Die neuen alten Frauen

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In diesem Buch geht es weder um Demografie noch um Wissenschaft. Hier kommen ältere, insbesondere allein lebende Frauen zu Wort, die selbstbewusst Ich sagen und von sich und ihrem Alltag schreiben. Die Autorinnen berichten aus unterschiedlichen Perspektiven über ihr gelebtes Leben, teilen Erfahrungen mit, erzählen von ihren Netzwerken. Sie denken über Freundschaft und Spiritualität nach und schreiben auch von Verlusten, vom Verlust des Partners, und wie sie nun allein leben.
Frauen zwischen sechzig und neunzig – eine Generation, die wie keine zuvor markante Veränderungen der Frauenrolle erlebt und erkämpft hat: Wie gestalten sie die Jahre, die ihnen noch bleiben? Wie erkennen sie ihre Möglichkeiten, Fähigkeiten und offenen Wünsche? Wie gehen sie um mit Altern, Abschied und Tod?

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Die neuen alten Frauen

Das Alter gestalten – Erfahrungen teilen – Sichtbar werden

Herausgegeben von Marie-Louise Ries und Kathrin Arioli

Mit Texten von Marianne Haussmann, Helga Hofmann, Andrea Kippe, Marie-Louise Ries, Usch Vollenwyder, Marianne Waldvogel-Schläpfer, Christine Wieland und Heidi Witzig

Limmat Verlag

Zürich

Reiche Ernte. Emanzipierte Frauen reflektieren ihr Altwerden

Herbstbuntes Alter – farbige Stühle

«An unserer Strasse in einem Einfamilienhausquartier sind nun alle Frauen verwitwet», erzählt eine Frau im Frühjahr 2014. «Wir nennen sie daher die Witwenstrasse. Wir befassen uns gemeinsam mit unserer Situation, wir organisieren uns, helfen einander, reisen auch ab und zu gemeinsam. Ein wichtiges Resultat aus unseren Gesprächen ist: Alle haben einen Stuhl farbig ­bemalt. Wenn eine Frau den Stuhl vor die Türe stellt, sehen die andern: Sie möchte nicht allein sein, jemanden zum Gespräch einladen. Und es klappt – und vermittelt uns das Gefühl, wahrgenommen, eingebettet, mitgetragen zu sein.» (vgl. Literaturliste Allein in der Villa: Grossmütter und Erbtanten In wohlhabenden Kreisen war – wie in Arbeitsgemeinschaften – das Zusammenwohnen von zwei oder drei Generationen bis zur Zeit des Zweiten Weltkriegs üblich. Allerdings bot eine Villa ausreichend Platz für mehrere separat geführte Haushalte. In vielen grossbürgerlichen Häusern lebten im einen Stockwerk die alte Mutter oder Tante mit ihrem Dienstmädchen, im anderen der Sohn oder die Tochter mit Familie und Dienstpersonal. Erinnern wir uns an Ida Bindschedlers Roman «Tur­nachkinder»: Die dort geschilderte Grossmama residierte alleine – natürlich mit Personal – in einem grossen Stadthaus und versammelte regelmässig an Sonntagnachmittagen und hohen Festtagen ihre gesamte Familie im Salon um sich herum. In der Regel blieben diese Patriarchinnen Besitzerinnen ihres Vermögens; erst nach ihrem Tod wurde das Erbe geteilt. Diese Frauen blieben in der Regel tätig, so lange sie irgendwie konnten, sei es innerhalb der Familie oder auch in gemeinnützigen Organisationen, wo sie weiterhin Kontakte zu Frauen ihrer Kreise pflegten. Die Idee des Ruhestandes als Phase des Alterns ohne materielle Sorgen und ohne die gewohnten öffentlichen Aktivitäten wurde um 1900 zwar schon propagiert, aber kaum realisiert. S. 137–139)

Die heute sechzig- bis neunzigjährigen Frauen waren in den frauenbewegten Siebzigerjahren jung. Keine Frauengeneration zuvor hat in ihrem Leben eine so intensive emanzipatorische Wegstrecke und so einschneidende Veränderungen der Frauenrolle miterlebt.

Heute wird das Alter länger. Es wird weiblicher, weil Frauen älter werden als Männer. Und die alleinlebenden Frauen werden mehr: Von der gesamten Bevölkerungsgruppe der 65- bis 74-Jährigen leben in der Schweiz 15 Prozent der Männer und 45 Prozent der Frauen allein; ab achtzig leben schon zwei von drei Frauen allein. Es sind die Frauen, die die «Kultur des langen Lebens» (Pro Senectute) prägen. Und sie sind daran, neue, zukunftsgerichtete Drehbücher für ein gutes Alter zu entwerfen und mit Leben zu füllen.

Wie aber zeigen sich Beitrag und Bedeutung dieser älteren Frauen in der heutigen Gesellschaft? Wir haben in einem Frauennetzwerk über diese Frage in verschiedenen Gruppen nachgedacht, nachgefragt und geforscht. Ja natürlich, wir kümmern uns um unsere Enkel, um pflegebedürftige Partner oder alte ­Eltern. Wir engagieren uns in sozialen Projekten, Nachbarschaftsnetzen, Parteien und Non-Profit-Organisationen. Kaum aufsehenerregend. Aber alte Frauen sind auch Pionierinnen im Initiieren und Erproben von zukunftsweisenden Wohn- und Gemeinschaftsformen, sie schaffen neue Netzwerke und Beziehungsmuster.

