Eines der Probleme, die mir in meiner Kindheit wirklich zu schaffen machten, war die Tatsache, dass ich Bettnässer war. Auf diejenigen von uns, die ins Bett machten, wartete eine besondere Strafe: Wir mussten früh am Morgen aufstehen, unser Bettzeug auswaschen und zum Trocknen aufhängen. Das war etwa um die gleiche Zeit, als die anderen Schüler zum Frühstück gingen. Das war die größte Erniedrigung meines Lebens. Bettnässer wurden auch mitten in der Nacht geweckt, damit sie zur Toilette gingen und nicht ins Bett pinkelten. Eines Nachts wurde ich von einer Ohrfeige geweckt, die mir Mrs. Peters verpasst hatte. Ich hatte es zwar geschafft aufzustehen und zur Toilette zu gehen, aber ich war immer noch nicht ganz wach und wusste gar nicht so recht, was ich dort eigentlich sollte. Sie hatte sehr fest zugeschlagen. Das war erniedrigend und demütigend für mich, aber ich hatte immerhin die Botschaft verstanden.
Eine andere Form der Misshandlung war das routinemäßige Haarschneiden jeden Samstagmorgen. Niemand konnte Simons oder Goodlows Haarschneidemaschine entkommen. Sie brauchten keine talentierten Friseure zu sein, um diese Aufgabe zu erfüllen, denn wir bekamen keinen persönlichen Haarschnitt, sondern wurden geschoren. Ich hasste es, meinen Kopf rasieren zu lassen und versteckte mich vor ihnen, aber dann holten sie mich eben Samstagnacht aus dem Bett und verpassten mir eine „Frisur“. Jahre später, als ich andere weiße Institutionen kennenlernte, fiel mir auf, dass sie die gleiche Haarschneidestrategie als Bestrafung bei denen anwandten, die sich nicht unterwerfen wollten.
Die Sache mit dem Haarschnitt spitzte sich in den späten 70ern erneut zu, als ich nach vier Jahren auf der Flucht in das staatliche Zuchthaus von Columbus, Ohio, eingeliefert wurde. Mit der Begründung, dass ich seit meinem sechsten Lebensjahr gezwungen worden war, mich den Regeln der Institutionen des weißen Mannes zu unterwerfen, weigerte ich mich aus spirituellen und kulturellen Gründen, mir die Haare schneiden zu lassen. Inzwischen hatte ich nämlich angefangen, an traditionellen indianischen Zeremonien teilzunehmen und lernte all die Dinge, die sie (die US-Regierung) so viele Jahre versucht hatte zu zerstören. Ein Mann, der traditionelle Heilmethoden praktizierte, ein Medizinmann, hatte mir gesagt, dass sie mir im Gefängnis die Haare nicht abschneiden könnten, solange ich stark sein würde. Daraufhin steckten sie mich ins „Loch“, das heißt, sie sperrten mich in Einzelhaft, weil ich mich den Regeln und Vorschriften der Anstalt widersetzt hätte.
Als Reaktion gegen diese Maßnahme reichte ich Klage ein. Ich wollte mein Haar lang tragen dürfen, wie es gemäß dem traditionellen Glauben meines Volkes der Brauch war. Von dem Moment an, wo ich mich entschieden hatte, Widerstand zu leisten, fastete ich und betete zu den Geistern und bat um Hilfe. Die Geister halfen mir und ich gewann den Prozess.
Sie haben verloren.
Als ich etwa neun oder zehn Jahre alt war, fing ich an, von der Schule wegzulaufen. Zuerst wollte ich immer nur nach Hause und weg von dem Ort, wo ich nicht sein wollte. Aber nach einer Weile wollte ich einfach nur von der Schule weg, egal wohin. Nach Hause zu gehen war nicht ratsam, weil Goodlow oder die Polizei immer wieder kamen und mich zurückbrachten. Zuerst steckte mich die Polizei ins Gefängnis, bis Goodlow mich dort abholte. Dann behielten sie mich über Nacht im Gefängnis, dann eine Nacht und einen Tag und manchmal noch eine Nacht länger und so weiter. Goodlow kam dann, wenn er sich gut auf die dann folgende körperliche und seelische Misshandlung vorbereitet hatte.
Nie fragte jemand, warum ich überhaupt weglief. Das Wohl der Kinder in diesen Einrichtungen lag niemandem am Herzen. Die Kinder waren diesem System vollkommen ausgeliefert. Kurze Zeit, bevor ich überhaupt anfing wegzulaufen, wurde ich in der Schule das zweite Mal in meinem Leben sexuell missbraucht. Erst viel später, als ich mich mit meinen Erlebnissen in der Boarding School und all den erlittenen Misshandlungen auseinandersetzte, fiel mir auf, dass es eigentlich gar kein Wunder war, dass ich aus der Schule weggelaufen bin. Damals war es einfach nur ein Überlebenstrieb, denn als Kind brachte ich den sexuellen Missbrauch nicht mit meinen Fluchtversuchen in Zusammenhang, nichtsdestotrotz geriet ich dadurch in alle nur möglichen gefährlichen Situationen.
