Manchmal waren wir zu erschöpft, um die Bananen den ganzen Weg wieder nach Hause zu tragen – und sie zu essen, gekocht oder gebraten, war mir auch verleidet. So überliessen wir sie andern, die ein Transportmittel hatten. Die nahmen sie mit, kochten sie und verfütterten sie den Schweinen. Wenn wir ohne Geld und Bananen zurückkamen, sah ich jeweils den Schmerz und die tiefen Furchen in Granmas Gesicht.
Wann immer sie konnte, schickte uns Mutter Geld und manchmal ein Paket. Sie sandte uns alles, was ihr in den Sinn kam: Süssigkeiten, Puppen, Murmeln, Höschen, Schuhe, Strümpfe, Haarspangen, Seifen – aber genug war es nie. Grossmutter blieb arm. Hunger litten wir jedoch nie, weil da die beiden Tanten waren, die nebeneinander wohnten und einen kleinen Laden besassen. Die eine mussten wir «Auntie» nennen, obwohl sie nicht wirklich eine Tante war, sondern einfach eine gute Freundin von Gran. Sie hatte auch zwei englische Mädchen, und sie mochte uns sehr. Unserer richtigen Tante, einer Halbschwester meines Vaters, standen wir nie sehr nah. Sie grüsste uns, gab uns manchmal einen Keks, aber sie war ziemlich geizig. Sie hatte elf Kinder. Meine «falsche» Tante war älter und intelligenter; meine richtige Tante war nur Bäckerin.
Es gefiel mir, mit Auntie und den beiden Mädchen, die etwas älter waren, im Laden Kunden zu bedienen. Neben der Bartheke gab es eine Ecke mit Esswaren, wo gesalzener Trockenfisch oder je nach Saison auch frischer Fisch verkauft wurde, in gesalzenes Wasser eingelegtes Rinds- oder Schweinefleisch, Reis, Büchsenfleisch, Öl und Butter, die in einer grossen Plastiktonne fast schmolz.
Am schönsten war es, wenn in dem dunklen kleinen Dorf mit seinen zwei Laternen meine Gran alles stehen- und liegenliess, um, mit etwas Rum intus, zu den Trommeln zu tanzen. Niemand wollte die Samstagnacht im Rum-Shop verpassen. Kaum zehn Leute konnten in dem Laden stehen oder sitzen. Männer und Frauen tanzten zusammen und machten Musik mit Trommeln und Gitarre. Jemand führte den Blinden her; er war der einzige, der die Gitarre richtig spielen konnte. Die Lieder handelten von den Leuten im Dorf, von Liebenden, die heimliche Affären hatten. Die Betrogenen erfuhren manchmal erst durch die Lieder davon, und der Streit zwischen Mann und Frau ging los. Es gab ein Lied, das hatte nur zwei Zeilen: «Bumsen ist süss, aber Schwangersein gar nicht.» Das wurde natürlich in Patois gesungen, da klingt es viel hübscher.
Einmal im Monat war Tanznacht in der Dorfhalle, die für alles mögliche, Politik, Hochzeit, Versammlungen, benutzt wurde. Viele konnten sich den Eintritt nicht leisten, aber von ganz St. Lucia kamen die Leute. Ich ging auch hin, um meine Schulkameraden zu sehen und vor allem meine Boyfriends. Ich war etwa acht damals; ja, in diesem Alter hatte ich schon Liebe im Kopf.
Ich erinnere mich an einen Film. Es war der einzige Film, den ich in den zehn Jahren auf St. Lucia gesehen habe. Er hiess «Samson und Delila». Diese Delila war für mich die schönste Frau der Welt. Sie hatte einen wunderschönen Körper und wunderschöne Brüste. Sie war vollkommen, mit ihren schwarzen Haaren, sie war geheimnisvoll, und ich wollte sein wie sie, wollte, dass Männer meinetwegen den Kopf verloren.
Nachdem sie meine Heldin geworden war, konnte ich monatelang nicht richtig schlafen. Ich wollte Brüste wie sie, nur grösser. Ich hatte immer was übrig für grosse Brüste, nicht so gross wie eine ausgereifte Wassermelone, aber so, dass es eine Handvoll hergibt. Ich glaubte den Altweibergeschichten, die meine Freundinnen erzählten, und so gingen wir zum Fluss, versuchten Flusskrebse zu fangen und sie an unseren kleinen Brüsten zu reiben. Dann standen wir in einer Reihe über den Fluss gebeugt, um zu schauen, ob sie wuchsen.