Frauentypisch: Eigene Erfahrungen ernst nehmen, erkunden, formulieren

Eine unabhängige Gruppe organisiert seit bald zwanzig Jahren im Herbst jeweils eine grosse «Impulstagung» in Zürich zu Themen des Älterwerdens als Frau. Daraus haben sich zahlreiche soziale, kulturelle und politische Aktivitäten entwickelt.

Aus diesem Frauennetzwerk fanden sich im Herbst 2010 interessierte Frauen zusammen zu einer Arbeitstagung. In der Diskussion wurde klar: Wir können uns nicht mehr an den Lebensmustern unserer Mütter orientieren. Und wir wollen der Fremddefinition, wie Frauen altern, etwas Eigenes entgegensetzen – auch wenn wir dankbar sind für die Forschungsarbeiten von Pasqualina Perrig-Chiello und François Höpflinger oder die Age Reports zum Neuen Wohnen, die für uns einen guten Boden gelegt und Fragen nach dem eigenen Erlebten wachgeru­fen haben. Wir wollen – wie es uns die Frauenbewegung gelehrt hat – ganz von unseren eigenen Erfahrungen ausgehen. Und diese Erfahrungen und das, was uns geprägt hat und antreibt, ernst nehmen.

Nach der Starttagung 2010 arbeiteten 38 Frauen (zwischen 62 und 83 Jahre alt) während zwei Jahren in sechs thematischen Arbeitsgruppen an den von ihnen selbst ausgehandelten Fragestellungen. Wir nannten das Projekt «Neue Frauen-Alterskultur» (NFAK). Dazu entstand eine offene, basisdemokratische Projektstruktur, mit Verbindlichkeit bezüglich Einsatz an Zeit und Präsentation der Zwischen- und Endresultate, aber mit viel Freiheit in der gewählten Methodik. Ein Koordinationsteam erarbeitete gemeinsam mit den Teilnehmerinnen während und zwischen den Vollversammlungen rollend die nächste Arbeitsetappe. Immer war klar, der Weg und das Erlebnis der Zusammenarbeit waren ebenso wichtig wie die Ergebnisse. – Wir erlebten die gemeinsame Arbeit als anspruchsvoll und lustvoll!

Das Projekt «Neue Frauen-Alterskultur» machte Schulterschluss mit der «GrossmütterRevolution» des Migros Kulturprozent und erhielt von dort auch finanzielle Unterstützung. Der zusammenfassende Schlussbericht ist in der Literaturliste am Schluss des Buches aufgeführt.

Die alten alleinlebenden Frauen – eine gesellschaftliche Kraft

Zwei der sechs Arbeitsgruppen befassten sich mit den im Alter alleinlebenden Frauen. Obwohl zahlenmässig gross, führt diese Gruppe eher ein Schattendasein und zeigt sich kaum sichtbar als gesellschaftliche Kraft. Die mediale Präsenz im Alter gehört weitgehend dem Paar.

In den Beiträgen dieses Buches steht daher diese Gruppe mit ihren Lebensfragen und Erfahrungen im Zentrum. Es geht zum Beispiel um Fragen zum Umgang mit dem Verlust des Partners, um das Talent des «Dazugehörens» und um die im Alter immer wichtiger werdenden, umsichtig gestalteten Freundschaften. In anderen Texten beschreiben Autorinnen, wie wir mit immer wieder erlebter Abwertung umgehen, wie wir aus eigenen Lebenserfahrungen Kraft schöpfen oder wie wir das spirituelle Innehalten als Quelle für ein gutes Leben nutzen.

Die neuen alten Frauen – Pionierinnen auf vielen Gebieten

Die Autorinnen der Texte gehören einer Generation von Frauen an, die in der Zeit um den Zweiten Weltkrieg herum geboren sind, in den Fünfzigerjahren erwachsen wurden, 1971 als erwachsene Frauen das Stimm- und Wahlrecht erhielten und zehn Jahre später miterlebten, dass der Grundsatz der Gleichberechtigung von Frau und Mann in die Bundesverfassung aufgenommen wurde. Diese Generation von Frauen, die sich nun selbstbewusst «neue alte Frauen» nennen, hat viel gekämpft, sich vieles erstritten und vieles erreicht.

Die Welt hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg grundlegend verändert. Die bürgerliche Kleinfamilie als dominierende Familienform gibt es nicht mehr, die Beziehung der Geschlechter hat neue Formen angenommen, die Gleichstellung von Frau und Mann wurde rechtlich verankert. Viele Schritte auf dem Weg zur tatsächlichen Gleichstellung wurden erreicht – und dennoch bleibt vieles zu tun.

Männer wie Frauen erfahren Diskriminierung, wenn sie ­äl­­ter werden, aber ältere Frauen erleben das Altern anders. Die Auswirkungen der Ungleichstellung der Geschlechter, die sie ein Leben lang erfahren haben, verschärfen sich im Alter. So führen die fehlende Lohngleichheit und die Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen bei der bezahlten und unbezahlten Arbeit dazu, dass die finanziellen Ressourcen der Frauen durchschnittlich deutlich schlechter sind als jene von Männern.

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