An Schrecken verliert die Pest mit der Entdeckung Alexandre Yersins, der 1894 das nach ihm benannte Bakterium Yersinia pestis identifiziert. Als wissenschaftlichen Abenteuerroman erzählt Yersins Parcours Patrick Deville in Peste & choléra ( 2012): Aus der „bataille scientifique“ (2013: 118) mit seinem Konkurrenten Kitasato Shibasaburō, Schüler Robert Kochs, geht Yersin ironischerweise dank mangelhafter Ausstattung als Sieger hervor. Seine anlässlich der Hongkonger Pestepidemie 1894 angestellten Studien dokumentiert er in einem knappen Artikel für die Annales de l’Institut Pasteur ; „fantôme du futur“ (17), begleitet der Erzähler Yersin bis zum Zweiten Weltkrieg, da eine metaphorische „peste brune“ die Welt bedroht (11).
Für eine heutige Leserschaft hält eine historisch fokussierte Epi-/Pandemiebelletristik eine optimistische Botschaft bereit: Im Zuge einer literarisch verarbeiteten Erfolgsgeschichte werden Medikamente und Vakzine entwickelt, Krankheiten besiegt. Zugleich reflektiert das Genre archaische weltanschauliche Relikte, deren Reaktivierung die Krisensituation favorisiert; diese Spannung illustriert Philip Roths Nemesis aus dem Jahr 2010.
Wider die „tyranny of contingency“? Philip Roths Nemesis
„Polio is polio – nobody knows how it spreads“: Rund um eine weitere „mysterious disease“ dokumentiert Philip Roths letzter Roman Nemesis (2010: 31, 103) ein Stück Wissenschaftsgeschichte. Die älteren Figuren erinnern sich angesichts der Polioepidemie im Newark des Jahres 1944 an „its frightening precursors“, an eine Ära, da „whooping cough victims“ eigene stigmatisierende „armbands“ zu tragen hatten, da in Ermangelung eines Vakzins Diphtherie „the most dreaded disease in the city“ war (89); Anlass zur Sorge gibt auch Malaria, ebenfalls noch „an unstoppable disease“ (4). Mit Malariaimpfungen wird ab 1948 experimentiert; dank der Entwicklung zweier Poliomyelitisvakzine 1955 und 1960 kann die Krankheit global zurückgedrängt werden.
Zu spät für Roths Helden Bucky Cantor, der als Jugendsporttrainer zum noch asymptomatischen „healthy infected carrier“ (236) wird und sich im Nachhinein als neue „Typhoid Mary“ anklagt (248); dies mit Bezug auf die unter diesem Spitznamen in die Medizingeschichte eingegangene Mary Mallon, die als selbst nie erkrankte Typhusträgerin – und von Beruf ausgerechnet Köchin – in New York 1900–1915 Dutzende von Menschen infiziert. Als einer der Schützlinge Cantors war auch Erzähler Arnie Mesnikoff „unfortunate enough to get polio eleven years too soon for the vaccine“ (249). Mit seinem sportlichen Engagement partizipiert der Protagonist, der unter seiner Wehrdienstuntauglichkeit und erzwungenen Nichtteilnahme am Zweiten Weltkrieg leidet, an einer Mission der Kontersozialisation jüdischer Kinder – d. h. v. a. jüdischer Jungen, Nemesis bleibt ein männlich fokussierter Roman – zu auch körperlicher Courage und Kraft. Die vom „Board of Health“ zunächst geleugnete „epidemic of poliomyelitis“ (1f.) provoziert freilich eine massive antisemitische Reaktion (192f.); der Stadtteil verwandelt sich in ein neues Ghetto, während die Community in Gestalt der „colored cleaning women“ ihre eigenen Sündenböcke identifiziert (82).
Wie bei Camus erscheint die Epidemie als Zuspitzung der conditio humana in ihrer Absurdität: „There is none“, antwortet Bucky dem Vater des ersten toten Jungen, als jener verzweifelt nach der „fairness in that“ fragt (47). Schon beim Begräbnis richtet sich sein Zorn „against God, who made the virus“ (127), und dessen mit „the very existence of polio“ inkompatible Glorifikation (75). Nach seiner Erkrankung und rekonstruierten Rolle als fataler ‚Pfeil‘ aus dem Köcher der Rachegöttin Nemesis rebelliert er gegen jene „tyranny of contingency“ (243); als Zweifaltigkeit eines „a sick fuck and an evil genius“ in sich vereinenden Gottes resümiert der Erzähler Buckys Lösung des Theodizeeproblems (265). „There is an epidemic and he needs a reason for it. He has to ask why. Why? Why?“ – so die Schlüsselfrage selbstdestruktiver Sinnstiftung, die der Atheist Arnie als „stupid hubris […] the hubris of fantastical, childish religious interpretation“ verwirft (265), bevor er die eigene Argumentation aus den Angeln hebt: „Maybe Bucky wasn’t mistaken. […] Maybe he was the invisible arrow“ (274f.).
