(9) Er [Der Gesetzgeber] aber brachte die Rede näher an die Wahrheit und unterschied die sprachlosen/vernunftlosen Wesen von den sprachbegabten/vernunftbegabten Wesen, so dass er allein den Menschen die Gleichsprachigkeit zuschrieb.
Es ist aber, wie sie [die Kritiker] es jedenfalls sagen, auch diese Annahme sagenhaft/märchenhaft.
Und gewiss sagt man/heißt es [allgemeine Auffassung], dass die Auflösung der Sprache in unzählige Arten von Mundarten/Dialekten, die man Verwirrung der Sprache nennt, zur Heilung/Abschaffung der Missetaten einen Beitrag leistet, damit sie [die Menschen] nicht mehr genau aufeinander hören und dann gemeinsam Unrecht tun, sondern dass sie gewissermaßen taub füreinander sind und daher nicht mehr durch gemeinsames Handeln die gleichen Dinge in Angriff nehmen.
(10) Das aber scheint nicht zum Nutzen geschehen zu sein.
Denn obwohl (die Menschen) nun nach Volksstämmen getrennt siedelten und nicht eine einzige Sprache benutzen, wurden Erde und Meer wiederum oft mit unsäglichen Übeln angefüllt.
Denn nicht die Sprachen, sondern die gleichartigen Neigungen der Seele zu sündigem Tun sind die Ursachen für das gemeinsame Unrechttun.
(11) Denn auch die, denen man die Zunge herausgeschnitten hat, deuten durch Nicken, Blicke und andere Haltungen und Bewegungen des Körpers an, was sie wollen, genauso wie andere durch den Ausdruck der Sprache. Abgesehen davon begehe oft sogar ein einziges Volk, das nicht nur eine (gemeinsame) Sprache hat, sondern auch gleiches Recht und gleiche Lebensweise hat, ein so großes Maß an Übeln, dass es Fehler begehen kann, die den Fehlern aller (anderen) Menschen gleichwertig sind.
(12) Unzählige Menschen wurden durch die Unkenntnis der Sprachen vernichtet, weil sie das Zukünftige/den Plan ihrer Angreifer nicht vorhersehen konnten, während sie umgekehrt durch die Kenntnis (der Sprachen) die drohenden Schrecken und Gefahren abwehren konnten.
Deshalb sei die Gemeinschaft der Sprachen eher nützlich als schädlich, da ja auch bis jetzt die Bewohner des Landes, besonders unter den Einheimischen, durch nichts so sehr wie durch die gemeinsame Sprache unversehrt bleiben von Übeln.
(13) Und wenn freilich irgendein Mann mehrere Sprachen erlernen würde, ist er alsbald bei denen, die diese Sprache beherrschen, akzeptiert, als wäre er schon ein Freund, und als ein nicht geringes Kennzeichen der Gemeinschaft bringt er Vertrautheit mit den Begriffen/der Ausdrucksweise mit, durch die er sich Sicherheit davor verschafft zu haben scheint, dass er eine schlimme Erfahrung macht.
Warum also ließ er [Gott] die Gleichsprachigkeit unter den Menschen als Ursache der Übel verschwinden, obwohl es nötig gewesen wäre, sie als etwas sehr Nützliches zu stärken?
(14) Diejenigen also, die diese Kritikpunkte aufschreiben und auf schlechte Weise vertreten, werden von denjenigen auf ihre besondere Weise widerlegt werden, die die naheliegenden Erklärungen der jeweils aufgeworfenen Fragen aus dem offenkundigen Wortlaut der Schrift ohne Streit in schlichter Weise ; dabei argumentieren sie nicht auf künstliche Weise mit irgendeinem Einfall dagegen, sondern lassen sich von der folgerichtigen Verknüpfung (der Erzählung) leiten, die keinen Anstoß erlaubt, sondern auch, wenn etwas schwierig sein sollte, es leicht wieder richtigstellen könnte, damit die Worte durchgängig so lauten, dass sie keinen Anstoß erregen können.
(15) Wir behaupten nun also, dass mit den Worten „die ganze Erde sei ein Mund und eine Sprache“ das Zusammenspiel/Zusammenklingen sowohl aller unsäglichen, großen Übeltaten gemeint ist, die Staaten gegen Staaten, Völker gegen Völker und Länder gegen Länder begehen, als auch all der Sünden, die die Menschen nicht nur sich selbst antun, sondern auch gegen das Göttliche richten. Dies sind nun indessen die Unrechtstaten der Massen. Wir untersuchen aber auch bei einem Einzelnen die unnennbare Fülle der Übel, besonders wenn er von dem unharmonischen, misstönenden und unmusischen ‚Zusammenklingen‘ befallen ist.
