1 ...7 8 9 11 12 13 ...31 Die Blickvermeidung ist typisch. Hat er das Schmollen jemandem abgeguckt? Die Trotzszenen, die sich im dritten Lebensjahr häufen, sind wohl nur Kehrseite eines stärker werdenden Ichbewußtseins des Kindes, das sich aus der sicherheitsspendenden Einheit mit der Mutter gelöst hat. Wenn man weiß, was hier vor sich geht, wird man mehr Geduld und Gelassenheit aufbringen. Das Kind kann jetzt auch seinen eigenen Willen klar artikulieren: »Will aber« oder »Will nich« usw. Es weiß, was es will, und sieht sich durch die Eltern klar gehindert. Unterschwellig mag es sich dagegen wehren wollen, daß es gegen die Eltern einfach nicht ankann und ihnen auch sprachlich noch weit unterlegen ist, so daß es sich mit ihnen auf keinen Wortstreit einlassen kann. Also greift es zu anderen Mitteln. So mag man den Wutausbrüchen, so unangenehm sie sind, auch etwas Positives abgewinnen. Jedenfalls waren in Hildegard HetzersHetzer, Hildegard Beratungsstelle weit überdurchschnittlich viele jener Kinder, die sich später als unselbständig erwiesen und ständig an die Hilfe der Erwachsenen appellierten, solche, die sich nie in einer den Eltern erinnerlichen Weise trotzig gezeigt hatten.2
Hören wir den Stoßseufzer einer genervten Mutter, die uns mitteilt, was sich während einer Wanderung in den Pyrenäen abspielt (zugleich ein schönes Beispiel dafür, wie beim Grammatiklernen Satzmuster ausgereizt werden):
Ici, c'est »veux pas!« en vacances dans les Pyrénées… |
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Hier herrscht das »will nicht!« In den Pyrenäen, in den Ferien, heißt es: Will nicht die Berge Will nicht laufen Will nicht in den Kinderwagen Will nicht den See Will nicht die Kühe Will nicht auf Papas Schultern Will nicht Mama Will nicht die Blumen Will nicht »Wie schön die Landschaft ist«. |
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Okay, das ist ja nur eine Minute der Wanderung als Beispiel, oder? |
Nein, so geht’s den ganzen Tag und leider nicht nur in den Pyrenäen. |
Das Kind wird von den eigenen Affekten überwältigt und ist keinem Zuspruch zugänglich. Nachgeben wäre in den meisten Fällen falsch, noch törichter aber, den »Trotz« brechen zu wollen. Das Beste: sich mit Gelassenheit wappnen, dem eigenen Ärger so wenig wie möglich Raum geben und den Anfall vorübergehen lassen. Später, wenn die Erregung abgeklungen ist, sagen: »Ich hab dich trotzdem lieb«. Denn ganz bewußt wollen Kinder jetzt auch »lieb« sein. Sie buhlen um die Gunst der Erwachsenen. Das ist nach HansenHansen, Wilhelm die Kompensation der Trotzphase:
Die Bewegtheit des Gefühlslebens während dieser Zeit zeigt sich auch in einem erhöhten Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes. Es sucht die Mutter mehr als sonst, will sie beim Zubettbringen lange bei sich behalten, schmiegt sich an und möchte liebgehalten werden.3
Die schönste Trotzgeschichte, die uns erzählt wurde, leistete sich die dreijährige Jana. Sie beschloß nach einem Verweis durch die Mutter auszuziehen. Sie schulterte ihren Rucksack, in den sie sich eine Flasche Sprudel gepackt hatte, ließ sich aber dann schon auf der Einfahrt des Nachbarhauses nieder, wo sie allen, die es wissen wollten oder nicht, erzählte, daß sie ausziehe. Nach einer guten Stunde kam die Mutter auf sie zu und fragte sie, ob sie nicht doch zurückkommen wolle. Sie fühle sich sehr allein im Haus. Na gut, erklärte Jana und ging heim.
Der Witz dabei ist, daß die Mutter dem Kind nicht das Unvernünftige seines Tuns klarmacht und damit sein Selbstwertgefühl schwächt, sondern dies sogar stärkt, indem sie auf ihre eigene Abhängigkeit hinweist. Die gefühlsmäßige Abhängigkeit von ihrem Kind ist ja ebenso real wie die emotionale und physische Abhängigkeit des Kindes von ihr.
Nicht immer gelingt es Eltern, so gelassen zu reagieren; viel weniger noch, so phantasievoll wie in der folgenden Begebenheit, die Bernt von HeiselerHeiseler, Bernt von aus seiner Kindheit erzählt:
Es war ein allverneinender Geist in mich gefahren, wie er ja nicht nur Kinder zuzeiten quält. Nichts war mir recht zu machen, ich widersetzte mich jedem freundschaftlichen Vorschlag zu einem Spiel oder Spaziergang. Das ging so lange, bis meine Mutter mich aufhorchen machte mit der Bemerkung, sie könne mich nicht mehr deutlich sehen, und den Vater herbeirief. Schon durch seine Anwesenheit – der tagsüber in seinem Arbeitszimmer verborgen blieb und nur bei besonderem Anlaß sichtbar wurde – war die Situation verändert, aber noch war der Widergeist nicht bezwungen. Auf die väterlich ernste Frage, ob ich jetzt anständig sein wollte, gab ich wieder das Nein zur Antwort.