„From outer space!“ Corona-Literatur als Inter- und Konterdiskurs
Als kritischer Inter- und Konterdiskurs reflektiert auch die Corona-Literatur wissenschaftlichen Fortschritt wie archaische Resurgenz. Rasch etabliert sie ihr Heldenpersonal: Li Wenliang wird zur „Ikone“ (Yang 2020); mit Camus’ Rieux verglichen, inspiriert der „Doc who was whistlblower Dr Li“ – so die SMS eines adoleszenten Fans in Ali Smiths Summer (2020: 40) – manch literarische Hommage. Angesichts eines auch wissenschaftlich noch offenen Horizonts gewinnt entsprechende Expertise umso größeres Gewicht: „Being a doctor helped me write about virology with authenticity“, betont Kumar Shyam zu seinem Pandemic Plot (zit. Sharma 2020). In seiner Doppelidentität als Schriftsteller und Wissenschaftler analysiert Giordano die „Mathematik der Ansteckung“ (2020: 15); als „biologist and science fiction writer“ inszeniert Yoss eine Miniaturparodie: Auf der Straße von Passanten konsultiert – könnte „the new coronavirus“ nicht doch „from space“ gekommen sein? –, lässt er sich auf das Spiel ein: „[…] maybe that’s why completely new flu strains appear every few years. From outer space!“ ( Stars 420).
Im Corona-Kontext erleben kaum minder wüste Konspirationstheorien eine Konjunktur; über die kosmische Herkunft von SARS-CoV-2 spekuliert Igor’ Prokopenko, der von seinem Flat-Earth-Steckenpferd auf das Corona-„Killervirus“ ( Koronavirus. Virus-ubijca ) umsattelt. Alte Sündenböcke werden reanimiert: Während die lokale Bevölkerung bei Manzoni in Pestzeiten alle, „deren Kleidung, Haarschnitt und Reisesäcke sie als Fremde und, was noch schlimmer war, als Franzosen bezeichneten“, voll Misstrauen betrachtet, ist nun das ‚Chinese Virus‘ an der Reihe. Auch wenn – im Gegensatz zur irreführend als ‚Spanische‘ titulierten Grippe – der offizielle Corona-Diskurs Virusvarianten ethnisch neutral rechiffriert, werden „dormant and longstanding prejudices“ aktiviert (Salcedo 2020: 139). „Wer hatte nun die Schuld an der ganzen Sache? Die Chinesen? Die Amerikaner? Die Fledermäuse? […] Eins stand fest. Wir waren es nicht. Schuld sind noch immer die anderen gewesen“, wie Wladimir Kaminer (2021: 23) die auch im Zeitalter der „Coronauten“ gültige Maxime formuliert.
In Nigeria gilt die Corona-Krise als „christliche Verschwörung“, im Iran als „zionistisches Komplott“ (Butter 2020: 226); von den mit schweren antisemitischen Ausschreitungen einhergehenden Pestepidemien des Mittelalters führt eine direkte Linie zur aktuellen Pandemie. Nicht nur im Internet, sondern auch auf Anti-Maßnahmen-Demonstrationen remanifestiert sich, so Peter Longerich, „eine Art globaler Antisemitismus“ (Pumberger 2021), den schon die frühe Corona-Literatur kritisch kommentiert: „Wie einen die Allgegenwärtigkeit des Antisemitismus ständig und zugleich unvorbereitet trifft!“ (Schneider 2020: 132). In Osteuropa dienen z. T. die Roma als „Sündenböcke der Pandemie“ – und ziehen sich ihrerseits in eine religiöse Phantasiewelt zurück: „Wir glauben hier nicht an Corona […] Wir glauben an Jesus“, erklärt ein Bewohner von Fakulteta, dem größten Roma-Viertel Sofias (zit. Wölfl 2021), unter naiver Perpetuation einer jahrtausendealten Parallelgeschichte von Epi-/Pandemie und Religion.
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