Spezifische Interessen und Probleme der Mitglieder einerseits und deren temporale sowie lokale Eingebundenheit andererseits richten die CoP so ein, dass sie sich aus dem Fluss ihrer Auseinandersetzungen und Aktivitäten bildet. Anders gesagt, Lernen durch CoPs schließt sowohl den Prozess der Wissensumwandlung als auch den Ort, den Kontext ein, in dem eine partizipative Identität bestimmt wird. Unter Communities of Practiceals bevorzugten Untersuchungsfelder versteht man also eine präzise Örtlichkeit, in der eine komplexe Interaktion zwischen Lokalem und Globalem stattfindet. Wengers Auffassung dieser Interaktion ist insofern bemerkenswert, als sie das Lernen in Praxis als eine Art Zwischenraum-Phänomen zeichnet, aus dem sinnhafte Entwicklungsmöglichkeiten des Wissens und der persönlichen Erfahrung der Gemeinschaftsmitglieder entstehen können. Bei der Differenzierung zwischen Partizipation und Beteiligung stellt Wenger beispielsweise fest: »We can develop new ways of participating in the global, but we do not engage with it. […] The cosmopolitan character of a practice, for instance, does not free it from the locality of engagement« (131). Einerseits kann die direkte Beteiligung nur lokal sein, auch wenn sie an weltumspannende Probleme gebunden ist, andererseits öffnet sich diese lokale Beteiligung zu einer globalen Partizipation – oder näherhin zu einer translokalen und transkulturellen Dimension. Lernen geschieht nämlich in einer lokalen Praxis, stellt aber einen globalen Kontext für seine spezifische Örtlichkeit her. Die von Wenger konzipierte Situiertheit der Handlungspraxis in Raum und Zeit bzw. der Bezugsrahmen aller Interaktionen innerhalb und zwischen Gemeinschaften könnte auch in Bezug auf Chandra Talpade Mohantys Begriff politics of location5und dessen Implikationen für kritische sozialwissenschaftliche Wissensproduktion betrachtet werden. Mohanty erklärte bekanntlich, Situiertheit sei keine weder zeitliche noch örtliche Fixierung, sondern a »movement betweencultures, languages, and complex configurations of meaning and power«, in dem man sich selbst wiedererkennt und definiert (1995: 82) (Herv. im Originaltext). In der Theorie der Communities of Practicebeteiligen sich Menschen fortwährend an gewissen lokalen Projekten, wobei sie notgedrungen jedes Mal ihre Identität unterschiedlichen Orten zuordnen, wodurch ein globales Netz von Beziehungen, Erfahrungen und Wissensinhalten aufgebaut wird.6 Gerade dieser Aspekt der Theorie Wengers interessiert die aktuelle Forschung: Der Fokus liegt nicht mehr auf in sich geschlossenen Einzelgemeinschaften, sondern auf multiplen Praxissystemen, auf Multimitgliedschaft, auf Praxislandschaften und auf durch Praxen hindurch konstruierten Identitäten (Omidvar/Kislov 2013: 270). Die soziale Landschaft der Praxis Die Praxislandschaft resultiert aus unterschiedlichen Partizipationsmodi, die sich zwischen lokalen Interaktionen und globaler Partizipation bewegen. Um die drei wichtigsten Formen oder Mechanismen der Partizipation zu beschreiben, verwendet Wenger die Begriffe Beteiligung ( engagement), Vorstellung ( imagination) und Ausrichtung ( alignment). Während die Beteiligung eine aktive Mitwirkung bei zeitlich, räumlich und psychologisch markierten Bedeutungsaushandlungsprozessen bezeichnet, weist die Vorstellung auf einen kreativen Prozess hin, der die menschliche Erfahrung nutzt, um Weltbilder zu schaffen und Verbindungen durch Raum und Zeit aufzuspüren. Solche über die Beteiligung hinausgehende Bilder und Beziehungen werden zu Grundbestandteilen des Selbstbewusstseins sowie der individuellen Auslegung der eigenen Partizipation an der Sozialwelt. Es ist auffällig, dass sich Wenger dabei auf Benedict Andersons Vorstellungsgedanken beruft (Wenger 2000: 228). Die Vorstellung diente Anderson zum Modell, um die Entstehung gemeinschaftsbildender Beziehungen bzw. Nationen in der Moderne zu erklären.1 Die Vorstellung einer begrenzten und souveränen Gemeinsamkeit existiere zwar ohne direkte Begegnung und aktive Mitbeteiligung der Mitglieder, wurzele zugleich aber im soziohistorischen Kontext: Als Entität, die sowohl Individuen als auch deren kleine Gemeinschaften einbezieht und zugleich über diese hinausgeht, entspricht die Vorstellung einem Wechselspiel zwischen Erfahrungen, Projekten, Selbstdarstellungen, Gefühlen und Bedingtheiten, welches immer neue Identitätsbeziehungen herstellt. Wenger bekräftigt den Standpunkt Andersons, indem er feststellt, das Hauptmerkmal der Vorstellung sei, dass: it is anchored in social interactions and communal experiences. It is a mode that always involves the social world to expand the scope of reality and identity. Because imagination involves unconstrained assumptions of relatedness, it can create relations of identity anywhere, throughout history, and in unrestricted number. (1998: 178) Diese theoretische Öffnung zur Translokalität2 hat selbstverständlich ihr praktisches Pendant: Beteiligung und Vorstellung wirken zusammen als ein Mechanismus paralleler Einbindung und Entbindung. Die Beteiligung führt zur Herstellung von CoPs, die Vorstellung hingegen ermöglicht dem Subjekt, von seiner Beteiligung Abstand zu nehmen und diese durch die Augen eines Außenstehenden zu sehen. Kurzum, die Verknüpfung von Beteiligung und Vorstellung ergebe eine »reflective practice«,welche zwei Fähigkeiten kombiniert: einerseits die Fähigkeit, sich mit einem gemeinsamen Projekt zu identifizieren, andererseits die Fähigkeit, das Projekt in seinem translokalen Kontext zu betrachten (218). Jeder Akteur gehe also mit Grenzen und Peripherien insofern produktiv um, als er seine Identität(en) mitspielen lassen und suspendieren kann. Individuen seien sowohl in lokale Lerngemeinschaften als auch in translokale Netzwerken eingebettet, die Prozesse kulturellen Austauschs und Transfers fördern. Im Mittelpunkt der Analyse stehen also nicht mehr einheitliche Akteure, sondern Trägergruppen, die in einem dynamischen Aktions- und Erfahrungsraum translokale bzw. transkulturelle Komponenten ständig miteinander verbinden und diese als wandelbare Einheit bilden. Mitglieder solcher Trägergruppen oder Trägerinstitutionen sind Individuen, welche ihre eigene Identität selbst als transkulturell empfinden: Die transkulturelle Fähigkeit, sich durch unterschiedliche Sozialwelten zu bewegen und das jeweils spezifische Wissen zu übertragen, um potenziell immer neue mögliche Identitäten zu realisieren, prägt die Menschen seit der Neuzeit.3 Obwohl Wenger das Präfix „trans“ im Bereich des Translokalen, Transnationalen oder Transkulturalen nie benutzt, verweist die von ihm theorisierte soziale Landschaft der Communities of Practiceauf den pragmatischen Ansatz translokaler Sichtweise, der Phänomene der Kontaktzonen berücksichtigt und Übertragungs- und Abneigungsprobleme in den Vordergrund stellt. Wengers Beteiligung, Vorstellung und Ausrichtung – der letzte Begriff bezeichnet einen Koordinationsprozess von Kräften und Tätigkeiten, welcher das Subjekt darauf vorbereitet, sich an breitere Sozialstrukturen anzupassen und dadurch an umfangreicheren Projekten teilzunehmen4 – bilden eine Wissens- und Identitätsstruktur ab, die Praxisbeziehungen nicht zwischen Lokalem und Globalem aufbaut, sondern zwischen verschiedenen Örtlichkeiten, zwischen effektiven und imaginierten Räumen, wie diese eine globale Dimension erschließen. So ist es kaum verwunderlich, dass der Identifikationsprozess für Wengers situiertes Lernen zentral ist. Identifikation sei nämlich ein Prozess, durch den die Partizipationsmodi zum konstitutiven Teil menschlicher Identität werden, indem sie Bindungen oder Differenzierungen herstellen, für die man sich einsetzen kann (208ff.). In dieser Hinsicht deute die Identifikation auf den konstitutiven Charakter der CoP und der Konturen von Mitgliedschaft oder Nicht-Mitgliedschaft für die menschliche Identität hin. Die Anwesenheit unterschiedlicher Sozialformen von Partizipation, welche die Grenzen einer gewissen Region transzendieren, führt zur Proliferation translokaler Erfahrungen, die Deterritorialisierungs- und Relokalisierungsprozesse charakterisieren.5 Der Kontext jedes Partizipationsmodus setzt also eine spezifische Identifikation voraus,6 so dass die Identitätsbildung die besondere Aufgabe erfüllt, direkte sowie indirekte Erfahrungen, konkrete sowie symbolische Aushandlungen und Auseinandersetzungen in ein kohärentes Selbstbild und Fremdbild aufzunehmen. Sie bringt den Versuch jedes Individuums zum Ausdruck, seine alltägliche Praxis innerhalb der lokalen Gemeinschaften mit weltumspannenden Phänomenen zu verbinden und diese zwei Bereiche einander gegenseitig zu interpretieren, zu übertragen und einzuverleiben. Der De- und Reterritorialisierungsprozess sozialer Beziehungen und Praktiken, in dem jeder seine Einzelidentität konstituiert, resultiert somit aus der Wahrnehmung der sozialen Welt durch die unterschiedlichen – doch zugleich komplementären – Mechanismen der Partizipation. Themenkreise, denen eine Forschung aus transnationaler oder transkultureller Perspektive nachgeht, sind demnach alle »über den Nationalstaat hinausreichenden Interaktionen, Verbindungen, Zirkulationen, Überschneidungen und Verflechtungen von Menschen, materiellen Gegenständen und Institutionen jeder Art […], sei es in Form von sozialen Praktiken, Symbolsystemen oder Artefakten« (Patel 2008: 77f.). Hierzu könnte Pierre Bourdieus Auffassung von „sozialem Raum“7 die praktische Auswirkung der Translokalität näher beleuchten: Neben den eindeutig lokalisierten sozialen Wirklichkeiten gibt es eine relationale Ordnungsvorstellung, die sich als abstrakte Raumkonzeption ergibt. Die Wahrnehmung bzw. Erfahrung vom Sozialraum geht also aus einem doppelten Produktionssystem hervor: einerseits aus einer objektiven Perspektive her, durch welche die in einer