Eine dieser Reisen endete schließlich in Washington D.C., wo man Präsident Obama um eine öffentliche Entschuldigung bat, aber dies ist, soweit ich das weiß, bisher noch nicht geschehen, und ich bezweifele, dass das jemals geschieht.
Noch Jahre später, als ich als Erwachsener im Indianerland an diversen Konferenzen teilnahm, passierte es ziemlich oft, dass ich, von den Erinnerungen überwältigt, zu schlucken begann, den Raum verlassen musste, oder mich zumindest in eine stille Ecke des Raumes zurückzog, wenn man auf die Boarding Schools zu sprechen kam. Das passiert mir gelegentlich noch immer. Das letzte Mal war im Februar 2009, als ich eine Vorführung des Filmes „Older than America“, von der Regisseurin Georgina Lightening besuchte. Der Film erzählt darüber, was das Internatssystem den Indianerkindern alles angetan hat. Nachdem ich den Film gesehen hatte, konnte ich den Filmraum gar nicht schnell genug verlassen, so sehr kämpfte ich mit den Tränen. So viel also zu den Einfluss, welcher das Internat auf mich hatte. Obwohl ich bereits 60 Jahre alt bin, bin ich emotional immer noch stark geprägt von diesen Ereignissen.
Ein anderes Mal nahm ich an einer Bildungskonferenz auf der Oneida Reservation, in Oneida, Wisconsin, teil. Ich hörte einem Vortrag von Brenda Child zu, die später das Buch „Boarding School Seasons” verfasste. Sie las alte Briefe von Internatsschülern vor, die sie in der Zeit von etwa 1900 bis in die 1940er an ihre Eltern geschrieben hatten. Ich war so berührt von dem, was sie vorgelesen hatte und war so dankbar, dass ein solches Thema endlich einmal angeschnitten wurde, dass ich mich nach ihrer Präsentation mit einem Handschlag bei ihr bedanken wollte. Als ich mich durch die Menge zu ihr hindurch gekämpft hatte, war ich von meinen Gefühlen so überwältigt, dass ich zu weinen begann. Es war mir ein bisschen peinlich vor den Anwesenden, die mich weinen sahen, aber ich konnte nichts dagegen tun. Aber sie kam mir zu Hilfe, indem sie mich voller Verständnis anschaute und mich einfach umarmte. Später erhielt ich einen Brief von ihr, in dem sie mich darum bat, ein paar Passagen aus dem Lied „Indians“ zitieren zu dürfen. Ich habe dieses Lied selbst geschrieben und aufgenommen und ein Teil davon behandelt das Thema der Boarding Schools. Natürlich war ich einverstanden und sie fügte die Textpassagen des Liedes am Ende des ersten Kapitels ihres Buches „Boarding School Season“ ein.
Ich werde mit den Erinnerungen an meine Zeit in der Boarding School fertig werden müssen, so wie ich inzwischen auch den Tod meiner Verwandten überwunden habe.
Meine Urgroßmutter Mary Louise North war übrigens in der ersten Boarding School der USA: Die Carlisle Industrial Indian School wurde 1879 eingerichtet und befand sich in Carlisle, Pennsylvania. Sie war sozusagen das Pilotprojekt des amerikanischen Internatssystems. Sie war eine Erfindung von Richard Henry Pratt, einem ehemaligen Militärangehörigen, der zum Beruf des Lehrers wechselte. Zuerst unterrichte er indianische Kriegsgefangene in Fort Marion, Florida, wo man die gefangenen Apachen, Cheyenne und Arapaho gebracht hatte. Später unterrichtete er die vielen Indianerkinder, die man von ihren Heimstätten weggeholt und gezwungen hatte, sich den Assimilationspraktiken der Schule zu unterwerfen.
In den Schulunterlagen meiner Urgroßmutter Mary North ist verzeichnet, dass sie Carlisle am 26. Februar 1884 verließ. Von dort aus ging sie nach Genua, Nebraska, um für den Indian Service zu arbeiten. Später erfuhr ich, dass Genua auch eine Boarding School für Indianer war. Sie arbeitete dort eineinhalb Jahre lang und kehrte dann wieder zur Cheyenne Arapaho Reservation nach Oklahoma zurück. Nachdem ich einige ihrer Briefe gelesen hatte, die sie nach ihrem Abschluss an verschiedene Leute geschrieben hatte, gewann ich den Eindruck, dass sie ziemlich dankbar für die Ausbildung gewesen war, die sie dort erhalten hatte. Das steht im vollen Gegensatz zu dem, wie ich über die ganze Sache denke. Auch meine Großmutter Nettie hat das Boarding School System miterlebt. Sie war Schülerin der Concho Indian School, die sich im östlichsten Gebiet der Stammesgrenzen der Cheyenne und Arapaho Reservierung befand. Heutzutage befindet sich dort unser Stammesbüro. Von dort ging sie zur Chilocco Indian School in Nord-Zentral-Oklahoma, direkt an der Grenze zwischen Oklahoma und Kansas. Nachdem beide, meine Urgroßmutter und meine Großmutter zu einem Produkt der Boarding Schools geworden waren, erschien es eine klare Sache, dass der Rest von uns auch dorthin gehen sollte, und da die örtlichen Sozialarbeiter darauf bestanden, hatten wir keine andere Wahl.