Ich glaube, dass das, was mir in der Boarding School widerfahren ist, den Grundstein für ein Leben in Verbindung mit Verbrechen, Alkohol, Drogenmissbrauch, Gewalt, Gefängnissen und emotionaler Instabilität gelegt hat. Noch Jahre später war ich in diesem Netz gefangen. Dieses vorbildliche amerikanische System, das eigentlich das „Indianerproblem“ lösen wollte und mir als Ersatz anbot, mein Beschützer und Wohltäter zu sein, welches sogar vertraglich die Aufgabe übernommen hatte, mich zu kleiden, mir Unterkunft zu gewähren und mich zu bilden, hat mich buchstäblich fast umgebracht. Bei anderen um mich herum ist ihnen das auch gelungen.
Ich war einer der drei oder vier Jungs, die regelmäßig abhauten. Aber selbst wenn wir in der Nacht weggelaufen waren, hat man uns wieder eingefangen, und während einer von uns im Büro seine Strafe erhielt, saßen wir anderen draußen und warteten, bis wir an der Reihe waren. Was uns nicht daran hinderte, kurz darauf wieder davonzulaufen.
Einmal stahlen ich und ein anderer Schüler zwei Pferde, die der Schule gehörten. Wir ritten davon und erst nach drei Tagen wurden wir geschnappt. Man könnte meinen, wir hätten, ohne dass es uns bewusst war, eine alte Tradition unseres Volkes fortgesetzt, nämlich dem Feind Pferde zu stehlen und ihm zu entkommen. Sie machten noch mehrere Wochen danach Scherze, dass man uns aufhängen würde. Goodlow war so sauer auf uns, dass er uns noch nicht mal mehr im Klassenzimmer haben wollte. Nachdem er uns windelweich geprügelt hatte, ließ er uns Unkraut jäten und alle möglichen niederen Arbeiten verrichten, die ihm gerade so einfielen. Nach diesem Vorfall war er ständig hinter uns her. Er hatte uns buchstäblich auf dem Kieker. Seine Strafen wurden härter, aber mein Ärger wuchs ebenfalls, und ich rannte immer öfter weg. Das legte den Grundstock, dass ich über Jahre hinweg nicht damit aufhören konnte, vor mir selbst wegzurennen. Weglaufen wurde zur Überlebensstrategie.
Mein Zuhause war eigentlich nur etwa 18 Meilen von der Schule entfernt, aber für mich war es in etwa die gleiche Entfernung wie von der Erde bis zum Mond. Manchmal brauchte ich eine ganze Nacht, um die Strecke bis nach Hause zu laufen.
Als ich wieder einmal auf der Flucht war, befand ich mich ungefähr eine Meile außerhalb der Stadt. Die Sonne ging gerade auf und ich lief auf der Nordseite einer Straße entlang, die nach Westen führte. Plötzlich kam aus dem Maisfeld auf der südlichen Seite ein etwas seltsam aussehender Hund heraus. Ich befand mich am nördlichen Seitenstreifen, er auf dem südlichen, und er trottete sozusagen neben mir her. Seine Zunge hing heraus und er hatte einen wilden Blick. Eine knappe Minute liefen wir so nebeneinander her, bis der Hund kehrt machte und wieder im Maisfeld auf der Südseite verschwand. Später wurde mir klar, dass das Tier ein Kojote gewesen war. In vielen eingeborenen Kulturen, wie auch für mich selbst, hat der Kojote eine große spirituelle Bedeutung. Für einige dieser Kulturen ist er ein Schwindler, für andere ein spiritueller Helfer.
Eine der wichtigsten spirituellen Dinge, die wir von Kojoten lernen können, ist seine Fähigkeit zu überleben. Andere Gaben, die uns der Kojote geben kann, sind sein Heilwissen, sein Schutzinstinkt und der Gesang.
Der Kojote hat mir einige seiner Kräfte bereits im Kindesalter mitgegeben, vielleicht wurde ich auch schon damit geboren. Später, als ich zu den spirituellen Wegen unseres Volkes zurückkehrte, gaben sie mir Führung und Unterstützung, und ich spüre, dass sie das noch heute tun. Als ich auf dem Hügel stand, um für mein Volk zu fasten und zu beten, haben sie ihre „Medizin“ mit mir geteilt. In einem Traum erhielt ich eine Medizin, die mir beim Stehlen helfen würde, und kurz darauf bekam ich tatsächlich „Kojotemedizin“, die man zu diesem Zweck benutzen könnte. Ich habe die spirituelle Hilfe, die ich vom Kojoten erhalten habe, niemals benutzt, aber ich würde nicht zögern, es zu tun, wenn es ums Überleben ginge oder wenn mein Volk Hilfe bräuchte. Ich habe schon oft darüber nachgedacht, die „Medizin“ zu benutzen, um der Regierung die Pläne zu stehlen, in denen steht, was sie eigentlich auf lange Sicht mit uns vorhaben. Ich bin mir sicher, sie haben nichts Gutes mit uns vor. Aus ihrer Sicht hin bin ich nun wohl ein Terrorist.
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