Gemeinschaft ausgehandelten Artefakte und Symbole nicht isoliert, sondern in elementaren Verkoppelungen wahrgenommen werden; andererseits aus einer subjektiven Perspektive her, durch welche die objektiven Strukturen der sozialen Welt inkorporiert werden. Wenn man Ludger Pries’ „transnationale soziale Räume“ bedenkt (1996), kann man diese translokale Raumvorstellung als Zeichen dafür betrachten, dass soziale Beziehungen und Verflechtungszusammenhänge existieren, die »geographisch-räumlich diffus« sind (456) und die sich zwischen und oberhalb der lokal-regionalen Sozialräume aufspannen. Dies ist so zu verstehen, dass Menschen Vorstellungen über Räume benötigen, um ihre Praxen aus der Umwelt abzugrenzen und mithin zu bestimmen,8 und Vorstellungen über soziale Praxen benötigen, um die Räumlichkeit zu erfassen, in der sie handeln bzw. sich als Identität definieren. Erst in einem translokalen Handlungsspielraum entfalten sich die Wirkungen einzelner Subjekte und zugleich die Ressourcen, die Bedeutungen und Wissenssegmente, die ständig ausgehandelt und genutzt werden können. Der Blick auf die Translokalität hat demnach die Funktion, »ein Denken in Strukturen durch eines in Strömen ( flows, streams)« zu ergänzen (Osterhammel 2001: 474), d.h. neben der historischen, sozialen und ökonomischen Situiertheit des Wissens auch neue bewegliche Formationen einzubeziehen, die intensive Austauschbeziehungen, produktive Durchmischungen seitens der Träger und Austauschvorgänge in vielen Bereichen zu umfassen. Ein letztes, mit der „sozialen Landschaft“ verflochtenes Element, das man hervorheben muss, bevor man sich mit dem Lebenszyklus einer CoP beschäftigt, ist die Reflexion über die unterschiedlichen Verläufe der Einzelidentität ( trajectories). Unter diesem Begriff verstehet Wenger weder ein Endziel noch einen festgelegten Weg, den man vorhersehen kann. Vielmehr bezeichnet das Wort einen Bezugspunkt, der für die zeitliche Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sorgt (1998: 154). Indem das Subjekt eine Reihenfolge von Partizipationsformen durchlebt, zeichnet seine Identität immer unterschiedliche Verläufe auf, sowohl innerhalb als auch quer über Lerngemeinschaften. Das bedeutet, dass mehrere Typologien von Identitätsverläufen existieren – wie etwa periphere, eingehende, innere Trajektorien, Grenztrajektorien oder ausgehende Trajektorien – und dass jede Einzelidentität eine Vergangenheit und eine Zukunft mit sich bringt. Identität sei demnach nicht nur auf den Raum, sondern auch auf die Zeit bezogen. Raum und Zeit durchdringen sich gegenseitig.9 Das Lernen, das durch Communities of Practiceerfolgt, stellt eine Geographie möglicher Verläufe dar – und zwar den Vorschlag einer Identität: »Learning communities will become places of identity to the extent they make trajectories possible – that is to the extent they offer a past and a future that can be experienced as a personal trajectory« (215). Durch die Partizipation an multiplen Praxissystemen handeln alle Menschen ihre Trajektorien aus, greifen ihre Identitäten ineinander. Eröffnen Lerngemeinschaften eine Reihe möglicher Verläufe, dann setzen sie Beteiligung, Vorstellung und Ausrichtung zusammen in Gang. Wie Wenger nachdrücklich sagt, nimmt die Beteiligung eigener Identität auch Vorstellung und Ausrichtung auf: »[E]nvisioning these possible futures and doing what it takes to get there« (2000: 241). Das Netzwerk von CoPs muss das Individuum befähigen, ein hohes Maß an lokalem Zusammenhang, globaler Ausdehnung und sozialer Effektivität zu gewinnen. Selbstverständlich bringt die Aushandlung von Trajektorien eine Zusammenkunft von Generationen mit sich, was Wenger als besonders produktiv einschätzt. Er erkennt ausdrücklich an, eine solche Zusammenkunft sei wahrlich ein Treffen, »in which generations attempt to define their identities by investing them in different moments of the history of the practice« (157f.). Die Zeitlichkeit der Identität in der Praxis ist also weder bloß individuell noch linear-deterministisch, weil Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in gegenseitig verzahnten Verläufen verkörpert sind. Diesbezüglich bietet die Forschungsperspektive Wengers die Gelegenheit, zwei gegensätzliche Aspekte mit neuen Instrumenten zu analysieren. Zum einen können Raum und Zeit als Sozialformen betrachtet werden, welche den situationsbezogenen Einsatz, die Vorstellung und Ausrichtung des weltweiten Spektrums der Träger und Akteure hervorbringen. Raum und Zeit werden somit zu Zentralkategorien jeder Art von Untersuchung, sofern sie eine soziale Landschaft mit fließenden Grenzen bilden, in deren Disjunktionen jedes Individuum Bedeutungen und Identitätsmöglichkeiten aushandeln kann. Diese Kategorien sind daher nicht absolut, sprich vorgegeben, sondern historisch, politisch, ökonomisch, kulturell von jeweils unterschiedlichen Agenten markiert. Obschon Einzelakteure immer an Communities of Practicepartizipieren, stehen sie mit ihrer Situiertheit im Fokus der Aufmerksamkeit: Es sind Einzelakteure, die letztendlich die soziale Landschaft wahrnehmen und diese (um)gestalten.10 Selbst der Begriff Identität enthält die Erfahrung von Multimitgliedschaft und die Tätigkeit, alle wahrgenommenen Anhänglichkeiten und eigenen Identitäten in eine Ganzheit zusammenzuführen. Zum anderen kann man Generationen nicht nur als „ imagined communities“ auffassen,11 sondern auch als komplementäre Faktoren zum Transport, zur Adaption sowie zur Neubestimmung des Wissens innerhalb und durch CoPs. Eine Generation ist nicht einfach ein Konstrukt, eine Projektionsfläche kollektiver Phantome, Selbstbilder und Erwartungen, die sich als imaginäre Gemeinschaft profiliert, sondern vielmehr die Verkörperung einer spezifischen gemeinsamen Praxis, die in Beziehung mit der Geschichte anderer Generationen steht. Mit anderen Worten: ein derartiges Generationskonzept ermöglicht, sowohl Kontinuitäten als auch Diskontinuitäten als Kategorien auszumachen. Kontinuität taucht in der Aufeinanderfolge von Illusionen, Projekten oder Deutungen auf, Diskontinuität finde man in den soziopolitischen und kulturellen Verhältnissen, in den realen Rahmenbedingungen, welche »die Chancen generationeller Autopoiesis bestimmen und anscheinend zunehmend begrenzen« (Niethammer 2009: 37). Erst in der Durchdringung von Generationen erkennt das Individuum die Befangenheit sowie die erforderliche Gebundenheit, die Grenzen sowie die Ausweitungsmöglichkeit seiner eigenen Erfahrung in der sozialen Welt. Diese Auffassung zieht die zwei Dimensionen des Generationsbegriffs in Betracht, und zwar einerseits dessen synchronische Ausdehnung, welche »Operationen der Einteilung, Abgrenzung und Identifizierung« entspricht, und andererseits dessen diachronische Ausdehnung, welche die Generativität bzw. die Genealogie betrifft (Weigel/Parnes/Vedder/Willer 2005: 7). Die Generation als Selbstverständnis und zeitgleich als Prägekraft im Prozess des Erwerbes und der Erzeugung von Wissen stellt ebendaher das Spannungsverhältnis zwischen Einrichtung und Transformation der Praxen dar, das sich allein wirksam erweist. Lerngemeinschaft, Lehrtätigkeit und Performativität Was mich an Kutscher immer begeisterte, war die lebhafte Art seines Vortrags. Sein Mit-Dabei-Sein versetzte auch seine Hörer in Stimmung und brachte ihnen Epochen und Persönlichkeiten nahe. […] Wenn Kutscher las, wurde der Hörsaal immer etwas Bühne. (Regimius Netzer in Günther 1953: 181) Damit die Entwicklung einer CoP genauer gefasst werden kann, gliedert Wenger u.a. deren Lebenszyklus in fünf prägende Phasen oder Momente, die von einer jeweils unterschiedlichen spannungsgeladenen Beziehung zwischen den Grundbestandteilen gekennzeichnet sind. Auch wenn dieser Phasenablauf zu streng erscheint, um die effektive Entfaltung der Münchner Theaterwissenschaft zu erklären,1 ist es immerhin brauchbar, die Entwicklungsmerkmale jeder Phase zusammenzufassen: Sie verweisen nämlich auf die wechselnden Herausforderungen der Mitglieder und des Koordinators einer CoP sowie auf das temporale und räumliche Spannungsfeld, in dem die Praxis selbst immer wieder definiert wird. Im Gewebe der Entwicklungsstufen eines kooperativen Lernens kann außerdem die Rolle der Lehrtätigkeit hervorgehoben werden, was uns auf die Figur Artur Kutscher zurückführt. Kutschers Fokussierung auf die Ausbildung der SchülerInnen bzw. seine pädagogische Berufung wird sich schließlich als ein grundlegendes Element erweisen, um in der neugeborenen praxisbezogenen Disziplin das spezifische, kollektiv erarbeitete Wissen zu tradieren, zu erneuern und aktiv für die Aufgabenerfüllung anzuwenden. Die erste Lebensphase einer Lerngemeinschaft fällt mit seiner Gründung zusammen; es handelt sich also um eine Phase, in der das Potential der entstehenden Gemeinschaft bekannt wird und sich systematisch zu organisieren beginnt. Man braucht selbstverständlich Planungswerkzeuge und Gründungsaktivitäten, um aus einem losen Personennetzwerk eine strukturierte, praxisorientierte Gruppe zu bilden. Der Ursprung einer CoP liegt aber nicht in einem Leerraum: Die mitbeteiligten Subjekte haben nämlich schon etwas Gemeinsames sowie Beziehungen zueinander, »[t]hey start to see their own issues and interests as communal fodder and their relationships in the new light of a potential community. As the sense of a shared domain develops, the need for more systematic interactions emerges and generates interest« (Wenger/Snyder 2000: 71). Aus diesem Knotenpunkt heraus taucht eine Person auf, die für den Start der gemeinsamen Praxis die Verantwortung übernimmt. Das herauszuholende Potential stellt den Gemeinschaftsmitgliedern eine Spannungssituation vor: Alle Teilnehmer müssen die Entdeckung nutzbarer, bereits vorhandener Elemente, gemeinsamer Probleme und einer geteilten Geschichte mit der