Das von Prensky beschriebene Phänomen kann jeder Lehrende, ob Elternteil, Lehrer oder Hochschuldozent, anhand seiner alltäglichen Lehrerfahrungen bestätigen, sodass dieses Phänomen recht plausibel erscheint. Doch weisen viele Fachleute auch darauf hin, dass Belege dafür fehlen, dass die Gehirne der jüngeren Generationen qualitativ anders funktionieren, denken, fühlen, kommunizieren und lernen (vgl. Schulmeister, 2008; vgl. Helsper/Eynon, 2009; vgl. Kerres, 2013). Betrachtet man bei dieser Kontroverse, aus welchen Generationen und Disziplinen Pro- und Kontraargumentationen mit und ohne wissenschaftliche Belege geführt werden, hat man oft den Eindruck, dass hier mehrere Fragestellungen, Argumentationsstränge und Grundsatzpositionen nicht zielführend und sachgerecht miteinander verwoben werden. Dies mag interessant erscheinen, hat aber mitunter nur einen bedingten Mehrwert, da die eigentliche Fragestellung in den Hintergrund zu rücken scheint. Der Begriff Neuroplastizität ist dabei zu einer mächtigen Metapher geworden, und zwar als Argument sowohl für als auch gegen den digitalen Medienkonsum, sodass er dabei selbst plastisch wurde (vgl. Choudhury/McKinney, 2013). Dieser fehlende Mehrwert gipfelt dann in der Forderung, dass die eine richtige lerntheoretische Position und die eine richtige Lehr-/Lernmethode für das Problem doch endlich zu benennen sei. In diesem Diskursstadium finden sich Formulierungen wie: »Der Behaviorismus wird durch den Konstruktivismus überwunden, alle Seminare jetzt auch im Blended-learning-Ansatz« oder »mit NLP sind alle Lernprobleme und alle Lebenskrisen lösbar – bei jedem«.
Die Komplexität des Lernens und die Komplexität der heutigen Lern- und Bildungswelten legen nahe, dass eine einfache Reduktion auf eine Methode für alle Lehrenden und Lernenden und schlichte Entweder-oder-Reflexe zu vermeiden sind. Es wird dafür plädiert, das Phänomen Lernen in der digitalen Ära bzw. Lernen an sich aus unterschiedlichen, sich nicht wechselseitig ausschließenden Positionen und Perspektiven zu betrachten: Diese sind weder gut noch schlecht, alle in jedem Kontext richtig oder falsch, noch gibt es den einen Musterschüler oder den typischen Studierenden der Net-Generation. Die zunehmende Heterogenität der Lerngruppen als auch die Individualität des Lerner- und Lehrendengehirns in seinen unterschiedlichen Lernprägungen lassen in ihrer alltäglichen und komplexen Wechselwirkung nur eine offene, pragmatische Sichtweise im Bildungsprozess zu. Zunächst wird betrachtet, wie diese unterschiedlichen Prägungen neurobiologisch gekennzeichnet und wie dadurch wiederum die Generationen geprägt sind ( Kap. 2).
1.1Unser Gehirn passt sich plastisch den exponentiellen Zeiten an
|Abb. 3| Gall’scher Schädel, Wien 1812
»Die erste Welle der Hirnforschung lieferte vor einigen Jahren mehr Fiktion als Fakten. Nun liegen neue […] hilfreiche Erkenntnisse vor.« (Waytz/Mason, 2013, S. 36)
Wie das menschliche Gehirn funktioniert, hat die Menschheit seit jeher interessiert: Es wurden ganze Sammlungen von (Elite-)Gehirnen angelegt, um ihnen ihre Geheimnisse zu entlocken. Am Ende des 18. Jahrhunderts geschah das zunächst auf kuriose und vorwissenschaftliche Art und Weise. Zum Beispiel verortete der deutsche Mediziner Franz-Joseph Gall (1758–1828) bestimmte Charakter- und Persönlichkeitseigenschaften anhand der Schädelform in bestimmten Gehirnarealen: Ein langer Hinterkopf zeuge beispielsweise von Anhänglichkeit, eine Wölbung über dem rechten Auge von Ortssinn ( |Abb. 3| vgl. Critchley, 1965; vgl. Greenblatt, 1995). Seine von ihm entwickelte Kombination von Physiognomie und Gehirnlokalisation nannte er zunächst Kraniologie – die Wissenschaft vom Schädel. Anschließend Organologie – die Wissenschaft von den Organen im Gehirn – und kurze Zeit später wurde die Wissenschaft als Phrenologie bezeichnet – »the science of the mind« (Greenblatt, 1995, S. 790–05).
