In seiner 1982 erschienen Dissertation kritisiert Bernd Kretschmer den Mangel an konkreten Untersuchungen der einzelnen Texte mittels moderner literaturwissenschaftlicher Methoden.7 Auch Jürg Glauser postuliert noch im Jahre 1998 in seiner Publikation zu Textüberlieferung und Textbegriff im spätmittelalterlichen Norden, es sei für den Stand der Altnordistik symptomatisch, dass
die zwei bisher deutlichsten Reaktionen auf die Herausforderung des mediävistischen Textverständnisses, die spätestens durch die internationale Diskussion über Bernard Cerquiglinis Buch Éloge de la variante hervorgerufen wurde, hauptsächlich auf die editionstechnischen Aspekte des Komplexes eingingen […], während die mehr texttheoretischen Implikationen der New Philology New Philology bisher ausgeklammert wurden.8
1.3.2. Jüngere Forschung: „Kontexte statt nur Texte“
Erfreulicherweise zeigt eine Reihe von Publikationen jüngeren Datums, dass die Auseinandersetzung mit den übersetzten riddarasögur riddarasögur durch den Theorienpluralismus und einen erweiterten Textbegriff einen Zugewinn an Erkenntnissen ermöglichen kann. Die Verlagerung des Interesses vom Prozess der Entstehung auf den der Rezeption sowie auf die Transmission stellen Neuerungen innerhalb der altwestnordistischen Forschungscommunity dar. Den Ansatz, diese Texte in ihren vielschichtigen Transmissionsprozessen zu erfassen, sie als Intertexte in einem literarischen Feld samt ihren Überlieferungszusammenhängen, ihrem intertextuellen und häufig auch interkulturellen Bezugsrahmen unter Einbeziehung rezeptionsästhetischer sowie literatursoziologischer Fragestellungen zu begreifen, verfolgt unter anderem Jürg Glauser in seinen Publikationen.1 Susanne Kramarz-Bein befasst sich in ihren Arbeiten mit den kontextuellen Bezügen der Karls- und Dietrichepik im Rahmen der hansischen und höfischen Kultur- und Literaturbeziehungen in Norwegen des 13. Jahrhunderts. Die Applikation der literarischen Netzwerktheorie am Beispiel der vernetzten literarischen Milieus in der höfischen Literatur stellt einen zentralen Aspekt der jüngsten Forschung Kramarz-Beins dar.Þiðreks saga af BernKarlamagnús saga ok kappa hans2
Die hochmittelalterliche Transmission von Texten an den norwegischen Hof war der Schwerpunkt des von 2007–2010 an der Universität Oslo angesiedelten Projektes Translation, Transmission and Transformation. Old Norse Romantic Fiction and Scandinavian Vernacular Literacy 1200–1500 unter der Leitung von Karl G. Johansson, welches neben den Themen um fornaldarsögur norðlanda und fornsögur suðrlanda vor allem die Einführung der europäischen Kultur durch Übersetzungen altfranzösischer Dichtung ins Altwestnordische zum Thema hatte.3 Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang Stefka Georgieva Eriksens Abhandlung Writing and Reading in Medieval Manuscript Culture: the Translation and Transmission of the Story of Elye in Old French and Old Norse Literary Context 4 sowie Sif Rikhardsdottirs Medieval Translations and Cultural Discourse. The Movement of Texts in England, France and Scandinavia. 5 Beide Publikationen widmen sich der Transmission und Übersetzung kontinentaler Texte ins Altwestnordische und beleuchten dabei deren Rezeption und Akkulturation in verschiedenen Stadien der handschriftlichen Überlieferung.
Dieser einführende Überblick verdeutlicht, dass theoriegestützte kontextanalytische und transmissionszentriete Studien zu den einzelnen Texten aus dem Korpus der übersetzten riddarasögur riddarasögur sich zu einem der Schwerpunkte jüngerer Forschungen entwickelt haben.