Vorstellung einer künftigen Mission balancieren. Die Identifikation gemeinsamer Forderungen an Wissen und Handeln führt zur Aushandlung sowohl von Ressourcen als auch von Visionen, so dass die Lerngemeinschaft eine bestimmte Trajektorie annimmt. Eine zweite Stufe im Leben der CoP entwickelt sich aus der Verschmelzung der Mitglieder sowie ihrer Aktionsprinzipien. Die entstehende CoP ist mit der Schwierigkeit konfrontiert, eine konkrete Gruppe zu bilden und sich nach Außen hin zu profilieren. Der anfängliche Enthusiasmus kollidiert notgedrungen mit der Realität des strukturellen Aufbaus, der Vertrauensgewinnung unter den Mitgliedern, der Interaktionsfähigkeit und der Förderung des Ideenaustauschs. Da solche dem Zusammenwachsen dienende Aktivitäten keinen unmittelbaren Nutzen bringen, kann die Beteiligung der Mitglieder stark sinken und somit der interne Zusammenhalt zerrissen werden. In diesem Moment ist ein Gleichgewicht zwischen der für die Entwicklung erforderlichen Etablierung von Beziehungen, Ritualen sowie Interaktionen und der konkreten Wertschaffung herzustellen. Wenn eine CoP diese Lebensphase übersteht, dann beginnt das Wechselspiel zwischen öffentlichen und privaten Räumen zu funktionieren: Die praxisorientierte Gemeinschaft nimmt stufenweise feste Gestalt an und wird zu einem Fixpunkt für die Erlebnisse der Mitglieder. Die dritte Phase besteht folglich im Reifwerden: Nachdem sie den Wert des gemeinsamen Lernens festgestellt hat, muss die Gruppe das ausgehandelte Projekt näher bestimmen und eine stärker auf die Gemeinschaft fokussierte Identität bilden. Die Mitglieder entwickeln ihr Selbstverständnis als aktive Teilnehmer, steigern mithin ihr Engagement und verleihen der Arbeitsgruppe eine hohe Dynamik. In dieser Phase beschäftigt sich die Lerngemeinschaft damit, die eigenen Ziele zu klären, Standards für die Problemlösung und Routineoperationen festzulegen, Wissenslücken zu finden und auszufüllen, das gemeinsame Wissen effizient zu organisieren und die eigenen Grenzen zu bestimmen. Die zwei gegensätzlichen Forderungen sind daher die kräftige Expansion und die systematische Fokussierung bezüglich zentraler Themen und Zwecke. Man könnte sogar behaupten, das innere Wachsen entspreche einem Modernisierungsprozess, einer Wiederaufnahme schon ausgehandelter Bedeutungen und Praxisressourcen in Anbetracht der umliegenden Sozialwelt. Die folgende Entwicklungsphase ist dann jene der Festigung, die durch eine fortwährende Transformation gekennzeichnet ist. Die Gemeinschaft reagiert auf die Umwelt und gestaltet diese zeitgleich: »The strength of communities of practice is self-perpetuating. As they generate knowledge, they reinforce and renew themselves« (Wenger/Snyder 2000: 143). Einerseits entwickelt sie ihre Methoden weiter, um das gewonnene Wissen zu expandieren, und sucht andere Kontexte, um dieses zu überprüfen und umzusetzen. Aus diesem Grund öffnet sie sich Newcomern und erarbeitet neue Ansätze. Andererseits versucht die CoP, dank der gewonnenen Relevanz im eigenen Wissensgebiet andere Lerngemeinschaften oder größere Organisationen zu beeinflussen. Die Mitglieder versuchen also, den Lernprozess in der Gesellschaft intensiv zu nutzen. Ein Spannungsverhältnis entwickelt sich in dieser Hinsicht zwischen der gezielten Offenheit und den Eigentumsansprüchen langzeitiger Mitglieder, die Angst davor haben, in der breiteren Gemeinschaft ihre Führungsrolle und ihren Einfluss zu verlieren. Die letzte Entwicklungsstufe trägt den viel sagenden Namen „Umwandlung“, der eine tiefgründige Transformation oder sogar das Ende der CoP bezeichnet. Auslösende Faktoren können ein nicht mehr aktueller Wissensstand, ein übertriebener Tätigkeitsdrang, eine fehlende Identifikation der Mitglieder mit der geteilten Praxis und dem Projekt, strukturelle Veränderungen oder die Verstreuung der Mitglieder in andere Lerngemeinschaften sein. Die Herausforderung besteht also darin, die Spannung zwischen der Auflösung der ganzen Gemeinschaft und der Fortführung als Erbe für andere Communities of Practiceabzubauen. Wie jeder andere lebende Organismus kann auch eine Lerngemeinschaft wegen interner Schwächen oder mangelnder Funktionstüchtigkeit sterben. Darum [t]he very qualities that make a community an ideal structure for learning – a shared perspective of a domain, trust, a communal identity, long-standing relationships and established practice – are the same qualities that can hold it hostage to its history and its achievements. The community can become an ideal structure for avoiding learning. (Wenger/McDermott/Snyder 2002: 141) Eine aufgelöste CoP kann nichtsdestotrotz in der Erfahrung der Mitglieder weiterleben und als Ansatzpunkt für eine Fusionierung oder für eine Neugründung genutzt werden. Was aus dem erörterten Lebenszyklus klar hervorgeht, ist die Positionierung von Communities of Practice– als Lerngemeinschaften – im Prozess sozialer Umgestaltung. Die Tatsache, dass Lernende alle Beziehungen von Identifikation und Aushandlung innerhalb einer teils konkreten teils imaginierten Landschaft immer neu konfigurieren, ist ebenso wichtig für das Lernen wie der Zugang zu Informationen. Die Umgestaltung betrifft also nicht nur von Mal zu Mal die lokale Praxis, sondern auch ihre translokalen Einbeziehungen: Lernen sei demnach »a way of being in the social world, not a way of coming to know about it. Learners, like observers more generally, are engaged both in the contexts of their learning and in the broader social world within which these contexts are produced« (Hanks 1991: 24). Insgesamt lässt sich also resümieren, dass die Teilhabe an CoPs den Lernprozess ermöglicht und dass Lernen seinerseits ein Mittel zum Ausbau der Teilhabe an CoPs ist. Beim Lernen handelt es sich um einen erweiterten Zugang zur Performance, und zwar um den Vollzug bestimmter Aufgaben, gemeinsam getroffener Entscheidungen, etablierter Formalitäten und Riten. Erst durch die Teilnahme an einer CoP werden die Lerngegenstände und -werkzeuge relevant und es können sich neue Lerninhalte entwickeln. Das gemeinsame Lernen führt somit die Subjekte dazu, notwendige Expertisen und Fertigkeiten zu erschließen und diese durch die selbsterlebten Ereignisse zu ergänzen. Der Erfolg des Koordinators einer CoP geht also mit seiner Fähigkeit einher, das spezifische Wissensgebiet und die Partizipation an der gemeinsamen Praxis so zu strukturieren, dass jedes Mitglied seinen Spielraum im und durch den Lernkontext hat. Die ständige wechselseitige Bereicherung zwischen der individuellen Lebenserfahrung und dem gemeinsamen Handeln dient der Entwicklung sowohl von den Einzelpersönlichkeiten als auch von der Lerngemeinschaft. Der Kutscher-Kreis als Lerngemeinschaft Wenn man zu den Anfängen der Münchner Theaterwissenschaft zurückkehrt, dann merkt man gerade im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in den Universitätsvorlesungen und -übungen Artur Kutschers die progressive Trennung zwischen Lehr- und Lerninhalten einerseits, die man als der neueren deutschen Literatur zugehörig betrachtet, und der wissenschaftlich-didaktischen Auseinandersetzung mit Theaterstücken und Inszenierungen andererseits. Diese Differenzierung der Wissensbereiche veranlasste schnell das Experimentieren und dann die endgültige Durchsetzung neuer Forschungs- und Lehrmethoden, welche die Theaterpraxis gleichzeitig als Gegenstand der Analyse, als Untersuchungsmethode und als Wirkungsebene für gemeinsames Handeln betrachten. Der direkte Übergang zu einer praxisbezogenen Disziplin vervollkommnete sich innerhalb des Kutscher-Kreises und durch die Beziehung zwischen dem Lehrer, den Künstlern und den Schülern. Die Münchner Theaterwissenschaft entstand zweifelsohne durch die Koordination durch eine Leitfigur wie Kutscher, wurde aber erst durch den Austausch und durch die Teilnahme einer Gruppe von Personen verwirklicht. Kutscher war eher der Leiter einer Lerngemeinschaft als der Vertreter eines Fachgebietes, da er das Objekt, die Methodologie, die Probleme und die Aufgaben der Theaterwissenschaft als veränderliche Aushandlungsergebnisse betrachtete, die er am gesellschaftlichen Kontext und an anderen Mitwirkenden seines kulturellen Kreises band. In den Berichten der Intellektuellen, Freunde oder Schüler Kutschers über die anfängliche Phase des theaterwissenschaftlichen Lern- und Lehrprozesses in München, findet man lediglich die Bezeichnung „Kreis“, während der Ausdruck „Schule“ nicht einmal erscheint1. Die besondere semantische Fruchtbarkeit des Ausdrucks „Kreis“ erweist sich tatsächlich in einer Reihe von Deklinationen, welche die Zentralität der Arbeitsgruppe immer hervorhebt: Der mehrmals zitierte »Kutscher-Kreis« war sowohl ein »Schülerkreis« als auch ein »Freundeskreis«, ein »fruchtbarer«, »kunstgeschulter« Kreis mit eigener Tradition, und schließlich ein »Wirkungskreis«.2 Offenbar benutzten die Studenten Kutschers diesen Begriff, um von innen heraus die Grenzen des gemeinsamen Unternehmens zu markieren. Die Tatsache, dass die Bezeichnung dann auch von politischen Autoritäten und Universitätskollegen angewandt wurde, beweist die äußere Anerkennung, die in wenigen Jahrzehnten die Münchner Theaterwissenschaft gewonnen hatte.3 Der Theaterprofessor selbst verstand seine Lerngemeinschaft nicht als eine Wissensstruktur, in der ein aufgeklärtes Einzelsubjekt seinen Hörern die Prinzipien und Ansätze einer Wissenschaft sowie deren praktische Anwendung einschärfte. Ganz im Gegenteil, er betonte wiederholt welchen grundlegenden Wert die Ko-Partizipation als Basis und Anreiz für die Lernsituation hat.4 Der Lernende wird ja instruiert, wie er zu handeln hat, aber nicht durch einen überlegenen Lehrmeister oder weil ein abstrakter sozialer Zusammenhang vorgegeben ist, sondern er lernt aus der »Wahrnehmung, Redefinition und emotionale[n] Bewertung« der