„Camus könnte das, wenn er nicht schon Die Pest geschrieben hätte“, so Kuznecova auf die Frage, welchem kanonischen Autor ein Corona-Roman zuzutrauen wäre (Tolstov 2020). Diverse Pandemienarrative werden ‚prophetisch‘ recodiert: So Dean Koontz’ Thriller The Eyes of Darkness (1981) – nur dass das fatale Coronavirus namens „Wuhan 400“ in der Kalte-Kriegs-Erstfassung noch „Gorki 400“ hieß (Brunfaut 2020); einen Corona-„Tsunami“ schildert Deon Meyers Koors (2016) bzw. Fever (2017). „Prophetic Israeli sci-fi novel […] predicted current pandemic“ (Bloom 2020), nämlich Hamutal Shabtais 2020 (1997); rückwirkend wird Aleksej Sal’nikovs Petrovy v grippe i vokrug nego („Die Petrovs in der Grippe und rundherum“, 2017) zum „[e]rsten Roman über das Coronavirus“ erklärt (Smirnov 2020). Erst recht durch das Corona-Prisma rezipiert werden 2020 veröffentlichte themenverwandte Texte, Xabi Molias Des jours sauvages mit seinem Influenzaplot wie Sébastien Spitzers Roman La Fièvre , der die Gelbfieberepidemie in Memphis 1878 literarisiert.
„Nur die Pest“? Ljudmila Ulickajas Eine Seuche in der Stadt
Aufschlussreich ist die zeitversetzte Rezeption von Ljudmila Ulickajas Eine Seuche in der Stadt ( Čuma, ili OOI v gorode ), vor mehr als vier Jahrzehnten verfasst, im Frühjahr 2020 publiziert. Ulickaja selbst etabliert die Verbindung zur Pest ; fungiert bei Camus die Epidemie als Metapher für den Nationalsozialismus, wird das historische Seuchensujet hier rekontextualisiert. Rasch bestätigt sich der „Verdacht auf Pest“ (2021: 34) bei einem Mikrobiologen, der in der stalinistischen Sowjetunion unter politischem Hochdruck (ebendieser provoziert den fatalen Laborunfall) an einem Vakzin forscht. Mit seiner behördlich angeordneten Dienstreise schleppt Rudolf Mayer die ‚Seuche in die Stadt‘; kurz nach seiner Ankunft in Moskau stirbt er an Lungenpest. „Wenn keine außerordentlichen Maßnahmen ergriffen werden, besteht die Gefahr einer Epidemie“ (35f.): Dafür steht in der UdSSR des Jahres 1939 ein seinerseits außerordentlicher Organismus zur Verfügung – der Geheimdienst NKVD, der sofort seine „Schwarze[n] Raben“ (d. h. Häftlingstransporter) ausschickt (45). „Vermutlich war dies das einzige Mal in der Geschichte dieser brutalen und rücksichtslosen Organisation, dass sie dem Wohl ihres Volkes diente […]“, wie Ulickaja kommentiert (107). Die doppelte Brisanz des Plots ist klar: Für Valerij Frid, bei dem Ulickaja sich mit ihrem Szenario bewirbt, ist vor dem Hintergrund seiner eigenen Lagervergangenheit die positive Rolle des NKVD inakzeptabel; heute wirft der Text die heikle Frage nach den Vorteilen eines um demokratische Grundrechte unbesorgten Pandemiemanagements auf, immerhin „hat uns China ja vorgeführt, um wie viel besser ein autoritäres System auf eine solche Krise reagieren kann“ (Zeillinger 2021).
Ulickaja stellt sich diesen Ambivalenzen: Die „Operation Seuche“ (2021: 93) vollzieht sich im Schatten jenes „Sehr Mächtigen Mann[es] mit georgischem Akzent“, der eine ebenso groteske wie gefährliche Figur abgibt; so in einer Szene, da der zuständige Volkskommissar dem historisch ahnungslosen Diktator die drohende „Katastrophe“ unter Verweis auf den Schwarzen Tod zu erklären versucht (42f.). Dabei verharmlost Ulickaja das Sujet keinesfalls zur bloß amüsanten Politparodie. Ein gewisser Oberst Pawljuk, der aus anderem Anlass abgeholt zu werden glaubt, erschießt sich in seinem Arbeitszimmer, nachdem er ein Schreiben „An den Genossen Stalin“ auf dem Tisch deponiert hat (54); in den finalen Triumph, der bei dröhnender Marschmusik „[a]lle Helden unserer Geschichte“ vorm Krankenhaustor versammelt, mischen sich strategische Misstöne, als ein Genosse aus nonsanitären Gründen erneut mitgenommen wird… während die Frau eines quarantänisierten Arztes zu ihrer Erleichterung erfährt, dass es „Nur die Pest!“ war: „Und ich dachte…“ (101).