In der Tagespublizistik des 19. Jahrhunderts waren seine Theorien »ein Ereignis« (vgl. Deneke, 1985), seine öffentlichen Vorträge auf seiner zweieinhalbjährigen Vortragstour (1805–1807) überwältigend. Wobei der Wissenschaftshistoriker John van Whye die Absichten von Gall weniger in der Vermittlung der Wissenschaften oder in der Verbreitung seiner Theorien sieht, sondern vielmehr darin, zur intellektuellen Elite seiner Zeit zu gehören. (vgl. van Whye, 2002)
Der Durchbruch für das Verständnis der Funktionsweise des menschlichen Gehirns kam mehr als ein Jahrhundert später aus dem Tierreich, sodass die Reise in das menschliche Gehirn zunächst im Tierreich beginnen soll:
»Im Laufe der Geschichte der Neurowissenschaften hat eine große Menagerie von Invertebraten [2] als Versuchstier gedient. Der Tintenfisch […], Schaben, Fliegen, Bienen, Egel und Fadenwürmer (Nematoden) […]. Zugegebenermaßen ist das Verhaltensrepertoire eines durchschnittlichen Invertebraten eher begrenzt. Dennoch lassen sich bei vielen Invertebratenarten die […] einfachen Formen des Lernens beobachten […]. Die Neurobiologie des Lernens wurde vor allem an einer Art erforscht, an der Meeresschnecke Aplysia californica ([ |Abb. 4| ], Kalifornischer Seehase).« (Bear et al., 2009, S. 870)

|Abb. 4| Der Kalifornische Seehase (Aplysia californica)
An ihr konnte der spätere Nobelpreisträger für Physiologie und Medizin (2000) Eric R. Kandel nachweisen, dass die Funktion der Synapsen |Abb. 5| und deren Veränderung grundlegende Bedeutung für unser Lern- und Erinnerungsvermögen haben: Das Gedächtnis ist in den Synapsen verortet. Oder wie es Sebastian Seung, Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT), formuliert: »I am my connectome.« (Seung: I am my connectome, Web.)
Die Synapseist »der Kontaktbereich, in dem ein Neuron Informationen auf eine andere Zelle überträgt« (Bear et al., 2009, S. 927).Das Konnektom(Connectome) ist die Gesamtheit aller Verbindungen zwischen den Neuronen (Nervenzellen) eines Gehirns. |
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Gehirn aus 100 bis 120 Milliarden Nervenzellen (Neuronen) besteht, die alle einen ähnlichen Grundbauplan haben |Abb. 5| . Dieser kann aber morphologisch unterschiedlich und komplex ausgeformt sein: Der Dendritenbaum einer einzigen Purkinjezelle kann beispielsweise zwischen 150.000 und 200.000 Synapsen empfangen. Damit zählt das menschliche Gehirn zu den komplexesten Systemen überhaupt, obwohl der Grundbauplan und das Verknüpfungsprinzip einfach sind.
|Abb. 5| Pyramidenzelle im Mandelkern, ein Emotionszentrum des Gehirns (links); Skizze eines Neurons (rechts)
Die zentrale Frage bleibt: Wie schafft es das menschliche Gehirn, sich fortlaufend, ein Leben lang, den permanenten Veränderungen der Umwelt anzupassen? In den 1960er-Jahren herrschte die Meinung, dass die Entwicklung des Gehirns ähnlich der Konstruktion eines elektrischen Gerätes sei: Zunächst werden Drähte produziert, die anschließend verschaltet werden. Wenn alles funktioniert, bleibt dieser Schaltplan (im Erwachsenenalter) unverändert. »[Diese] Überzeugung basierte stärker auf theoretischen Vorurteilen als auf empirischen Belegen.« (Seung, 2013, S. 73)
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