Lernsituation in ihrer Situiertheit in der Praxisgemeinschaft (Wehner/Clases/Endres 1996: 77). Am Anfang aller Überlegungen bezüglich der Lernsituation im theaterwissenschaftlichen Kutscher-Kreis steht also die Frage, wo und wie das Lernen praktiziert wurde. Es wäre eine oberflächliche Betrachtungsweise, würde man, was die Münchner Theaterwissenschaft betrifft, die in der Universität selbst betriebene Forschung von der praktischen Forschungsarbeit in Kneipen, Vereinen oder auf Studienfahrten unterscheiden.5 Der Fokus soll daher nicht in der Differenzierung zwischen Innerhalb und Außerhalb der Universität bzw. des Universitätssystems liegen, sondern auf dem Dazwischen. In der modernen Historiographie um 1900 sieht Jo Tollebeek beispielsweise eine intendierte Selbst-Inszenierung, d.h. den Versuch, durch die Gestaltung der sogenannten „Landschaft der Disziplin“6 eine neue Bildungsform herzustellen, »whose purpose was to make a nouvelle histoirepossible« (2014: 130). In der sich in denselben Jahren konstituierenden Theaterwissenschaft könnte man ebenso das Ziel erblicken, durch die Vermischung von traditionellen universitären Räumen, privaten Gesellschaften und Vereinen, informellen Kreisen, Ausflugsorten und Bühnen zum einen das reformierte Theater der Zukunft zu gestalten und zum anderen eine dem Theater gewidmete Disziplin zu etablieren. In der Regel wurden die theaterwissenschaftlichen Vorlesungen im Universitätshauptgebäude und die Übungen im Institut, im Theatermuseum, in der Universitätsbibliothek, auf der Probebühne und/oder in Schauspielhäusern abgehalten.7 Darüber hinaus wurden Autorenabende, Theaterbesuche, Stammtischtreffen und Gesellschaftssitzungen zum Bestandteil des Studiums. Eine wichtige Stelle im Studienplan bekamen auch die gelegentlichen Theaterexkursionen. Die neue Disziplin verband ihren Wissensmodus mit den politisch-strategischen und kulturrelevanten Örtlichkeiten der Gegenwart und brachte dadurch das Studium an der Universität mit aktuellen Fragen der Kunst und der Gesellschaft in Verknüpfung: Das Hochschulsystem hätte sich der Theaterwissenschaft annehmen müssen, weil sie schon Teil der Kunstdebatte und dazu der sozialen Entwicklung der Jugend war. Gerade um die Jahrhundertwende trat fernerhin eine Wende im Wesen sowohl der Wissenschaft als auch des Theaters ein, der sich auf die theaterwissenschaftliche Lehrtätigkeit Artur Kutschers auswirkte. Einerseits sahen die Verkünder der Theaterwissenschaft die Notwendigkeit ein, durch die Schaffung einer historiographischen Grundlage und durch die Zusammenstellung eines Kanons den Forschungsgegenstand „Theater“ wissenschaftsfähig zu machen. Die performative Theaterkunst wurde folgerichtig in Objekten, Artefakten und Modellen fixiert, welche man sammeln konnte: Das Theater wurde also musealisiert. Treffende Beispiele für diese Tendenz bieten die vielen Theatermuseen und neuen Theatersammlungen, welche in die Universitäts- und Forschungsinstitute eingegliedert wurden. Schon 1910 wurde das Münchner Theatermuseum im Clara-Ziegler-Haus gegründet, 1919 richtete Carl Niessen seine Theatersammlung ein,8 bis zu seinem Tod im Jahr 1924 vereinigte Albert Köster eine theatergeschichtliche Sammlung in Leipzig, 1922 baute Joseph Gregor die Theatersammlung der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien auf, 1924 veranlasste Eugen Wolff die Einrichtung des Kieler Theatermuseums, 1927 rief Oskar Eberle die „Gesellschaft für schweizerische Theaterkultur“ ins Leben, welche die Schweizerische Theatersammlung in Bern etablierte. Andererseits entdeckte die akademische Theaterwissenschaft den Körper, die Oralität und die Spektakularität als Bestandteile nicht nur ihres Forschungsgegenstandes sondern auch ihrer Lehrstrategien. Es wurde also versucht, die Tendenz zur Verdinglichung mit der Vitalität und Dynamik der Kunst zu bekämpfen, welche die Dozenten eben im Theater der Gegenwart erkannten. Universitäre Lehrveranstaltungen entwickelten sich allmählich in Richtung Performativität. Obwohl eine explizite performative Fokussierung in der erziehungswissenschaftlichen Reflexion erst in den 1990er Jahren zu beobachten ist, um jeweils eine Metapher für die Unterrichtskommunikation, eine Methode der partizipatorischen Lehre oder ein Paradigma fürs Bildungserlebnis zu bezeichnen (Pineau 1994: 6), kann man schon um die Jahrhundertwende eine neue Konzeptualisierung des Bildungsbegriffs erkennen, die sich auch im Universitätsunterricht abzeichnete. Unter Bildung wurde ein Prozess verstanden, in dem sich die Einzelidentität der Lernenden und die sich verändernden soziokulturellen Kontexte ständig verflechten. Eine solche Verkettung hätte dann allen Subjekten ermöglicht, an ihren Bildungs- oder Lernbedingungen mitzuwirken, und zwar sich selbst sowie ihre (Praxis)Gemeinschaft zu gestalten. Die rege Beteiligung aller Mitglieder – Lehrer und Schüler – an der Anhäufung, Bereicherung, Neu-Definierung und Weitergabe von Wissen erfordere daher eine immer höhere Aufmerksamkeit für die Regeln, Rollen und Rituale, die jeden Teilnehmer in den Lernprozess einbinden. Der performative Blickwinkel auf die Identitäts- und Gesellschaftsbildung bestimmt mithin die pädagogische Funktion des Lehrers neu: Er sei weder ein vom performativen Kontext isolierter Schauspieler noch ein Prediger inmitten der passiven, amorphen Masse seiner Studenten, sondern die leitende Figur der Aufführung „Unterricht“, der Koordinator, der die Lerngemeinschaft organisiert, der er selbst angehört. Lernende seien demzufolge nicht mehr Objekte des Bildungsprozesses, sondern dessen Subjekte, die sich ständig mit Lerngegenständen und Deutungen auseinandersetzen. Im unterrichtlichen Lernen werden dann die Körperlichkeit, das Erfahrene, die einzelnen Ereignisse und die ausgehandelten Wissensressourcen besonders signifikant. Eine sog. performative Lehrtätigkeit besteht in anderen Worten darauf, dass es im Unterricht um gelebte Realität geht, also um die Existenz, wie sie konkret erfahren wird. Jedes Fachgebiet entspricht folglich einer wahrnehmbaren Praxis, »in der sich ein bedeutender Teil subjektiver Kulturleiblichkeit bildet« (Klepacki 2009: 21). Performative Aspekte des gemeinsamen Lernens Kutschers außergewöhnliche Stellung in der Entstehungsphase der Theaterwissenschaft, d.h. seine Bestrebung, die wissenschaftliche Arbeit an Fragen des zeitgenössischen Theaters anzubinden und den intensiven Austausch zwischen Historiographie, Kritik und Praxis zu unterstützen, rührt von der oben geschilderten Konvergenz von Wissenschaft und Kunsttheater her. Im Prozess der Wissenserzeugung akzentuierte Kutscher den performativen Aspekt des gemeinsamen Lernens und fügte theatrale Komponenten in die wissenschaftliche Methodik ein. Dabei trat die aktive, partizipatorische Lerngemeinschaft in den Vordergrund und die Aushandlung von Lerninhalten, Interpretationen und wissenschaftlichen sowie künstlerischen Praktiken überschritt die Grenzen der professoralen Lehre im Seminarraum. Hugo Hartung sprach hierüber von den Impulsen »Forscherdrang, Lern- und Lehrbegier«, die den Kutscher-Kreis in Vorlesungen, Übungen, Exkursionen, Autorenabende, Theaterbesuche und -kritiken soeben wie in studentische Aufführungen trieben (1966: 164). Der ehemalige Student erinnert sich nicht nur an ein »spazierengehende[s] Lernen« (165), sondern auch an die »Vorlesung belebende[n] Glanznummern« (161), die Kutschers Programm bis in die 1960er Jahre hinein charakterisierten. Bezüglich der Art und Weise, wie Kutscher die Mitwirkung seiner Schüler an der gemeinsamen Praxis förderte, seien nur einige aufschlussreiche Beispiele genannt.1 Hugo Hartung schilderte Kutschers Haltung während der Lehrveranstaltungen folgendermaßen: In seinen Vorlesungen kam Artur Kutscher uns oft vor wie Mephisto, der den Schüler lehrt und plötzlich wieder mal den Teufel spielen muß. Dann zog er wohl die Augenbrauen hoch, den Mundwinkel herunter, die Faust fuhr aufs Katheder nieder, und ein scharfer satirischer Pfeil schwirrte von der Sehne. Ihn gar den Mimus als den Urquell allen Theaters leidenschaftlich verteidigen sehen, war oft genug auch ein mimisches Erlebnis. (1966: 161) Nach der Beschreibung von Kutschers temperamentvollen Ausführungen und coups de théâtreim Universitätssaal konstatierte er: »Die Geheimräte«, wie Kutscher seine Gegner kollektiv zu nennen pflegte, versperrten ihm den Weg zum Lehrstuhl eines Ordinarius. […] Sie verstanden, daß ein Theaterwissenschaftler nicht nur die Meistersingerbühne von Nürnberg getreulich zu rekonstruieren brauchte, sondern daß er selbst jenen »Tropfen Theaterblut« besitzen mußte, den unser Professor allen Seminaradepten als Grundbedingung Numero eins mit steilem Zeigefinger abverlangte. / Für einen Kutscherschüler, der diesen Tropfen Theaterblut in sich hatte, war der Schritt in die Praxis nie sonderlich schwer. (163) Vom besonderen Interesse ist hier zunächst die implizite Kritik an der Tendenz anderer Dozenten bzw. Institute, die Aufgaben der Theaterwissenschaft auf die Rekonstruktion einzelner Inszenierungselemente zu beschränken. Der Rekonstruktion widersetzte sich das Erlebnismoment, das man erst durch die und in der konkreten Theaterpraxis hat. Auch Carl Niessen betonte diesen Ansatz Kutschers: In der Lehre des Münchner Professors »stand die Bühne der Erfahrung stets im Mittelpunkt« und für seine Schüler »wurde das Theater nie zu einer Abstraktion« (in Günther 1938: 199). Da das verkörperte Wissen allein eine starke Wirkung auf der künstlerischen sowie gesellschaftlichen Ebene entfalten könne, erschöpfte sich das gemeinsame Lernen nicht im Unterricht, sondern ging programmatisch durch unkonventionelle Örtlichkeiten wie Theaterfahrten, Wanderungen, Zusammenkünfte, Stammtische und Aufführungen weiter. Darüber gab Ernst Hoferichter eine erschöpfende Auskunft: Da waren die Vorlesungen bei Arthur Kutscher über Theatergeschichte, Stilkunde und Literarische Kritik sowohl Befreiung wie Entbindung. Hier herrschten statt der Ismen allein das Leben und seine Wirklichkeiten. Lebensgefühl war alles! Eine imaginäre Nabelschnur verband seine Vorlesungen mit der Fülle des Erlebens. „Meine Dam’n und Herren!