Die bitterste Pille, die wir in der Boarding School zu schlucken hatten, war die Behandlung durch die Angestellten. Viele von ihnen waren unsere eigenen Leute, Indianer meine ich. Sie waren teilweise schlimmer als die Weißen, die dort arbeiteten. Mir ist bis heute nicht ganz klar, ob sie nur versuchten, es ihren weißen Vorgesetzten recht zu machen, oder ob sie die Gehirnwäsche so erfolgreich durchlaufen hatten, dass sie sich mit den Unterdrückern bereits identifizierten, oder ob sie einfach nur geistig behindert waren. Was auch immer der Grund gewesen sein mag, sie waren äußerst erfolgreich bei der Ausführung ihrer Mission und mit ihrer übertriebenen Durchsetzung der Internatsregeln. Ich bin sicher, dass sie von den Weißen gut indoktriniert worden waren, uns Kinder so gründlich zu misshandeln.
Die Seneca Indian School war auf dem Land einer der Stämme gebaut worden, die man in dieses Gebiet umgesiedelt hatte. Leiter der Schule war ein Indianer und die Mitarbeiter im Schülerwohnheim waren Indianer, aber die meisten der Lehrer waren Weiße. Ich glaube, es war in meinem ersten Jahr an dieser Schule, als einige von uns Schülern zu einem Ausflug nach Riverton in Kansas mitgenommen wurden, zu einem Ort namens Spring River Inn. Das war das erste Mal, soweit ich mich erinnere, dass ich die große weiße Frau sah, der dieser Platz gehörte. Das nächste Mal, als ich ihr wieder begegnete, war dann allerdings in unserer Schule, als sie sich nach mir erkundigte. Ich verbrachte den ganzen Tag mit ihr und sie fuhr mich in ihrem großen Cadillac herum. Sie lud mich zum Essen ein und war sehr nett zu mir, und ich hatte den Eindruck, dass sie wohl ziemlich wohlhabend war. Am Abend brachte sie mich wieder zur Schule zurück und plötzlich verspürte ich ein unangenehmes Gefühl ihr gegenüber. Ich kann mich nicht genau erinnern warum, aber schon während des ganzen Tages war dieses Gefühl ganz langsam in mir hochgekrochen. Aber ich erinnere mich noch gut daran, dass wir uns unterhielten. Wir waren gerade zurückgekehrt und hielten vor dem Haus mit dem Schlafsaal Nr. 5, in dem die kleineren Jungen untergebracht waren. Das letzte, was sie zu mir sagte, war: „Möchtest du nicht mit mir kommen und bei mir leben? Willst du nicht mein kleiner Junge sein?“ Ich wurde total wütend, sprang aus dem Auto und knallte die Tür zu. „Ich habe bereits eine Mutter“, schrie ich sie an.
Unnötig zu sagen, das war es dann. Ich weiß nicht, wer sie geschickt hatte und wer ihr von mir erzählt hatte, aber ich weiß, dass meine Teilnahme an diesem Ausflug zu ihr ein abgekartetes Spiel gewesen war. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, ein ahnungsloses kleines Indianerkind zu adoptieren. So etwas geschah mit vielen unserer Kinder. Wie dem auch sein, ich konnte zwar verhindern, dass sie mich adoptierte, aber einige Jahre später adoptierte sie meinen jüngeren Bruder. Ich sah ihn erst wieder, bis wir beide Teenager waren, und auch dann nur sporadisch bis wir in den Zwanzigern waren, und auch dann nur, wenn die Initiative von mir ausging. Gegen Ende seiner Jugendzeit haute er schließlich ab, er„floh“ sozusagen von ihr, um es mit seinen eigenen Worten zu sagen. Danach lebte er eine Zeit lang bei einem älteren Ehepaar im Südosten von Kansas, aber er kam fast nie nach Hause, um unsere Mutter zu besuchen. Irgendwie ist das Band, das Mutter und Kind miteinander verbindet, durch diese Adoption kaputt gegangen. Es war etwas, das gegen den Willen unserer Mutter geschehen ist, aber wie ich schon erwähnt habe, hatte sie nicht die Kraft, „sie zu bekämpfen“. Es gibt noch viel mehr über dieses Thema zu sagen, worauf ich später noch einmal zu sprechen komme.
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