An dem majestätisch gelassenen Talleyrand perlte derlei ab. »Schade, dass ein so großer Mann so schlechte Manieren hat«, soll er bloß beim Hinausgehen gesagt haben. Napoleon musste dann auch vor ihm »dran glauben«. Als Napoleon nach St. Helena verbannt wurde und dort an Magenkrebs mit Lymphknotenbefall starb, blieb Talleyrand ein Faktor in der Politik. Er diente in seinem politischen Leben sechs Regimen. Zuerst der vorrevolutionären Kirche, danach der Revolution, dem Direktorium, dem Kaiserreich, den Bourbonen und am Ende dem Bürgerkönig Louis Philippe. Das Geheimnis hinter seiner Strategie war, einstecken zu können, ohne auszuteilen. In seiner Branche gibt es dafür auch ein Wort mit zehn Buchstaben: Diplomatie. Der Zornige gewinnt vielleicht eine Schlacht, aber nie den Krieg. 26
In dieser Kunst übte sich im Mai 2020 übrigens auch der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz in bemerkenswerter Weise. Es ging um die Situation der Kunst in der Corona-Krise. In einer Einblendung kritisierte ihn der Direktor des Theaters an der Josefstadt ungewöhnlich hart und teilweise untergriffig. Der Kanzler nickte. »Der Herr Direktor hat recht. Wir werden uns das überlegen.«
Am Sonntag war der Theaterdirektor erneut eingeladen. Der Direktor war nun wie ausgewechselt. Sinngemäß sagte er, dass die Meinung des Kanzlers viele interessante Aspekte habe, dass er sich offenbar ehrlich bemühe und dass man sehen werde, was die Zeit bringe. Besonnenheit, auch wenn sie glatt ist und bloß als politische Methode der Empfehlung von Spin-Doktoren folgt, führt offenbar zu Besonnenheit.
Manche Menschen tun sich damit leichter, andere schwerer. Denn die Ursachen für Jähzorn liegen oft in der Endokrinologie. Sie haben zum Beispiel mit dem Testosteronspiegel zu tun, der bei jedem Menschen genetisch determiniert ist. Mit ihm steigt der Hang zur Aggression. Davon mehr im dritten Teil, in dem wir uns auch mit der Wirkung unseres Hormonhaushaltes auf unser Verhalten und mit der Wirkung unseres Verhaltens auf unsere Hormone befassen werden.
Am Nordufer des Sees Genezareth
Die Geisteshaltung des Nachgebens und Hinnehmens, selbst wenn wir ungerecht behandelt werden, wurzelt im Christentum. Genau genommen entstand sie am Nordufer des Sees Genezareth. Es ist ein magischer Ort mit warmen Quellen, und wo warme Quellen sprudeln, schwimmen meist auch viele Fische, die wiederum Fischer anlocken. Dort, auf einer Erhebung, hielt Jesus Christus die Bergpredigt, vor Fischern, die seine Apostel wurden, und in der er die Sache mit der zweiten Wange erstmals verkündete.
Im Matthäus-Evangelium finden wir die Bergpredigt mit ihrer zeitlosen Gesetzmäßigkeit. Als Jesus die vielen Menschen sah, stieg er auf einen Berg, heißt es dort. Er setzte sich, und seine Jünger traten zu ihm. Dann begann er zu reden und lehrte sie. Dann kommt Jesus zur Sache. Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.
Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.
Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.
Der Verzicht auf Gegenwehr hat freilich auch in der Bibel nichts mit Kapitulation zu tun. Um das zu erkennen, bedarf es einen Blick auf die sprachlichen Feinheiten. Im Griechischen und im Hebräischen bedeutet »keinen Widerstand leisten« eigentlich, »du sollst deine Art überwinden«.
Unsere »Art« meint grob gesagt unseren Egoismus, das von unserem Willen geschaffene Konstrukt unserer Überzeugungen, Ideen und Wünsche, das wir vor uns hertragen, und mit dem wir uns oft genug selbst im Weg stehen. Als der Rabbi Akiba, einer der bedeutendsten Väter des Judentums, gefragt wurde, wie er sein hohes Alter erreicht habe, antwortete er: »Ich habe nicht auf meine Art bestanden.«
Das bedeutet, er konnte nachgeben.