“ begann eine Stimme, die ihre Erbmasse nicht aus der Sixtinischen Kapelle bezogen hatte. Schwer und dumpf kamen da Töne aus dem Inneren. Hier sprach die Erde mit. Diese Stimme höre ich noch immer. Was sie vortrug, habe ich längst vergessen. […] Die Wände des Hörsaals versanken. Wir saßen in einem Wald, zitierte Verse wurden Blätterräuschen. […] Und wenn eine Stunde zu Ende war, so stand die Kutscherei erst am Anfang eines Tages. Kanäle des Jungseins führten ins Herzgeviert brodelnder Lebendigkeit. (in v. Bruch/Müller 1986: 321f.) Hugo Hartungs Wortwahl „Adepten“, „Grundbedingung“ und „verlangen“ soll hier deswegen in den Fokus gerückt werden, weil sie die Organisation der von Kutscher koordinierten Lerngemeinschaft eindeutig bestimmt. Hartung ist nicht der Einzige, der den partizipatorischen Charakter des Kutscher-Kreises gewahrte: Arnaudoff, bulgarischer Professor für deutsche Sprache und Kultur, behauptete, Kutschers »Vorlesungen, Übungen und Ausflüge« seien »massenhaft besucht bzw. mitgemacht« worden, und betonte fernerhin die Wichtigkeit der Bedeutungsaushandlung (in Günther 1938: 192). In Kutschers Übungen hätten alle Teilnehmer die Herausforderung angenommen, sich mit den im Seminarraum vorgeschlagenen Gedanken, Auffassungen oder Urteilen eingehend auseinanderzusetzen, so dass »häufig verschiedene Meinungen verfochten wurden und im Kampfe miteinander standen« (193). Auch Pongs, Professor für deutsche Literatur an der TH Stuttgart, erkannte, dass Kutschers Übungen »den Hörer in Zustimmung und Widerspruch« aktivierten (203), und Schalom Ben-Chorin präzisierte dahingehend, dass alle im Unterricht gewonnenen Erkenntnisse »bei Kutscher nicht vorgefaßte akademische Meinung, sondern Endprodukte langen Nachdenkens und reicher Erfahrung« waren (in v. Bruch/Müller 1986: 339). Vor diesem Hintergrund muss der Begriff ‚Praxis‘ in Kutschers Lehrtätigkeit weiter erläutert werden: Der Theaterprofessor bezog sich damit nicht nur auf die Bühnenpraxis als mögliches Endziel einer universitären Bildung, sondern auch auf die Praxis der wissenschaftlichen Untersuchung. Die Voraussetzung für die Teilnahme an der Münchner theaterwissenschaftlichen CoP war ein »braves Immerdasein. Hier hieß es: immer darin sein – mitten in der Kunst, mitten im Leben und in der lebendigen Wissenschaft« (Hartung 1966: 165). Kunst, Leben und Wissenschaft bildeten somit ein Kontinuum, in dem sich alle drei Elemente bewegen sowie gegenseitig beeinflussen und bereichern. So ist es kaum verwunderlich, dass Kutscher als »der einzige Wissenschaftler, der das Theater als ein lebendiges und aus eigenen Gesetzen wachsendes Werk der Kunst erkannte« vom Regisseur Karl Hans Böhm und als »ein Mensch, der die Brücke zu schlagen wußte zwischen Wissenschaft und Praxis« vom Dramaturg Hermann Frieß bezeichnet wurde (in Günther 1938: 266 u. 272). Hoferichter bekräftigte diese Darstellungen, indem er schrieb: »Obgleich das ewig Lebendige ohne den Geist lebendig bleiben könnte, kam die Strenge der Wissenschaft bei Kutscher nicht zu kurz« (in v. Bruch/Müller 1986: 322). Die Grundkonzepte von Kutschers Forschung, d.h. das Zusammenwirken und das Aneinanderlernen, waren zum einen in akademischen Veranstaltungen und zum anderen im Kontakt mit dem aufgeführten oder noch aufzuführenden Theater vermittelt. Der übliche Verlauf eines theaterwissenschaftlichen Unterrichts in München bezog sich auf zwei Hauptmethoden: die einleitende Veranschaulichung und die nachfolgende Feldarbeit. Kutscher bot allen Mitgliedern der praxisbezogenen Lerngemeinschaft zuerst Anschauungsmaterialien wie Lichtbilder, Diapositive, Bücher mit Zetteln oder Modelle aus unterschiedlichen Stoffen, und dann forderte er die Mitglieder auf, mit oder aus diesen Objekten heraus selbstständiges Experimentieren bzw. empirische Feldforschung zu betreiben und die erworbenen Kenntnisse zu überprüfen. Er lehrte aus der Praxis heraus für die Praxis. Manchmal benutzte er auch banale Gebrauchsgegenstände, um das Verständnis eines Spiels oder die Erfassung eines Phänomens auf der Bühne vorzubereiten. Das von Norbert Schultze erzählte Hutexperiment in einer Vorlesung ist also ein gutes Beispiel für Kutschers Lehrtätigkeit: Er wollte das »Wesen des Komischen« an Hand eines Experimentes noch einmal zusammenfassend deutlich machen. Dazu hatte er einen feierlichen steifen schwarzen Hut mitgebracht. Das »Experiment« bestand nun darin, die »Glocke« auf mannigfaltige Art und unter gewissenhafter Veränderung des Neigungswinkels auf das Professorshaupt zu stülpen. Solch eine Art Demonstration scheint mir typisch für Professor Kutscher: Sie war ebenso unterhaltend und erheiternd wie einprägsam und zweckmäßig. (in Günther 1938: 306) Die Demonstration zeigt nicht nur die modernen sowie exzentrischen Lehrmethoden Kutschers, sondern auch seine Art, die Materialität der Szene – die ‚Glocke‘ ist ein im Volkstheater immer wieder vorkommendes Element – im Seminarraum zu reproduzieren, um sie den Studenten erfahrbar zu machen. Außerdem können die Vorlesungsteilnehmer ihre Fähigkeiten und Fantasie anhand der gebotenen Situation unter Beweis stellen. Die performative Didaktik Kutschers ist ein Beweis dafür, dass der Dozent und seine Schüler keine entkörperlichte, abstrakte Wahrheit verfolgten, sondern dass sie sich an »collaborative fictions« beteiligten (Pineau 1994: 10), um die Pluralität der Meinungen und Weltanschauungen zu einem kollektiv erarbeiteten Wissen zusammenfließen zu lassen, welches dann seine konkrete Anwendung in der Forschung sowie im Leben finden konnte. Alle möglichen Wissensansprüche sollten daher innerhalb der theaterwissenschaftlichen Gemeinschaft ausgehandelt und aufgeführt werden: »[P]erformance reframes the whole educational enterprise as a mutable and ongoing ensemble of narratives and performances, rather than a linear accumulation of isolated, discipline-specific competencies« (Ebd.). Teil II. Potentialphase München, der kulturelle Pol Man suchte nach einem Ferment, das dieses Zellgewebe einer Stadt so weitmaschig und locker gemacht hat. Du verläßt einen Kreis, und der nächste nimmt dich auf. Du treibst dich so lange im fünften, bis dich unversehens drei Schritte wieder in den Mittelpunkt führen, während du schon dachtest, wer weiß wo zu sein. Jeder ist zugleich, wo er ist, und überall. Jeder ist bei jedem. Jeder hat alle Kreise. Alle Kreise haben jeden und keinen. Wenn man zu Ende ist, ist man wieder am Anfang. Wenn man sein Kleid nicht mehr zeigen kann, verkleidet man sich. […] Und so war München die Stadt einer gefühlsmäßigen Demokratie und auch des Karnevals. (Blei 2004: 322f.) Nach dem Abitur in der Geburtsstadt Hannover entschied sich Kutscher im September 1899 für die Münchner Universität, wo er bei Hermann Paul, Franz Muncker, Roman Woerner, Adolf Furtwängler, Karl Theodor von Heigel und anderen anerkannten Namen studierte, die damals in der Hauptstadt Bayerns lehrten. Im Sommersemester 1900 besuchte er die Universität zu Kiel, an der Eugen Wolff Seminare über Schillers Ästhetik und über die Geschichte des deutschen Dramas im 19. Jahrhundert hielt. Kutscher ließ sich von Wolffs Vorstellung einer Wissenschaft des Theaters begeistern und las auch seine skizzenhafte Stilkunde mit Interesse, bevor er sie aber aus mangelnder wissenschaftlicher Präzision und Vollkommenheit ablehnte. Im Wintersemester 1900/1901, nach dem Besuch der Pariser Weltausstellung, zog Kutscher nach Berlin und, auch wenn er »das Theater gründlich kennenlernen« wollte (1960: 32), belegte dort vor allem germanistische Vorlesungen: „Altertums- und Volkskunde“ bei Karl Weinhold, die er positiv fand, „Geschichte der ältesten deutschen Literatur“ bei Roediger, dessen Reizlosigkeit Kutscher sehr schnell verurteilte, „Goethes Faust“ bei Ludwig Geiger, die dem Studenten eine dermaßen große Enttäuschung verursachte, dass er aus dem Kolleg hinauslief, und schließlich „Deutsche Literatur von Klopstock bis Schiller“ bei Erich Schmidt, dem verehrten Nachfolger Wilhelm Scherers, den Kutscher auch hochschätzte. Darüber hinaus hörte der späte Theaterwissenschaftler Max Dessoirs Vorlesung „Ästhetik mit Beispielen aus moderner Malerei, Musik und Architektur“. Gerade in jener Berliner Zeit engagierte sich Dessoir für die Neubegründung einer systematischen Kunstwissenschaft, was zweifellos eine große Faszination auf Kutscher ausübte. Allerdings verschlug es Kutscher im Sommersemester 1901 nochmals nach München und von da ab wurde die Stadt zu seiner Wahlheimat. Die Gründe seiner jugendlichen Entscheidung erklärte Kutscher in seiner Autobiographie: »Was mich veranlaßte, wieder München zu wählen, war nicht eigentlich die Universität, sondern die Atmosphäre der Stadt«, die er näher bestimmt: »ihre Offenheit gegen die mannigfaltige, große Natur, ihre ganze Lebensführung, die einem kräftigen […] Volkstum verbunden war, und ihre Liebe zu bildender Kunst, Architektur, Musik, Theater, die weniger vom bajuwarischen Stamme als von Zugereisten aus Nord und Südost getragen wurden« (35). Was tatsächlich München um die Jahrhundertwende charakterisierte, war einerseits der Aufschwung des Wirtschaftslebens, der am Ende des sog. „Siebziger Krieges“ gegen Frankreich begann, und andererseits die Bevölkerungsexplosion: Durch eine massive Einwanderung wurde die Zahl der Einwohner in der Zeitspanne 1890–1900 von 350000 auf 498503 erhöht (Wilhelm 1993: 9). Neben den darauffolgenden aufsteigenden sozialen Konflikten erlebte die Stadt das Aufblühen von Vereinen, Bünden, Kreisen und