Dabei wurden wir einmal von meiner Cousine Ilin beobachtet, die immer im falschen Moment auftauchte. Sie war älter als wir, hatte ein Kind und war wie üblich nicht verheiratet. Ihr Freund war ein Frauenheld, der sie nur gerade zum Liebemachen ein paarmal pro Woche besuchte. Sie war noch nicht so alt, ich weiss nicht, wie alt. Das Alter interessiert auch heute noch kaum jemanden in St. Lucia, das scheint eher eine europäische Krankheit zu sein.
Ilin war entrüstet, als sie uns sah, sie rief meinen Namen. Ich kriegte einen mächtigen Schrecken, zitterte am ganzen Körper vor Scham und begann zu weinen. Sie sagte höhnisch: «Was würde Grossmutter von all dem denken – Krebse an deinen Brüsten zu reiben, du schmutziges kleines Mädchen!» Ich hoffte, sie würde nichts erzählen, aber sie tat es doch.
Gran war oft im Spital, doch wusste ich nicht, wie krank sie war. Sie sprach nie über ihre Krankheit; nur wenige merkten, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie ging kaum mehr irgendwohin, sogar der Kirchgang, den sie nie versäumen wollte, war zur Qual geworden.
Sie, die Heilerin, hatte vielen Kindern das Leben gerettet, aber sich selber konnte sie nicht helfen. Ich wusste nicht, wie sie heilte, ich sah nur, dass neugeborene und etwas ältere Babys zu ihr gebracht wurden. Sie benutzte keine Medizin, keine Tabletten, nur ein besonderes Fett, das beim Erhitzen zu Öl wurde und nach Muskat roch. Sie verrieb es auf dem Bauch der Babys und schloss dabei die Augen. Wir konnten sie nicht fragen, warum sie das tat, wir durften die Küche auch nicht betreten, wenn die Prozedur stattfand. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie immer im selben Stuhl sass und das Ritual wiederholte.
Eines Tages besuchten wir Gran im Krankenhaus. Das kam selten vor, weil es keine Fahrgelegenheit gab. Ben und ich waren aufgeregt, nicht nur weil wir Gran besuchten, sondern weil wir in einem Auto fahren und das Dorf für einen Tag verlassen durften. Für mich wurden dann drei Tage daraus, denn als wir ankamen und ich Gran sah, kreideweiss, wo sie doch eine rothäutige Frau ist, da fühlte ich mich auf einmal komisch und bekam Angst. Ich habe Krankenhäuser nie gemocht; der Geruch bringt mir den Magen durcheinander. Mir wurde übel und schwindlig, und als ich wieder zu mir kam, fand ich mich in einem Spitalbett wieder. Ich hatte das eigenartige Gefühl, dass Gran sanfte Magie auf mich ausübte. Und heute denke ich auch, dass sie etwas von ihren magischen Kräften an mich weitergegeben hat.
In den Tagen, da ich mit ihr zusammen war, habe ich sie zum ersten Mal – und vielleicht zum letzten Mal – richtig wahrgenommen. Ich war etwa zehn damals. Ich war schüchtern und rannte vor allen und allem davon. Ich lebte in meiner alten Welt, wollte zurück nach London. Granma fand, ich sei herzlos und würde sie nicht so lieben wie mein Bruder. Aber sie wusste, dass ich ehrlich und sanft war. Sie war eine starke Frau, religiös, mit magischen Kräften, und ich war das komplette Gegenteil. Ich war wild, wild auf Jungs auch. Sie sagte einmal zu mir, ich würde eine jamet werden, ein Mädchen, das mit allen Jungs im Dorf was haben würde, sehr irdisch, mit nichts als Sex im Kopf. Sie brachte es nicht direkt in diesen Zusammenhang, aber ich glaubte zu verstehen, was sie meinte. Im Grunde genommen konnte sie Mädchen nicht ausstehen, sie fand, sie seien schmutzig und eitel und brächten nur Babys nach Hause. Sie verhehlte nicht, dass sie Jungs vorzog; ich war nie so gut wie Ben.
Granma lag auf ihrem Krankenbett. Sie sah müde und ausgelaugt aus. Ihre Hände und Füsse waren von der harten Arbeit gezeichnet, wie von einem Gitter. Sie beschwerte sich nie, borgte nie etwas, erwartete nie Mitleid. Diese Art von Stolz, vermute ich, erwartete sie auch von mir. Sie lag da und schaute mich an. Ihre langen schwarzen, zu Zöpfen geflochtenen Haare waren grau geworden. Sie trug ein Spitalhemd über ihrer sehr hellen, faltigen Samthaut – ein richtiges Nachthemd hatte sie sich nicht leisten können. Sie hatte ja immer nur für uns gelebt, und ich hatte es nicht verstanden. Ich sah sie jetzt als schwache, zerbrechliche Frau, die mich auf ihre Art liebhatte. Sie war sehr besorgt, was mit uns geschehen würde.
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