„Schlimmer als die Pest“, betitelt Ulickaja ihr Nachwort; angesichts der „Wechselwirkungen“ zwischen der „Grausamkeit der Natur“ und jener von „Machtapparaten“ kommt sie zur Conclusio, dass die Pest „nicht das schlimmste Unglück für die Menschheit“ sei – und schließt mit der Hoffnung auf eine Post-Corona-Reform des „politische[n] Weltsystem[s]“ (107–111).
„… what is this, some kind of plague?“ Lawrence Wrights The End of October
Eine vermeintlich moderne „kind of plague“ schildert Lawrence Wright (2020a: 103) in seinem Roman The End of October , der, im Corona-Frühjahr 2020 veröffentlicht, paradigmatisch einige Tendenzen zeitgenössischer Epi-/Pandemieliteratur illustriert. Schon mit seinen Motti aus Defoes Journal und Camus’ Pest knüpft Wright an die große Tradition an; der Plot setzt mit dem Ausbruch einer „mysterious disease“ in einem indonesischen Lager ein (39). Seit Jahren beschäftigt den Protagonisten die Angst vor einer neuen „Pest“ (43); das eklektisch exotisierte „Kongoli“-Virus erweist sich als „the greatest plague humanity has ever known“ (208). Unter Appell an alle fünf Sinne schildert Wright Krankheit und Tod: Via Bildschirm verfolgt Henrys WHO-Kollegenschaft (und die Leserin) die improvisierte Autopsie der „Blue Lady“ (12), trotz Zyanose attraktive junge MSF-Ärztin.
Der Authentizitätseffekt des Romans, „[s]o believably horrifying“ (Green 2020), verdankt sich auch der zeithistorischen Kontextualisierung. Alle ‚Mächte des Bösen‘ lässt der Autor aus nur punktuell kritisch relativierter US-Sicht aufmarschieren, an der Spitze „Big bad Vlad“ ( ibid .), als „killer“ und Stalin-Wiedergänger demaskiert (Wright 2020a: 39, 341). Dahinter versammelt sich der restliche „wolf pack“: „Iran. China. North Korea. […] Now they’re ganging up“ (315). Angefangen mit der indonesischen Gesundheitsministerin, „cold-eyed apparatchik“ im Hijab (16), wird mit einer islamischen Gegnerschaft abgerechnet; nachdem die Inhaftierung HIV-infizierter Homosexueller den Nährboden für das Killervirus geboten hat, wird ein Mekka-Pilger zum internationalen Superspreader. Generell ist Religion „one of the few things Henry actually feared“ (63): Über seinen Helden, der von seiner Frühkindheit in der Jonestown-Sekte irreversible Rachitisschäden davongetragen und beide Eltern im Massaker von November 1978 verloren hat, situiert Wright seinen Plot in einem Spannungsfeld zwischen Glauben und Wissenschaft.
„Suppose it’s not new. Suppose it’s old – really old“: Beim Gegencheck mit einer Datenbank von „archaic viruses“ wird Henrys Team fündig; das dem russischen Feind zugeschriebene Projekt „to make something very old new again“ besitzt auch eine poetologische Dimension (352f.). Dass die Pandemie klimawandelbedingt zoonotischen Ursprungs war, stellt sich zu spät heraus; zwischen Influenza, Cyberattacken und „[c]onspiracy theories competing with actual conspiracies“ (304) ist die globale Lage schon zur „apocalypse“ (349) eskaliert. Mit Blick auf die offene Zeitlichkeit der frühen Corona-Literatur ist Wrights Spiel mit Gattungskonventionen von Interesse. Bei aller Klischeetreue bietet der Roman kein Happy End; jene unvollendete Mail, die die MSF-Ärztin als „ongoing testament“ verfasst, reflektiert die Gesamtstruktur eines Textes, der sich auf ein nicht mehr detailliertes Desaster hin öffnet: „ Why did / The email ended there […]“ (23f.). Henry wird das medizinische „puzzle“ (45) zwar gelöst und unter abenteuerlichen Bedingungen ein Vakzin kreiert haben; doch behält er Recht mit seiner Ahnung, „that the ongoing war against disease would inevitably be lost“ (355).
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