3.4 Nachzeichnung der Argumentation von De confusione linguarum § 9–15
Im Folgenden wird die Argumentation Philons, in der er sich mit der Kritik der jüdischen Apostaten auseinandersetzt, dargestellt:
§ 9 |
Philon stellt heraus, dass der Gesetzgeber zwischen sprach-/vernunftbegabten und sprach-/vernunftlosen Wesen unterschieden hat.Folglich: Eine gemeinsame Sprache können nur die Wesen haben, die sprach- und vernunftbegabt sind; das sind nach All II § 14 f allein die Menschen.Die Gegner Philons lehnen diese Ansicht ab und bezeichnen es als μυθῶδες, dass es eine Gleichsprachigkeit der Menschen gegeben hat. Sie rechnen den Text des Turmbaus zu Babel zu den mythischen, unwahren Texten.Darstellung der allgemeinen Auffassung bezüglich des Genesistextes:Die Kritiker sagen: Über den Text „Turmbau zu Babel“ sagt man doch, dass die Auflösung der gemeinsamen Sprache in Einzelsprachen dazu beitragen sollte, schlechte Taten zu verhindern, weil Sprache so nicht mehr als Medium, sich über Schlechtes auszutauschen, fungieren kann. |
§ 10 |
Referat Philons über die Ansichten der Gegner. Sie sind folgender Ansicht:Der Text kann ja keine Wahrheit enthalten, weil der Plan, mit der Sprachverwirrung die menschlichen Übel zu beseitigen, gescheitert ist, weil es diese auch nach der Sprachverwirrung noch gibt.Grund hierfür ist die Tatsache, dass die Ursache der schlechten menschlichen Taten nicht die Sprache ist, sondern die gleichen seelischen Neigungen zum Bösen. |
§ 11 |
Fortführung der Begründung, dass nicht die Sprache Ursache der Übel ist, weil neben der Sprache auch durch Gestik und Mimik Schlechtes zum Ausdruck gebracht werden kann.Ein weiterer Grund ist, dass ein Volk nicht nur durch eine gemeinsame Sprache, sondern ebenso durch Konventionen in Recht- und Lebensanschauungen gekennzeichnet ist und dass auch dadurch Übel entstehen können. |
§ 12 |
Aufzeigen des Nutzens von Sprache: Gemeinsame Verständigung ermöglicht Schutz vor Gefahren, z.B. bei Angriffen von Eindringlingen.Feststellung, dass die gemeinsame Sprache nach Ansicht der Kritiker mehr nützliche Aspekte hatte als schädliche. |
§ 13 |
Erneute Darstellung positiver Funktionen von Sprache: Sprache schafft Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit; wer die gleiche Sprache spricht, wird als Freund angesehen; Sprache vermittelt ein Gefühl der Sicherheit.Zusammenfassender Vorwurf der Gegner: Warum hat Gott die Sprachgemeinschaft aufgelöst, wenn sie doch all diese positiven Funktionen zu verzeichnen hatte? |
§ 14 f |
Philons Ansicht nach ist die wörtliche Lesart, die Unstimmigkeiten aus dem Weg geht, die einfache Lösung. Sie kann von der Lesart, die diesen Schwierigkeiten nicht aus dem Weg geht, leicht widerlegt werden. Eine solche Argumentation sieht Philon in der allegorischen Interpretation gegeben. Mit dieser beginnt er in § 15. |
In Conf § 10–13 beschäftigt Philon sich mit der Ansicht seiner Gegner. Er macht zwar deutlich, dass es ihm bei seiner Auslegung des Textes nicht vorrangig um Sprache geht, stellt aber dennoch sehr ausführlich die Argumente der jüdischen Kritiker dar. Die Paragraphen zeigen Philons große argumentative Fähigkeit: Es gelingt ihm, seinen Lesern essentielle Funktionen von Sprache ‚nebenbei‘ mitzuteilen. Er stellt sie nicht in den Vordergrund seiner Analyse des Genesistextes, wiederholt aber mehrfach die Ansicht der Gegner, dass eine gemeinsame Sprache aller Menschen mehr nützliche als schädliche Aspekte hat. Philon widerspricht dem nicht. Vielmehr macht er seinem Publikum deutlich: ‚Natürlich hat Sprache all diese positiven Funktionen. Das bestreitet niemand. Es ist aber nicht notwendig, das alles anzuführen, um zu zeigen, dass es sich bei dem Text um einen märchenhaften Text handelt. Es geht nämlich in diesem Text überhaupt nicht um Sprache, sondern…‘ Philon kritisiert die Ansicht seiner Gegner, die Erzählung vom Turmbau zu Babel als märchenhaften und unwahren Texten zu verstehen, nicht aber ihre Argumente bezüglich der Funktionen von Sprache. Das wird sich v.a. dadurch zeigen, dass Philon die zentralen Aspekte von Sprache, die er hier in der Argumentation der Gegner erstmals und zusammenfassend benennt, in Conf und in anderen Traktaten immer wieder aufgreift und so bestätigt. Deshalb sind in die Untersuchung im weiteren Verlauf zahlreiche weitere Paragraphen als Belegstellen herangezogen.
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