«Aber Schätzchen …»
«Sie fahren von A nach B. Ich muss auch von A nach B. Das ist das Gemeinsame zwischen uns zwei. Sonst aber …» Sie lächelt bösartig. «Wollen Sie es hören?»
Er zieht die Hand zurück, schüttelt den Kopf und schweigt.
Sie schläft in einer Telefonkabine beim Bahnhof. Frühmorgens wird sie von einem orange gekleideten Mann wachgeschüttelt. «Was machen Sie hier?»
«Was denken Sie?» Marguerite schaut ihn fragend an. «Na, kommen Sie, raten Sie! Das dürfte doch nicht so schwer sein, oder?»
Er schultert kopfschüttelnd seinen Besen. «Die Leute aus der Stadt …»
«… die müssen auch irgendwo schlafen, Mann! Rechnen Sie mal: In der Stadt wohnen viele tausend Menschen. Können Sie mir folgen? Na gut. Wenn die jetzt alle hier in Tiefencastel schlafen wollen, dann hat es doch nicht für alle Platz im Hotel. Richtig?»
«Richtig», murmelt er und zündet sich eine Brissago an.
«Und darum habe ich eben in der Telefonkabine übernachtet. So einfach ist das.»
Der erste Zug nach Chur fährt ein, Marguerite steigt ein, winkt aus dem Fenster dem Mann zu, er winkt paffend zurück. «Die Leute aus der Stadt …»
Knapp eine Stunde später sitzt Marguerite in einem Büro des Churer Bahnhofs einem älteren Beamten gegenüber.
«Sie fahren ohne gültigen Fahrausweis, weigern sich, mir Ihren Namen anzugeben, und behaupten obendrein, bedroht zu werden. Und das soll ich Ihnen glauben?»
«Kann ich einen Kaffee haben? Wenn Sie auch noch ein Croissant hätten – ich hatte keine Gelegenheit zu frühstücken.»
«Auf unsere Kosten vielleicht?» Der Bahnbeamte hämmert auf sein Pult. «Dies ist nicht der städtische Sozialdienst, dies ist die Rhätische Bahn.»
«Und ich habe gedacht, es sei die Heilsarmee.» Sie lächelt müde. «Wegen der Uniform, wissen Sie …»
Er starrt sie an und wartet. Wartet schweigend. Ihre Worte verlieren an Schärfe, ihr Gesicht wird immer grauer, ihre Bewegungen fahriger. Sie hat gedacht, dass sie es schaffen könnte, dass sie wegkommt irgendwie, irgendwohin. Doch ihr fehlt die Kraft. Sie braucht etwas, muss sich beruhigen, muss vergessen können. Der Mann vor ihr sieht aus wie ihr Vater, streng, aber keinesfalls böse.
Endlich bricht es aus ihr heraus. «Mein Name ist Marguerite Duval.»
Er schaut sie erstaunt an. «Marguerite Duval?» Dann öffnet er die Zeitung auf seinem Schreibtisch, vergleicht ihr Gesicht mit dem Foto, das vor ihm liegt. «Marguerite Duval wird trotz Morddrohungen lesen», steht in grossen roten Buchstaben neben einem grob gerasterten Bild.
«Ja, ich bin Marguerite Duval, die Schriftstellerin. Mein Manager Jean-Pierre Murat ist im Palace Hotel in St. Moritz. Sagen Sie …, sagen Sie ihm bitte, er soll mich hier abholen, ich bin …» Marguerite Duval bricht bewusstlos zusammen.
In St. Moritz besteigt Jean-Pierre Murat um zehn Uhr morgens zusammen mit Linda Steiner, der Journalistin von der «Glücks-Fee», einen Mietwagen.
Zur gleichen Zeit sitzen Freddy und Felix in Schaffhausen bei einem Kaffee auf dem Fronwagplatz und warten auf einen Telefonanruf.
Zwei Strassen weiter hockt ein dicker Mann mit Glatze hinter seinem grossen Schreibtisch und gibt zwei jungen Männern letzte Anweisungen.
Und genau um zehn Uhr fährt beim Hotel Chlosterhof in Stein am Rhein ein himmelblauer Porsche vor. Ein Mann steigt aus, sportlich gekleidet, eine dunkle Sonnenbrille auf der Nase. Er nimmt eine kleine Reisetasche vom Hintersitz des Wagens und betritt das Hotel.
«Kann ich Ihnen behilflich sein?»
«Ich habe heute Morgen angerufen und ein Zimmer reserviert. Soldini ist mein Name, Pietro Soldini.»
Der Portier blättert in einem Buch, das vor ihm liegt. «Genau, da haben wir es. Sie bekommen ein Zimmer im dritten Stock. Südbalkon, wie Sie gewünscht haben.»
