Mit dem Begriff Habitus verknüpfte er ein dauerhaft wirksames System von unauflöslich miteinander verwobenen, (vor)strukturierten Dispositionen, welche das Subjekt dazu bringen, in einer bestimmten Weise zu agieren: Sie bilden also den praktischen Sinn, befähigen die Menschen, an der sozialen Praxis teilzunehmen und diese zugleich hervorzubringen. Solche Dispositionen werden während der Sozialisation erworben, d.h. als Ergebnis der Inkorporierung gesellschaftlicher Strukturen. Der Habitus generiert Praktiken, wiederkehrende Sozialhandlungen, die ihrerseits gesellschaftliche Regelmäßigkeiten bzw. Strukturen konstituieren. Diese werden vom Subjekt verinnerlicht, in einer Wechselbeziehung, in der der Habitus die Strukturen (re)produziert und die Strukturen den Habitus. Der Habitus wirkt demzufolge als Vermittler zwischen den externen materiellen, kulturellen und gesellschaftlichen Existenzbedingungen – oder den objektiven Strukturen des sozialen Feldes – und den von einzelnen Akteuren ausgeführten Praktiken, die mit ihrer persönlichen Wahrnehmung und Anschauung in die Umwelt verflochten sind. Daraus folgt, dass der Habitus dem Subjekt die Grenzen möglicher Praktiken zur Verfügung stellt, dass das agierende Subjekt nicht vollständig determiniert ist.1 Der Habitus wirkt als »Erzeugungsmodus der Praxisformen« (1987: 136), nicht als Erzeugungsmodus einzelner Praktiken. Besonders wichtig für die Kunstpraxis und -forschung scheint allerdings die Tatsache zu sein, dass die von Bourdieu theorisierte Verinnerlichung von äußerlichen Existenzbedingungen weniger durch die Sprache hindurch geschieht, als vielmehr auf Körperebene: Die soziale Ordnung wird verkörpert, inkorporiert, einverleibt. Sprache und Leib haben beide die Aufgabe, praktische Erfahrungen, Fakten oder Normen zu speichern, wobei sie als treibende Kräfte für die Herausbildung sozialer Praxen fungieren – sie sind sowohl Speicher als auch Träger (1987: 127). Doch ist die praktische Erkenntnis eher an den Körper gebunden, weil sich die Menschen der Eigenschaften ihres eigenen Habitus nicht bewusst sind und in ihrem praktischen Handeln von einer vorbewussten, vorreflexiven Kraft getrieben werden. Der Körper ist ein »Gedächtnis« (1976: 199), das Regungen, Bewegungen oder Handlungen nicht nur ausführt, sondern auch bestimmt. Die Körperlichkeit bestimme die Praxis sowohl im Hinblick auf die Bildung des körperlich verankerten Habitus als auch im Hinblick auf dessen Anwendung: »Einzelne Körperbewegungen bilden die kleinste Einheit jeglicher Praxis. Da sowohl Körper als auch soziale und materielle Welt formbar sind, können sie intensiv miteinander verschränkt sein« (Fröhlich/Rehbein 2009: 201). Auf diese Weise hat jede menschliche Bewegung nicht nur einen sozialen, sondern auch einen individuellen Aspekt; das Äußere wird immer von Menschen in mentalen Repräsentationen verinnerlicht bzw. inkorporiert. Als Folge einer solchen Anerkennung forderte Bourdieu eine neue Wissenschaft, welche auch die Körperlichkeit der Akteure berücksichtigt: Im Gegensatz zu den scholastischen Welten verlangen bestimmte Universen wie die des Sports, der Musik oder des Tanzes ein praktisches Mitwirken des Körpers und somit die Mobilisierung einer körperlichen Intelligenz, die eine Veränderung, ja Umkehrung der gültigen Hierarchien herbeiführen kann. Man sollte die hier und da, vor allem in der Didaktik dieser Körperpraktiken – des Sports natürlich und insbesondere der Kampfsportarten, aber auch des Theaterspielens und des Musizierens – verstreuten Notizen und Beobachtungen einmal methodisch zusammenstellen; sie würden wertvolle Beiträge zu einer Wissenschaft dieser Erkenntnisform liefern. (Bourdieu 2001: 185) Diese Wissenschaft habe also die Funktion, die Wissensbestände und -inhalte aus dem jeweiligen sozialen Feld mit denen aus der direkten körperlichen Erfahrung zu ergänzen. Das bedeutet außerdem, dass das Subjekt die soziale Welt erkennen kann, auch wenn es keine objektivierende Distanz zu den Wissensobjekten hat; um eine