Gesellschaften, Zeitungen, Zeitschriften und internationalen Ausstellungen, wie die ab 1889 jährliche Internationale Kunstausstellung im Glaspalast, die den Ruf Münchens als „Stadt der Kunst“ begründete. Die Prinzregentenzeit leitete eine Blütezeit ein, die München in eine der führenden Kunst- und Kulturstädte des deutschen Reiches verwandelte. Der Münchner Aufbruch in die Moderne wurde von sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten, Bewegungen und kulturellen Richtungen getragen, die aber einen gemeinsamen Charakter zeigten: der Widerstand gegen die Autorität – auch im künstlerischen Bereich – ebenso wie gegen viele sittliche Normen und Unterdrückungsformen. Der Begriff ‚Moderne‘ entfaltete sich kunst-, theater- und literarhistorisch in der naturalistischen Bewegung und gleichzeitig in mancherlei Gegenrichtungen, die im Kunstwerk entweder die Entfaltung der Subjektivität nach Nietzsches „Willen zur Macht“ oder den Einbruch des Freud’schen Unbewussten oder die Erweckung naturmystischer Vorstellungen erstrebten. Wie Brauneck treffend zusammenfasst, ergab sich in der Moderne »ein äußerst produktives geistiges Klima […], in dem künstlerische Richtungen wie Impressionismus, Symbolismus oder „Neuromantik“ ihre theoretischen oder weltanschaulichen Bezugspunkte fanden« (682). Sowohl die Vertreter des Naturalismus als auch die Naturalismus-Gegner propagierten ein eigenes Projekt der Moderne: entweder einen Objektivitätsanspruch (Außenwelt, Realität „ohne die Menschen“) oder einen subjektiven Wahrheitsbegriff (Innenwelt, Empfindung, Naturtrieb, Vitalismus). Wenn man sich im deutschsprachigen Raum auf München allein konzentriert, ist sowohl die Koexistenz gegenseitiger und trotzdem eng verbundener Strömungen als auch das Kulturengagement unterschiedlicher Gruppierungen am deutlichsten erkennbar. Eine Beschreibung des kulturellen Pols München um 1900 ist für die Analyse der frühen Tätigkeit Artur Kutschers äußerst brauchbar, denn diese enthielt schon in nucedas Potential für die Förderung bzw. Koordination einer praxisorientierten Theaterwissenschaft. Wenn man Communities of Practicegenauer betrachtet, kann man diese nicht als isolierte Erscheinungen auffassen oder sie unabhängig von anderen Praktiken verstehen: Ihre unterschiedlichen Praktiken sind miteinander eng verbunden. Ihre Mitglieder und ihre Artefakte sind nicht ihre eigenen allein, ihre Geschichten sind nicht einfach interne Geschichten. Sie sind eher Artikulationsgeschichten zur übrigen Welt hin (Wenger 1998: 103). Was die Kunst- und Kulturgeschichte Münchens in der Prinzregentenzeit prägt, sei eben die Aufwertung der Gemeinschaft im Sinne einer Bildung von sozialen Gruppierungen unterschiedlicher Art. Eine solche Kollektivität entfernte sich allmählich vom aufklärerischen Ideal einer kulturellen Elite, die nach ihrem geistigen Muster die ganze Nation modellieren sollte, und gab sich eher der Volksutopie hin. Die Künstler, die sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Förderung eines kultivierten Bürgertums beschäftigt hatten, plädierten für die Ausbreitung eines unpolitischen Klassizismus und waren daher der königlichen Macht untergeordnet.1 Die junge Künstlergeneration rebellierte demnach heftig gegen diese sterile Kunst, die in ihren Augen den Status quo einfach verteidigte und die deutsche Misere vertiefte. In ihrer Vorstellung sollte ein außergeschichtliches oder unhistorisches Volk an die Stelle einer bürgerlichen bzw. philiströsen Nation treten. In diesem Zusammenhang spielte die Theatervision Richard Wagners unzweifelhaft eine große Rolle.2 Wagners Kunstbegriff fußte auf dem Gemeinschaftserlebnis, welches durch emotionale, prä-rationale Bindungskräfte eine temporäre Überwindung der sonst gültigen Gesellschaftsspaltungen erforderte und hierdurch das ganze Volk konsolidieren und einigen konnte.3 Eine für das Volk erzeugte Kunst konnte nur aus der idealisierten Gemeinschaft des Volks selbst kommen und verlangte somit die Zusammenarbeit zwischen Intellektuellen, Theoretikern, schon ausübenden sowie debütierenden Künstlern, die sich jeweils durch eine Verflechtung ihrer Praktiken gegenseitig legitimierten. Rolf Parr, Literaturhistoriker und anerkannter Forscher auf dem Feld literarisch-kultureller Vereine vor und nach dem ersten Weltkrieg, hat versucht, das Phänomen systematisch zu kontextualisieren: Im wilhelminischen Deutschland hätten das Prosperieren von Technik, die Industrialisierung und die Universalisierungstendenz eines kapitalistischen Systems zur Radikalisierung der Opposition zwischen vorhandenem Materialismus und mangelndem Idealismus geführt, »was notwendigerweise kulturkritische Konzepte mit kompensatorischer Intention auf den Plan rufen mußte, die von einer nach 1860 geborenen und bereits im Reich aufgewachsenen Generation von Intellektuellen getragen wurden« (2000: 47). Man betrachtete also die schwache nationale Identität der Deutschen als direkte Folge des kulturellen Verfalls und beabsichtigte daher, das Verhältnis zwischen Nationalidentität und Kultur zu problematisieren: Für diesen Teil des wilhelminischen Bildungsbürgertums galt es, zum einen nach „außen“ zu expandieren und zu kolonisieren, […] zum anderen nach „innen“ die deutsche Kultur zu erneuern, um damit […] das Spezifische eines präsupponierten deutschen Nationalcharakters und zugleich die eigene sozio-ökonomische Stellung zu sichern. (Ebd.) Die konsequente Reaktion sei eine konservative Kulturkritik gewesen, welche die Kunst idealistisch verstand, wobei sie diese mit einem germanischen Kult verband. Das Volk würde somit zum utopischen Zielbegriff einer noch zu verwirklichenden neuen nationalen Integration, um deren Realisierung sich um 1900 eine Vielzahl kulturkritischer, lebensreformerischer und in der Regel zugleich völkisch-religiös akzentuierter Gruppe, Bünde, Orden, Gemeinschaften und Kreise bemühte, die teils mit minimalen Distinktionen in Konkurrenz zueinander standen, sich teils in übergeordneten Verbänden kooperierend zusammenschlossen. (49) Der Ansatz einer konservativen Kulturkritik4 ebenso wie der eines reaktionären Modernismus im Sinne Jeffrey Herfs5 übersieht jedoch die ständige Gegenübersetzung von Denkern und Künstlern mit auktorialen Instanzen – seien sie Verkörperung der kulturellen Tradition oder Ausdruck der politischen Macht –, die Öffnung der deutschen Kunst zu ausländischen, sogar transnationalen Stilen6 sowie die Aushandlung von Bedeutungen, Funktionen und Praktiken zwischen Mitgliedern zwar unterschiedlicher, jedoch verbundener Gemeinschaften, Künste und Disziplinen. Die Münchner Moderne kann eigentlich als »constellation of interconnected practices« bezeichnet werden. Damit meint Wenger Beziehungen zwischen Lerngemeinschaften, welche gemeinsame historische Wurzeln, voneinander abhängende Projekte sowie einige gemeinsame Mitglieder haben, einen gemeinsamen Zweck erfüllen oder einer Institution angehören, sich mit denselben Sachverhalten konfrontieren, Artefakte miteinander teilen, entweder geographisch oder durch Interaktion naheliegen, Überlappungsdiskurse oder -stile zeigen und welche schließlich für dieselben Ressourcen in Konkurrenz stehen (1998: 127). Die Interaktion zwischen Praktiken gibt der Konstellation eine gewisse Kontinuität und, umgekehrt, eine einzige CoP produziert und reproduziert die Verbindungen, Stile, Medien, Werkzeuge und Diskurse, durch die sie dazu beiträgt, eine breitere Konstellation zu bilden (130). Dieser Aspekt der Moderne in München ist noch prägender, wenn man die Abgrenzung und Strukturierung ihrer vielen praxisorientierten Gruppierungen betrachtet. Die Abgrenzung ist immer das Resultat historisch gewachsener und gemeinsam benutzter Handlungs- und Deutungsmuster, welche sich nur zum Teil in formal-organisatorischen Parametern spiegeln: »Sie sind vor allem Ergebnis von Aushandlungsprozessen zwischen betrieblichen Akteuren, die sich im Produktionsalltag immer wieder neu vollziehen« (Wehner/Clases/Endres 1996: 79). Die Träger der Geschichte und Tradition einer CoP sind daher die Produktionsmittel, bzw. Artefakte, und die Organisationsstrukturen. Eine so markierte Abgrenzung der kulturellen CoPs war aber um 1900 in der Hauptstadt Bayerns nicht vorhanden, was folglich daran zweifeln lässt, ob man von Communities of Practiceüberhaupt sprechen kann. Sie waren vielmehr embryonale praxisbezogene Gruppierungen, die einfach gemeinsame Interessen teilten oder die sich um starke Persönlichkeiten sammelten, ohne die Bedingungen für eine gemeinsame Unternehmung auszuhandeln. Sie mangelten ferner an einem im Laufe ihrer Existenz erzeugtem Repertoire, das sie von anderen Lerngemeinschaften unterscheiden ließ. Auch die charakteristische Multimitgliedschaft und Vielseitigkeit der Gesellschaften der Münchner Bohème gefährdete ständig ihre Grenzen und Peripherien7 sowie ihre Reproduktion, d.h. die Tradierung lokaler Deutungsmuster und relevanter Handlungssegmente. So ist es kaum verwunderlich, dass alle künstlerisch-geselligen Zirkel ihre interne Dynamik nicht lange zu bewahren wussten, nur wenige Jahre dauerten und mehrmals neugegründet wurden – oft mit anderen Namen. Schon 1954 vertrat Heribert Wenig in seiner – übrigens von Borcherdt und Kutscher selbst betreuten – Dissertation zu deutschen akademisch-dramatischen Vereinigungen eine ähnliche Ansicht: Eine kulturelle und künstlerische Erneuerung im sozial-ethischen Sinne hätte der Parteisozialismus in seiner Beschränkung auf wirtschaftliche und politische Probleme freilich nicht durchführen können. Erst die Hilfe einer Gruppe von Individualisten, die sich aus allen Gesellschaftskreisen zusammensetzten und nur durch ihre sozialistischen Neigungen verbunden waren, vermochte das zu tun. Diese Repräsentanten des sozialen Gewissens der Zeit bildeten, ohne dass man sie gesellschaftlich hätte