Kannst du ihn noch sehen? fragte die Mutter. Hm. Undeutlich nur, sagte der Vater. Wer immer nur Nein sagt, der wird zuletzt selber zum Nein, man kann ihn nicht mehr von der Luft unterscheiden; ich fürchte, bald wird er ganz verschwunden sein und wir finden ihn nicht mehr.
Nein, es ist nicht wahr, nein! rief ich mit Grauen. Sein Kopf und die Arme sind schon nur noch ein Schatten, sagte mein Vater mitleidig. Bernt, hörte ich meine Mutter laut, wie von weither, rufen. Willst du nicht lieber mit mir spazieren gehen? Ich schrie Ja, ja! und war für diesmal geheilt.4
Aus Berechnung haben Supermärkte die Süßigkeiten an der Kasse platziert, an der jeder vorbei muß. Da riskieren Eltern ungern einen Aufstand der Kleinen und gewähren ihnen, was sie sonst verweigern würden. Ein Fehler, weil das Kind lernt, gerade auf diese unangenehme Weise seinen Willen zu bekommen. Warum aber diese gefürchteten Überreaktionen von Kindern, die doch gut versorgt werden? Das Kind läuft rot an, bebt am ganzen Körper, schreit wie am Spieß, tobt, schlägt um sich, ist ganz offensichtlich außer sich, nicht Herr seiner selbst. Hier wird ein uraltes Verhaltensprogramm aktiv – so die Evolutionsbiologen. Die Drängler und Brüller, die am kräftigsten Alarm schlugen, hatten bei einem großen Wurf die besten Chancen, gefüttert zu werden und durchzukommen. Selbst bei Einzelkindern tritt dieses Verhalten auf: Wen haben nicht die Fernsehbilder beeindruckt, in denen eine von ihrem futterbettelnden Kind genervte Pinguinmutter schließlich davonläuft und von dem flügelschlagenden Kleinen durch die ganze Kolonie verfolgt wird? Übrigens haben Jungen (im Allgemeinen) ein wenig mehr Trotzanfälle als Mädchen.5 Sie verschwinden in dem Maße, wie das Kind mehr Verständnis für die Forderungen der Erwachsenen gewinnt, Situationen besser einschätzen kann und selbständiger wird. Aber Schmollen und Grollen können wir ein Leben lang.
Mein meistgesprochenes Wort als Kind war »nein«,
Ich war kein einwandfreies Mutterglück.
Und denke ich an jene Zeit zurück:
Ich möchte nicht mein Kind gewesen sein. (Mascha Kaléko)
Braucht der Säugling den Vater?
Väter kommen von Anfang an nicht nur als Spiel- und Sprechpartner, sondern auch als Betreuer in Frage, allein schon, um die Mutter zu entlasten. Bei Abwesenheit der Mutter braucht dann kein Fremder das Baby zu betreuen; die Konstanz und Regelmäßigkeit der Betreuung ist besser gesichert. Ein Ergebnis der Bindungsforschung lautet: Väter sind in ihrer »Spieleinfühligkeit« herausfordernder als Mütter. Sie sind es, die ihre Babys in die Luft werfen und wieder auffangen und dazu ermuntern, auf Bäume zu klettern. Mütter sind da zurückhaltender und behütender.
Aus kommunikativ-sprachlicher Sicht ist auch gegen eine Umkehrung der traditionellen Geschlechterrollen nichts einzuwenden: Beide Elternteile haben die – in weiteren Kapiteln näher beschriebenen – Fähigkeiten, ihren Säugling in kindgerechter Weise anzusprechen und ihn zur Sprache zu führen. Deshalb sprechen Mechthild und Hanus PapousekPapousek, Mechthild und Hanus auch von »intuitiver elterlicher Didaktikelterliche Didaktik« oder vom »intuitiven Früherziehungspotential« der Eltern, also nicht allein von dem der Mutter.1 Säuglingserziehung ist also auch Männersache! Selbst älteren Geschwistern gelingt es teilweise, ihr Sprachverhalten anzupassen und mit Säuglingen zu kommunizieren. Es kann wohl nur günstig für das Kleinkind sein, wenn ihm seine Muttersprache von mehreren Vertrauten mit den ihnen eigenen charakteristischen Sprechstilen zugesprochen wird. Und es vermindert Trennungsängste, wenn es gleich mehrere Menschen hat, denen es zutiefst zugetan ist. Auch Großeltern gehören dazu und können eine Brücke vom Elternhaus zur Welt draußen bilden. Denn wie kein anderes Wesen verbindet der Mensch Geselligkeit mit Kultur, d.h. der Weitergabe von Wissen durch die Generationen hindurch. Menschen lernen von anderen Menschen.
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