systematische, sprich wissenschaftliche, Analyse seiner Handlungspraxis durchzuführen, braucht es aber eine kritische (Selbst)Reflexion. Die Reflexivität in der Theorie Bourdieus dringt darauf, »die theoretische Beobachterposition zur zu beobachtenden Praxis zu machen« (Fröhlich/Rehbein 2009: 203f.). Die Verwandlung vom unbewussten Sinnvollen der Praxis in das bewusste, reflexive Sinnvolle der theoretischen Wissenschaft muss sich daher auch in der Kunstforschung vollziehen. Die Theaterwissenschaft zwischen Theorie und Praxis Schon in den 1970er Jahren hatte eine vielstimmige Methodendiskussion in der Theaterwissenschaft eingesetzt, welche sich aber mehr auf die semiotische Wende in der Aufführungsanalyse konzentrierte und die theaterwissenschaftliche Verflechtung zwischen Theorie und Praxis kaum betrachtete. Im folgenden Jahrzehnt konnte die Theaterpraxis das Interesse der an den deutschen Hochschulen etablierten Disziplin wecken: 1982 wurde das Institut für Angewandte Theaterwissenschaft an der Universität Gießen gegründet, das unter der Leitung von Andrzej Wirth die theatertheoretische Forschung zusammen mit dem Studium der theatralen Praxis pflegte. Das Ende der 1980er Jahre fällt außerdem mit der Hinwendung der Theaterwissenschaft zu den Paradigmen Theatralität und Performativität zusammen, was eine Neubestimmung der Forschungsstrategien und des Fachbereiches nötig machte.1 In dieser Phase der wissenschaftlichen Re-Konzeptualisierung erlangten der Körper sowie der performative Erzeugungsprozess der Identität große Bedeutung, so dass sich die »Wissenschaft von der Aufführung« (Fischer-Lichte 2005: 351) endlich als produktive Verkopplung von Semiotizität und Theatralität verstehen konnte. Die Entwicklung der Disziplin in dieser Richtung setze sich dabei relativ stabil fort und der Mittelpunkt des Forschungsinteresses »shifted to the processes of making, producing, creating, doing, and to the actions, processes of exchange, negotiation, and transformation as well as to the dynamics which constitute the agents of these processes, the materials they use and the cultural events they produce« (Fischer-Lichte 1999: 168). Im Bereich der creative and performing artsund der gegenwärtigen Theaterwissenschaft ist die Debatte über die epistemologische Bedeutung des Zusammenhangs von wissenschaftlicher Forschung mit künstlerischer Praxis ab den 1990er Jahren immer lebhafter geworden.2 Der Begriff Praxis wurde dann von den neuen Konzepten „research as cultural practice“ und „practice as research“ maßgeblich geprägt. Praxis ist, so definiert Robin Nelson, »theory imbricated within practice«, und zwar eine Untersuchungsmethode, die an der Schwelle zwischen Rationalität und verkörpertem Wissen operiert (2006: 108). Zugleich ist Praxis ein (Selbst)Verständnismodell, welches unreflektierte, spontane, kreative Prozesse durch das Zusammenwirken von unterschiedlichen Fachleuten sowie Künstlern in einem transdisziplinären Kontext erklärt und interpretiert. An erster Stelle profiliert sich also die Forschungsarbeit als eine kulturelle Praxis, welche rein akademische Bestrebungen überwindet und andere kulturelle Praktiken überschneidet. Gerade diese Überschneidung bildet das Hauptmerkmal jeder Untersuchung, die weit über die Grenzen einzelner Disziplinfelder hinaus geht. Die Forschung ist selbst eine hybride Kulturtätigkeit, weil sie verschiedene Wissenssegmente und Tätigkeiten, die ihrerseits mit anderen soziokulturellen Kenntnissen verkettet sind, zu einem Netz zusammenfasst. Die Besonderheit von „research as cultural practice“ liegt demnach in seiner gesellschaftlichen und kulturellen Einbettung: Das dabei ermittelte Wissen ist nicht absolut, abstrakt, unmarkiert oder delokalisiert, sondern partiell, konkret, verkörpert und verortet – kurzum: situiert. Erst durch die Verkörperung des Wissens, durch die Kontextbedingtheit aller Forschung ebenso wie jedes Untersuchungsprozesses kann die Forschung zu einer generativen Matrix werden.
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