einordnen können, eine Art anonyme Partei. Es war eine Partei der Jugend, in der die akademische besonders vertreten war und sich hervortat. Sie war kaum ein Feind des Kapitalismus im sozialdemokratischen Sinne, sie kämpfte nur gegen die Macht des Kapitals über die geistige Freiheit. Erfüllt von nationalem Stolz, zog sie gegen den nationalen Illusionismus zu Felde. […] Das ewige Preisen und Beschönigung nationaler Tugenden und der zur Macht und Reichtum führenden Errungenschaften bedeuteten für sie hauptsächlich einen Rücktritt. […] Diese Partei verfolgte vor allem soziale und ethische Ideale. Und sie fand hauptsächlich auf dem künstlerischen Gebiet für das Zustandekommen einer sozialen Kultur zusammen. So war es zunächst mehr ein Programm der Vereinigung […]. (7) Die erste Proto-Lerngemeinschaft der Münchner Moderne, welche die vorher erwähnten Züge trägt, entwickelte sich um die Literaturzeitschrift „Gesellschaft. Realistische Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben“, die am 1. Januar 1885 gegründet wurde. Die Beschreibung ihrer Entstehung und Veränderung soll dem Zweck dienen, die Probleme der konkurrierenden Künstlerkreise vor Augen zu führen, die von ihr ausgingen. Die „Gesellschaft“ bildete sich weniger aus gemeinsamen Ideen oder Projekten als vielmehr aus der generellen Verurteilung des als steril empfundenen Epigonen-Klassizismus der „offiziellen“ Kultur. Darüber hinaus strebten alle Mitglieder danach, ein politisches Diskussionsforum für die Moderne naturalistischer Prägung zu errichten. Die epochemachende Nähe zwischen Kunst und soziopolitischen Bemühungen kennzeichnete bereits sowohl die Zeitschrift als auch die an ihr gebundene „Gesellschaft für modernes Leben“, welche am 29. Januar 1891 in der Gaststätte Isarlust ihre erste öffentliche Veranstaltung durchführte. Wenn der Klassizismus von Heyse und Kollegen eine Flucht im wirklichkeitsentfernten Idealismus gefunden hatte, wollten Michael Georg Conrad – Hauptvertreter des Naturalismus in München – Otto Julius Bierbaum, Julius Schaumberger, Georg Schaumberg, Hanns von Gumppenberg und der von vielen als Inbild des modernen Dichters verehrte Detlev von Liliencron »die künstlerische Produktion mit einem Engagement für die „Verbesserung der Lebensführung der Armen und Notleidenden jeder Art und Herbeiführung vernünftiger Lebensgestaltung“ und damit Kunst und Politik verbinden« (Wilhelm 1993: 16). Schriftsteller, Journalisten, Dramatiker und andere Künstler verlangten also ein gesellschaftliches, ja politisches Engagement, ohne damit parteipolitisch zu sein. Der erste Paragraph der Satzung der „Gesellschaft für modernes Leben“ lautete: Zweck der Gesellschaft ist die Pflege und Verbreitung modernen schöpferischen Geistes auf allen Gebieten […] durch Vortragsabende, Errichtung einer freien Bühne, Veranstaltung von Sonderausstellungen von Werken bildender Kunst, Herausgabe einer Zeitschrift und sonstiger literarischer Veröffentlichungen. Politische Tendenzen irgendwelcher Art stehen der Gesellschaft fern. (zit. nach Wilhelm 1993: 18) Wenn man die Struktur dieser Gemeinschaft näher betrachtet, erkennt man zwei relevante Gestaltungsdimensionen, die später auch in anderen Kreisen und Vereinen zu verzeichnen sind: den Impuls zum Aktivismus und die Etablierung von Gewohnheiten und Zeremonien, wie etwa den Stammtisch, die Veranstaltung von Theateraufführungen, Autorenabenden oder die Veröffentlichung wissenschaftlicher Texte. Speziell soll aber auch auf die mangelnde Aushandlung von Bedeutung innerhalb der „Gesellschaft für modernes Leben“ eingegangen werden, da sie ihre Weiterentwicklung behinderte. Ein klares Beispiel dafür bietet der dritte Vortragsabend der Gesellschaft, als Hanns von Gumppenberg aus den Werken von Karl Henckell vorlas, der als proletarischer Dichter galt8. Er las auch das Gedicht An die deutsche Nationvor, in dem sich Henckell schonungslos gegen den Kaiser äußert. Das Publikum protestierte vehement, man klagte von Gumppenberg wegen Majestätsbeleidigung an und die „Gesellschaft für modernes Leben“ distanzierte sich vom politischen Inhalt des Gedichtes, indem sie erklärte, sie hätte nur dadurch literarisch-künstlerische Tendenzen zeigen wollen. Auch von Gumppenberg verteidigte sich vergebens im Laufe der Gerichtsverhandlung auf diese Weise: Am Ende wurde er zu zwei Monate Festungshaft verurteilt9. Kurz nach dem Ende des Prozesses richtete sich die Münchner Polizei gegen die Zeitschriften „Gesellschaft“ und „Modernes Leben“, die ebenfalls Beiträge naturalistischer Autoren veröffentlichten. Der Naturalismus wurde weiterhin als verdächtig angesehen, als Inbegriff von Nihilismus und Atheismus, als Sprachrohr der Sozialdemokratie. Conrad distanzierte sich prompt von solchen Anklagen, wobei er sich mehrmals innerhalb weniger Monate als Nationalist, Protestant und SPD-Gegner öffentlich bezeichnete. Die Position Conrads wurde aber von anderen jüngeren Mitgliedern der Gesellschaft nicht geteilt, was zu einem ideologischen Bruch führte: Schon Ende September 1891 bemerkte Schaumberger in einem Brief an Max Halbe, die „Gesellschaft“ mangele inzwischen an Einheit und Einigkeit.10 Conrad und seine Vertrauten einerseits sowie die jüngeren Künstler andererseits waren nicht in der Lage, die Gemeinschaft zu erhalten und ihre Bedeutung, ihre Prinzipien sowie ihre Aktivitäten auszuhandeln. Nur die Aushandlung der Bedingungen innerhalb einer Lerngemeinschaft ermöglicht nämlich die Reziprozität des Vertrauens unter den Mitgliedern, die zum wesentlichen Bestandteil der Praxis wird. Im Fall der „Gesellschaft“ könnte man auch sagen, dass ihr gemeinsames Projekt bzw. das Ergebnis eines kollektiven Aushandlungsprozesses als zu schwach resultierte und die Personengruppe löste sich auf, sobald die partikulären Interessen der Mitglieder in der Praxis der Gemeinschaft nicht mehr integriert werden konnten und die Gesellschaftspraxis sich zugleich durch die partikulären Interessen der Mitglieder nicht mehr modifizieren ließ. Sehr schnell traten konkurrierende Literaturkreise, literarische Gesellschaften und Kulturstammtische in München auf, die die Existenz der „Gesellschaft für modernes Leben“ überflüssig machten und ihre Mitglieder anzogen. Die „Nebenregierung“, mit der Josef Ruederer und junge Musiker, Maler und Schriftsteller die zwei ‚Hauptregierungen‘ – bzw. den Naturalismus der „Gesellschaft für das moderne Leben“ und den Klassizismus eines Paul Heyse – herausfordern wollten,11 ist nur ein Beispiel für einen Anhängerkreis, dessen Trägerschaft zu elitär blieb und dessen Einsatzraum zu begrenzt war. Theaterdebatten und -experimente in München Die erfolgreichste neue Gesellschaft war „Der Akademisch-Dramatische Verein“, die ihren Wissensbereich deutlicher als die vorherigen Gemeinschaften bestimmte, Stile, Rituale und zeremonielle Aktivitäten für ihre Erhaltung etablierte und jedem legitimen Mitglied erlaubte, an den verschiedenen Handlungssegmenten teilzunehmen. Der am 27. November 1891 von Studenten der Münchner Universität, Intellektuellen und ausübenden Künstlern zur Förderung der modernen Kunst gegründete Verein identifizierte das lebendige Theater als seinen Wirkungsbereich, nach dem Vorbild der Berliner „Freie Bühne“. Als das Programm zur Förderung der gegenwärtigen Bühnenkunst vom Münchner Schauspielhaus zunehmend übernommen wurde, nutzte der Verein die Gelegenheit, sich anderen Zielen zuzuwenden: erstens der Popularisierung debütierender Dramatiker und Schauspieler, zweitens der »Pflege noch unbekannter oder kaum gespielter Werke vergangener Zeiten«, wie das Dialektlustspiel Datterich von Ernst Niebergall (Wenig 1954: 35). Der Verein distanzierte sich Schritt für Schritt vom naturalistischen Kurs, als man spürte, dass der Naturalismus längst tot war: »[D]ie enge Zusammenarbeit mit jungen Schriftstellern der verschiedensten Richtungen und die fruchtbare Auseinandersetzung mit dem sich immer mehr der „Moderne“ öffnenden Berufstheater bewahrten den „Akademisch-Dramatischen Verein“ vor Einseitigkeit und Erstarrung in literarischen Dogmen« (Hartl 1976: 67). Demnach inszenierte man sowohl Dramen von Ibsen, Hauptmann, Sudermann und Max Halbe als auch Stücke von Maeterlinck, Wilde, D’Annunzio, Wedekind und drei Dialoge (4.–6.) aus Arthur Schnitzlers Reigen1, was am 28. November 1903 die Auflösung des Vereins durch die Universitätsbehörde zur Folge hatte. In dieser Hinsicht zeigte der Verein eine gewisse Elastizität im Aushandlungsprozess von Ressourcen und Werkzeugen, was nur wenige Tage nach seiner Auflösung, am 20. Dezember, zur Gründung der Nachfolgeorganisation „Der Neue Verein“ führte. Der treibende Impuls für die Neugründung war das Vorhaben, »die guten künstlerischen Überlieferungen zu wahren und die wertvolle Bibliothek« sowie die Sammlung neuerer Literatur zu retten (Kutscher 1955: 249). Josef Ruederer war erster Vorsitzender, während sich Georg Hirth, Thomas Mann, Otto Falckenberg und der Rechtsanwalt Wilhelm Rosenthal – später erster Vorsitzende sowie Direktor der „Emelka“ – den Vorstand bildeten. Gerade in diesem „Neuen Verein“ hielt Georg Fuchs am 10. November 1904 den Vortrag über das nur in München durchführbare »kameradschaftliche Zusammengehen der dramatischen Entwicklung mit der bildenden und darstellerischen Künstlerschaft« und über die »Lösung des Theaterproblems«. Dort fand er »die lebhafteste Zustimmung führender Persönlichkeiten der bildenden und angewandten Kunst« und die Einsatzfreude seines späteren Mitarbeiters Max Littmann (1909: 203). Der Verein war kurzum »[e]in Experimentier-Institut für moderne, gefährliche, dem Zensor unsympathische Aufführungen. Jede Veranstaltung dieses Vereins war ein Kulturereignis für München« (Mühsam 1977: 169). Der Erfolg und die Stabilität der Umwandlung vom „Akademisch-Dramatischen Verein“ zum „Neuen Verein“ beruhten darauf, dass