anliegen der Massen viel genauer. Und dann gelang es plötzlich Nevermind, ein Publikum zu vereinigen, das noch nie einig gewesen war – diejenigen zwischen zwanzig und dreißig.
Diese „Twentysomethings“ wollten eine eigene Musik. Sie hatten genug von alten Knochen wie Genesis und Eric Clapton und wollten auch keine künstlichen Schöpfungen wie Paula Abdul oder Milli Vanilli in den Rachen geschoben bekommen. Sie brauchten etwas, das ausdrückte, was sie empfanden. Eine große Anzahl von ihnen waren Scheidungskindler. Sie lebten in dem Bewusstsein, die erste Generation in Amerika zu sein, die wenig Hoffnung darauf hatte, dass es ihr besser gehen würde als ihren Eltern. Sie waren die Generation, die die Steuerexzesse der Reagan-Ära ausbaden musste, die Generation, die ihre sexuelle Blütezeit im Schatten von AIDS verbringen musste, und die während ihrer gesamten Kindheit Albträume von Atomkriegen hatte. Sie fühlten sich machtlos bei der Rettung der gefährdeten Umwelt, und während ihres ganzen Lebens saßen entweder Reagan oder Bush – die Schöpfer eines repressiven sexuellen und kulturellen Klimas – im weißen Haus. Sie fühlten sich hilf- und wortlos.
In den Achtzigern hatten zwar viele Musiker die verschiedensten politischen und gesellschaftlichen Missstände angeklagt, aber die meisten von ihnen gehörten der Baby Boomer-Generation an – etwa Don Henley, Bruce Springsteen und Sting. Viele Fans erkannten diesen Protest als das, was er war: reine Pose, selbstgerecht, einem allgemeinen Trend folgend. Warum traten Duran Duran eigentlich bei Live Aid auf? Kurt Cobains Antwort auf harte Zeiten war so direkt wie nur möglich und eine ganze Menge ehrlicher. Er schrie seinen Zorn hinaus.
Es wäre falsch, Kurt Cobain als Vertreter und Sprachrohr einer Generation zu bezeichnen. Bob Dylan wäre so etwas. Doch Kurt Cobain lieferte keine Antworten, er stellte nicht einmal wirklich Fragen. Er brach in Wehklagen aus und verstummte in negativer Ekstase. Und wenn das der Sound der heutigen Jugend, der Teen Spirit, war, dann war das eben so.
Die Songs auf Nevermind hatten vielleicht auch Entfremdung und Apathie zum Thema. Aber es war Entfremdung und Apathie gegenüber Dingen, die ohnehin nicht viel zu bedeuten hatten. Im Gegensatz dazu legte die Band großen Wert auf Themen wie Feminismus, Rassismus, Zensur und vor allem Menschenfeindlichkeit. Jeder Gedanke an Passivität und Selbstmitleid wurde von der furchteinflößenden Kraft der Musik (vor allem vom explosiven Schlagzeugspiel von Dave Grohl) und dem unbestreitbar kunstvollen Aufbau der Songs hinweggefegt. Das war gefühlsbetonte Musik, die nicht aufgesetzt war. Der Erfolg von Nirvana war gleichzeitig die Ermächtigung einer machtlosen Generation.
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