Soldini nickt zufrieden. «Darf ich Sie bitten, meinen Wagen noch wegzustellen? Er steht draussen im Halteverbot.» Und er schiebt dem Portier den Schlüssel und eine Banknote zu.
Der Portier deutet eine Verbeugung an, kommt hinter seiner Theke hervor und geht hinaus.
Soldini wartet, bis der andere verschwunden ist, zieht das Buch mit den Reservationen zu sich herüber, blättert und schaut sich die verschiedenen Einträge an.
Dann lächelt er zufrieden.
«Wenn Jean-Pierre nicht anruft, haben wir heute frei.» Felix blinzelt in die Sonne.
Freddy spielt mit dem leeren Zuckerbeutel. «Wir könnten uns den Rheinfall anschauen.»
«Den Rheinfall. Ich bitte dich. Sind wir Japaner?»
«Wann warst du das letzte Mal dort?»
«Spielt es eine Rolle?» Felix setzt die Sonnenbrille auf und beobachtet eine Gruppe fotografierender Touristen.
«Sag schon!»
«In der ersten Klasse. Auf der Schulreise.»
Ein Lächeln breitet sich auf Freddys Gesicht aus. «Siehst du? Dann ist es wirklich höchste Zeit!»
«Lass mich in Ruhe mit deinem blöden Rheinfall. Die Schulreise hat mir gereicht.»
Eine Melodie ertönt, das Telefon auf dem Tisch vibriert.
«Ja?» Freddy hört eine Weile zu, nickt, sagt «In Ordnung» und «Das werden wir uns überlegen» und legt das Handy auf den Tisch zurück.
«Na, was ist?»
«Sie kommen. Bereits heute Nachmittag. Es hat Scherereien gegeben, Jean-Pierre hat gesagt, wir sollten uns einen geeigneten Ort suchen, der sehr belebt ist. Dort erledigen wir die Sache.»
«Komm, gehen wir.» Felix legt das Geld auf den Tisch und zieht Freddy mit sich fort.
«Was hast du vor?»
«Wir schauen uns den Rheinfall an!»
VIER
Gegen Mittag trifft Jean-Pierre in Chur ein. Er parkt vor dem Stationsgebäude.
«Weisst du, was das ist, Linda?» Er zeigt auf die Halteverbotstafel neben dem Wagen.
«Eine Verbotstafel, fahr weiter, schnell.» Die Journalistin der «Glücks-Fee», die Murat seit der Pressekonferenz gestern Abend nicht mehr von der Seite gewichen ist, zeigt auf ein Parkfeld weiter drüben.
Jean-Pierre öffnet die Wagentür. «Das ist keine Verbotstafel, das ist Luxus, verstehst du?» Dann verschwindet er im Gebäude.
Die Journalistin nimmt die Kamera, steigt aus und setzt sich im Schatten auf eine Parkbank.
Wenig später fährt der Stadtbus vor, ein grelles Hupen, Linda Steiner hebt die Kamera, ein erstes Bild zeigt, wie der Bus knapp am grossen Audi vorbeimanövriert, ein zweites, wie der Chauffeur aussteigt und den Wagen betrachtet, ein drittes, wie er sein Handy zückt und telefoniert. Dann fährt der Bus weiter. Linda wartet.
Kaum drei Minuten später fährt ein Streifenwagen vor, durch die Linse sieht die Journalistin, wie ein Beamter umständlich einen Bussenzettel ausfüllt und ihn unter die Windschutzscheibe klemmt. Dann geht die Türe des Stationsgebäudes auf. Jean-Pierre erscheint. Neben ihm bleich und mit unsicherem Gang die Schriftstellerin Marguerite Duval. Linda hat sie noch nie so gesehen, ungeschminkt, zerzaustes Haar, zerknitterte Kleidung. Immer wieder drückt sie ab, fotografiert, wie die beiden sich dem Wagen nähern, wie Jean-Pierre Marguerite die Tür öffnet und ihr beim Einsteigen hilft, ohne den Polizisten zu beachten, der sich nun dem Wagen nähert, auf das Halteverbotsschild deutet und mit dem Bussenzettel vor Jean-Pierres Gesicht herumwedelt. Dann noch eine letzte Aufnahme, Jean-Pierre zückt seine Brieftasche, zieht eine Note heraus, lächelt. Dann winkt er Linda zu, wartet, bis sie beim Audi ist, und öffnet ihr galant die Türe.
«Schade um dein Geld.»
«Du bist eben zu kleinlich. Ausserdem gibt das doch eine prima Story für dein Blatt, oder nicht?»
«Glaubst du, dass so etwas meine Leserinnen interessiert?»
«Sonst hättest du wohl nicht so oft abgedrückt.»
Murat startet den Motor und lenkt den Wagen durch die Stadt. «Und du wirst noch einiges mehr zu sehen bekommen, das deinen Leserinnen gefallen wird.»
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