1.3.3. Altostnordistik: Tendenzen älterer und jüngerer Forschung
Zu einer Marginalisierung der mittelalterlichen Literaturen Dänemarks und Schwedens innerhalb der älteren skandinavischen Literaturgeschichten trugen weniger sprachliche als vielmehr gattungsspezifische und überlieferungshistorische Aspekte bei: Die bereits oben erwähnten genuinen Hauptgattungen der westnordischen Literatur sind zwar – was ihre materielle Überlieferung betrifft – Zeugnisse einer hochmittelalterlichen, vom Christentum geprägten Kultur, ihr Ursprung liegt jedoch in der vorchristlichen, heidnischen Kultur des Nordens.1 Im Gegensatz dazu sind die altostnordischen Literaturen im Wesentlichen kontinental geprägt und beinhalten neben den religiösen Gattungen wie Legenden, Mirakel, Viten, Bibelübersetzungen und Psalmen auch weltliche, wie etwa Gesetze, Hagiographie, Chroniken, höfische Versromane und Balladen, die sich ebenfalls an christlich-ästhetischen Werten orientieren. In der Dichotomie originär – epigonal erhielten die vermeintlich ursprünglichen, da heidnischen Literaturen Norwegens und Islands einen höheren Stellenwert innerhalb der altnordistischen Forschung. Diese Ansicht wird von Vertretern der Ostnordistik kritisiert:
Det kan godt være, at de gamle østnordiske sprogområder ikke kan prale af en overleveret litteratur på niveau med digtningen og sagaerne fra Island og Norge, men den østnordiske litteratur omfatter ikke desto mindre en bred vifte af teksttyper – fra krøniker til lovtekster, fra videnskabelige skrifter til religiøs poesi. […]. På trods af denne rigdom er østnordisk filologi længe blevet anset som den norrøne filologis «fattige slægtning».2
Oder, um es mit Per-Axel Wiktorssons Worten auf den Punkt zu bringen: „Den östnordiska filologins ställning är svag“.3 Kernpunkte der altostnordistischen Forschungen waren bisher Einzelstudien mit philologischen, textkritischen und quellenhistorischen Aspekten.EufemiavisorNamnlös och Valentin4 Auch stand in erster Linie die altschwedische religiöse Literatur um die Offenbarungen der Heiligen Birgitta sowie die Überlieferungstätigkeit im schwedischen Kloster VadstenaVadstena lange Zeit im Fokus der Forschungscommunity,Vadstena5 während man die ostnordischen höfischen Texte stiefmütterlich behandelte. Wenn die höfische Übersetzungsliteratur des 13. Jahrhunderts einem exklusiven, auf dem Originalitätswert beruhenden Kanon unterworfen war – mit dem Verdikt der älteren Forschung, in den Übersetzungen ästhetisch anspruchslose Texte zu sehen –, so ist in Bezug auf die altostnordischen Texte von einer doppelten kanonisierenden Ausgrenzung seitens der Altnordistik zu sprechen, stellen sie gewissermaßen doch Bearbeitungen von „triviale[n] Verfallsprodukte[n]“6 dar, als welche übersetzte höfische Texte lange Zeit galten. In seinem Aufsatz zur höfisch-ritterlichen Epik in Dänemark macht Glauser schon 1986 den von der älteren, philologisch fixierten Forschung immer wieder diagnostizierten Mangel an thematischer wie ästhetischer Originalität verantwortlich für die Ausgrenzung, ja Diskriminierung einer ganzen literatur- und kulturgeschichtlichen Periode und kritisiert „den verdammenden Kanon“.7
Die ostnordischen Bearbeitungen kontinentaler Stoffe sind weiterhin Gegenstand isolierter literaturwissenschaftlich ausgerichteter Untersuchungen. Eine breit angelegte Studie, die sich mit den Fragen der mittelalterlichen Transmission der Stoffe gen Schweden und Dänemark befasst, bleibt bisher ein Desiderat.8
Ein verstärktes Interesse seitens der Forschung richtete sich in den letzten Jahren auf die Eufemiavisor Eufemiavisor, drei im Knittelvers verfassten altschwedischen höfischen Romane Herr Ivan Herr Ivan, Hertig Fredrik af Normandie Hertig Fredrik af Normandie und Flores och Blanzeflor Flores och Blanzeflor . Diese gelten als die ältesten in schwedischer Sprache erhaltenen Romane und „out of the almost complete silence of Swedish thirteenth-century vernacular literary culture, the three narratives step forward as remarkably advanced and voluminous pieces of work“.Eufemiavisor9 Die Bedeutung dieser ersten altschwedischen Romane für die einheimische Textproduktion ist immens:
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