»Leiste keinen Widerstand und lass dich auf die andere Wange schlagen« heißt in Wahrheit »Entledige dich deiner alten Muster, sei nicht dein altes Du, dein erzürnbares Ego, sondern wachse über deine Art hinaus«. Mit Schwäche hat das ganz bestimmt nichts zu tun.
Dass wir diese Art der Demut, die Kunst des Nachgebens, nicht einfach von heute auf morgen lernen können, ist klar. Entscheiden wir uns dafür, wird unser erster Impuls, wenn uns jemand auf die Zehen steigt, wohl trotzdem noch eine Weile kein herzliches Dankeschön sein. Das verlangt Übung. Askese. Und Training der inneren Ausgeglichenheit, denn je unruhiger unser Geist ist, desto leichter lassen wir uns reizen.
Die Feldrede nach der Bergpredigt
In der Feldrede, einem Teil des Lukasevangeliums, in dem Jesus seine Lehre verkündet, klingt die Botschaft ganz ähnlich. Euch, die ihr mir zuhört, sage ich: Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen. Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch misshandeln. Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halt auch die andere hin, und dem, der dir den Mantel wegnimmt, lass auch das Hemd. Gib jedem, der dich bittet; und wenn dir jemand etwas wegnimmt, verlang es nicht zurück. Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen. Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder lieben die, von denen sie geliebt werden. Und wenn ihr nur denen Gutes tut, die euch Gutes tun, welchen Dank erwartet ihr dafür? Das tun auch die Sünder. Und wenn ihr nur denen etwas leiht, von denen ihr es zurückzubekommen hofft, welchen Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder leihen Sündern in der Hoffnung, alles zurückzubekommen. Ihr aber sollt eure Feinde lieben und sollt Gutes tun und leihen, auch wo ihr nichts dafür erhoffen könnt. Dann wird euer Lohn groß sein und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!
Egoismus, der sich im Kleid der Nächstenliebe verbirgt, hat da keine Chance mehr. Der Effekt eines solchen Verhaltens, ins Heute umgelegt, wäre sicht- und messbar. Wir bräuchten weniger Rechtsanwälte und würden unser Herz-Kreislauf-System entlasten. Mahatma Gandhi hat gezeigt, dass sich damit auch Politik machen lässt. Gewaltlos lässt sich die Welt verändern. Das gilt für jeden Menschen und jedes politische Problem. Würden wir das Wangen-Gebot im Nahen Osten einhalten, gäbe es dort möglicherweise schon Frieden. Das ist die große Conclusio: Böses mit Bösem zu vergelten, führt zu einer exponentiellen Ausbreitung des Bösen. Böses mit Gutem zu vergelten, führt zu einer exponentiellen Ausbreitung des Guten.
Umso nachdenklicher stimmt es, wenn die Symbole dieser Botschaft in Flammen aufgehen. In Frankreich und Amerika brennen immer öfter Kirchen und Heiligenstatuen werden geköpft. 27Weltweit werden immer mehr Christen verfolgt. Wer darüber spricht, wird schnell als islamophob oder rechtsextrem gebrandmarkt. 28Und Brüssel schweigt dazu.
Charakterfitness-Trainingsstufe fünf:
Höre auf den Wald
In der Natur liegt eine Kraft, die uns zu besseren Menschen macht. Wenn wir uns mit ihr vereinen, vereinen wir uns letztlich auch mit uns selbst und mit einem größeren Ganzen, das uns die Dinge relativer sehen lässt. Doch Natur ist mehr als Blumen, Wald und Wiesen. Uns die Natur bewusst zu machen und uns mit ihr zu vereinigen, hat auch etwas mit Viren zu tun, ohne die es uns gar nicht gäbe.
Das Dekameron ist der Titel einer Novellensammlung des italienischen Autors Giovanni Boccaccio, einem Stück Weltliteratur. 29Die Handlung: Als im 14. Jahrhundert in Europa die Pest wütet, fliehen zehn junge Edelleute, sieben Frauen und drei Männer, in ein von üppigen Gärten umgebenes Landhaus bei Florenz und vertreiben sich die Zeit, indem sie einander zehn Tage lang Geschichten erzählen.
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