sich ihre Mitgliedschaft fast jedes Semester erneuerte und immer neue Ideen und Kräfte in die Gruppierung aufgenommen wurden: »Daneben gab die demokratische Ordnung der Statuten ausgeprägten und berufenen Persönlichkeiten die Möglichkeit, schnell und wirkungsvoll die literarischen und künstlerischen Geschicke des Vereins zu beeinflussen« (Wenig 1954: 42). Die Gestaltung des gemeinsamen Projekts erwies sich folglich als außerordentlich flexibel, so lebte der Verein bis zum Ausbruch des ersten Weltkriegs weiter. Die Gesellschaft, die in der Zeitspanne 1905–1910 mit dem „Neuen Verein“ in Konkurrenz trat, war die von Conrad, Halbe und Kurt Martens geleitete „Münchner Dramatische Gesellschaft“. Diese »suchte ihre Hauptaufgabe in der Entdeckung und Förderung neuer Autoren. Damals, wo der Nachwuchs der Dramatiker von den großen Bühnen noch nicht so verwöhnt ward wie heutigen Tages, hatte das noch einen Sinn. Gleich der erste Versuch gelang über Erwarten2« (Martens 1924: 32). Sie war ihrerseits die Nachfolgerin der im Frühjahr 1900 erloschenen „Münchener literarischen Gesellschaft“, die zumindest erwähnt werden muss, weil sie im April 1898 Shakespeares Troilus und Cressida auf die Bühne brachte, was die ganze Idee der Gesellschaft enthüllte: »eben das Absonderliche […], das Grelle, Bizarre, Groteske, das Dekadente, das fin de siécle, auf das man abzielte und zu dem man sich bekannte« (Halbe 1976: 200). Nach einem Projekt von Ernst von Wollzogen und Ludwig Ganghofer gruppierte sich die geistige Münchner Elite, um den Tod des Naturalismus zu verkünden und an dessen Stelle für einen neuromantischen Kunstsinn zu plädieren 3. Die Inkohärenz zwischen der Trägerschaft und dem Projekt war aber ganz deutlich: Die Ehrenpräsidentschaft der Gesellschaft gehörte Paul Heyse, sowohl Lingg als auch Weltrich galten als Gründungsmitglieder, Otto Julius Bierbaum und Max Halbe waren ordentliche Mitglieder. Die Vertreter der Hofkultur sowie des Naturalismus, zusammen mit anderen Prominenten, hätten einem breiten Publikum durch Lesungen, Vorträge und Theateraufführungen künstlerische Neuorientierungen darbieten sollen, ohne dabei den kommerziellen, unterhaltsamen Aspekt des Projekts zu berücksichtigen. Bemerkenswerterweise wandelte sich die elitäre Kunstidee von Ernst von Wolzogen in Richtung einer Travestie sowohl des Klassizismus als auch des Naturalismus, sie verwandelte sich ins Kabarett. Diesbezüglich muss hier ergänzt werden, dass der Gedankenaustausch über die Konturen moderner Theaterästhetik und über die Notwendigkeit einer Theaterreform um 1900 eine der bedeutendsten Thematiken für fast alle Proto-Lerngemeinschaften darstellte und von verschiedenen Ausgangspunkten getrieben wurde. In jeder kulturellen Gruppierung Münchens spielte das Theater, oder die Theatralität als »Modell für Kultur und Leben« (Balme 1994: 22), ohnehin eine wichtige Rolle. Theaterveranstaltungen bildeten das Repertoire und die Hauptaufgabe für die avantgardistischen Künstlerkreise. Darüber hinaus galt die theatralische Aufführung als Kunstform par excellence, um das ganze Volk mit einzubeziehen und das Terrain für eine gesellschaftliche Veränderung zu ebnen. Berücksichtigt man jedoch dieses Element, so gelangt man zu der Feststellung, dass die Münchner Moderne nicht nur von einer »umfassenden Theatralisierung der Kultur« geprägt wurde (13), sondern auch von der Überlagerung von Theatralität und soziopolitischem Engagement, ein Keim der in jeder damaligen CoP steckte. Die wichtigsten Innovationen im Theaterbereich betrafen also einerseits populäre, volkstümliche Theaterformen wie das Kabarett, das Schattenspiel, das Laientheater, die Bauernstücke oder die Passionsspiele, das Naturtheater und den Zirkus, andererseits entdeckten die Theatermenschen die empathische und physische Nähe zum Publikum, ohne auf das Wort zurückgreifen zu müssen, die Stärke des handelnden Körpers, des Raums, der Empfindungskraft, des Gemeinschaftserlebnisses. Um es kurz ausdrücken, die Theaterleute suchten am Anfang des 20. Jahrhunderts nach »Lockerung und Überwindung der überlieferten Formen« der Theatralität, in Richtung einer offeneren, direkteren Konfrontation mit dem Publikum« (Rühle 2007: 154). Das prägnanteste Beispiel der Beziehung zwischen Kulturengagement und ästhetischer Reform, die das Münchner Theater außerhalb Bayerns bekannt machte und trotzdem nur kurzlebig war, ist das literarisch-künstlerische Kabarett „Die Elf Scharfrichter“, das nach dem Vorbild des Pariser „Chat Noir“ gegründet wurde. Das Vorbild zeigt sowohl den internationalen Anspruch des Vorhabens als auch die intendierte Popularisierung des Theaterprojekts. Otto Falckenberg nennt das Schwabinger Kabarett »ein Faschingskind«, da das Projekt eigentlich im Karneval zu datieren sei, in dem Künstler und Denker gegen die Lex Heinze kämpften.4 Die erste Libertinage-Welle, die eine massive Mobilisierung von Münchnern in Sachen Kunst sah, ist auf Anfang 1900 datierbar: Dreitausend Menschen, darunter Bierbaum, Conrad, Falckenberg, Halbe, Schaumberger, Hirth, Lenbach, Lips und Ruederer, versammelten sich zum Protest im Bürgerlichen Bräuhaus. „Der Akademisch-Dramatische Verein“ setzte eine Prozession Schwabinger Künstler und Studenten durch die Hauptstraßen und -plätze der Stadt in Bewegung, mit einem satirischen Plakat gegen das Gesetz und mit einem Chor: »Das Lied5 wurde in hektographierten Blättern verkauft. Damals erschien auch Das Buch von der Lex Heinze. Ein Kulturdokument aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts« (Kutscher 1952: 113f.). Kurz danach gründeten Halbe und Hirth den „Goethebund“ zum Schutze freier Kunst und Wissenschaft, der sechstausend Münchner am 22. März 1900 gegen die Lex Heinze im Münchener Kindl-Keller aufbrachte. Im „Goethebund“ schlossen sich nicht nur Künstler und Publizisten, sondern auch Akademiker zusammen. Am 5. April 1900 luden die Liberalen ins Kreuzbräu ein. Am 7. April sprach Sudermann im Münchener Kindl-Keller vor viertausend Zuhörern, die dort vom „Goethebund“ eingeladen worden waren, und schließlich, am 1. Juli, forderte der Bund die gesamte Bevölkerung Münchens zum Eintreten gegen das missliebige Gesetz auf. Was sich in der Stadt ergab, war das Resultat aller Bemühungen seitens künstlerischer Gesellschaften, das Interesse für Kunstproduktion und Kunstfreiheit im Volk hervorzurufen, um dadurch eine erhöhte Aufnahmebereitschaft für ihre Werke zu erreichen.6 Im Reichstag wurde die Änderung des Gesetzes im März 1900 dank einer hinter-den-Kulissen-Arbeit möglich: Die Lex Heinze wurde nur geringfügig gemildert,7 nichtsdestotrotz glaubten Künstler und Intellektuelle, sie hätten durch ihren liberalen Protest politische Entscheidungen beeinflusst und sich mit der Masse in Kontakt gesetzt. An diesem Punkt, erzählt Falckenberg, suchten auch wir, die Jugend dieser Kämpfe, unserer Kraft und Leidenschaft eine dauernde, fortwirkende Form zu geben. Der Gedanke des literarischen Kabaretts lag damals in der Luft: […] Stilpe, der Held von Bierbaums Roman, hatte die Idee eines künstlerischen Tingeltangels verkündet; Panizza und andere sie diskutiert; so saßen auch wir, Zeichner und Schriftsteller des „Simplicissimus“, Studenten und Schauspieler vom Akademisch-Dramatischen Verein, junge Maler der Sezession, die Münchner Avantgarde auf allen künstlerischen Gebieten in der „Dichtelei“ zusammen, einer Künstlerkneipe in der Türkenstraße, und berieten, wie ein solches Unternehmen wohl anzufangen wäre. (1944: 106) Die Bezeichnung ‚Faschingskind‘ führt ferner die Erwartungen vor Augen, die die Künstler der Schwabinger Bohème gegenüber einem Theater hatten, das Unterhaltungsformen wie Vaudeville oder Singspiel als Köder für eine angemessene Rezeption der modernen Kunst in der Gesellschaft benutzen konnte. Diese Erwartungen hatten sich früher auf das Deutsche Theater konzentriert, das am 26. September 1896 eröffnet worden war: »Das ganze offizielle, künstlerische und literarische München war versammelt und harrte der kommenden Dingen. […] Alle Welt betrachtete die Einweihung des Deutschen Theaters unter der Direktion Meßthaler gleichsam als die Inthronisation der „Moderne“ in München. Aber es sollte anders kommen. Der Verlauf des Abends zeigte, daß Meßthaler höchstens vielleicht ein Johannes war, keinesfalls aber der erwartete Messias selbst« (Halbe 1976: 231). Das Programm war tatsächlich ein Mischmasch, der offensichtlich unter der Idee litt, dass man jeder Art von Zuschauer etwas zur Vergnügung geben musste. Halbe verurteilt: »Die Vielheit und Zwiespältigkeit dieser Genüsse verwirrte und ermüdete das Publikum (die Vorstellung endete erst lange nach Mitternacht) und offenbarte zugleich die mangelnde Eignung des neuen Hauses für das gesprochene Wort« (231f.). Das katastrophale Unternehmen des Deutschen Theaters wurde in kurzer Zeit ins Münchner Mekka der Varietés verwandelt.8 Die Mitglieder des Kollektivs der „Elf Scharfrichter“ nahmen sich daher der Thematik des Kulturengagements durch die Reformierung des Vaudevilles an9 und wählten als Spielort einen kleinen Fechtraum im rückwärtigen Teil des Gasthauses „Zum Goldenen Hirschen“ (Türkenstraße 28). Max Langheinrich entwarf die Innenarchitektur des Theatersaales und stattete den Raum mit einer Guckkastenbühne aus, wobei er danach strebte, eine Intimität zwischen Zuschauern und Darstellern herzustellen: »Mehr als achtzig hatten nicht Platz. Aber etwas mehr als hundert waren immer da« (Blei 2004: 314). Neben der Bühne befand sich ein versenktes Orchester, wie im Festspielhaus Bayreuth und im Prinzregententheater. An den Wänden bemerkte man vor allem die von Wilhelm Hüsgen modellierten Masken der „Elf Scharfrichter“10. Die Eröffnung des Kabaretts fand am 13. April 1901 statt. Die „Elf Scharfrichter“ in München, zusammen mit Ernst von Wolzogens „Überbrettl“ und Max Reinhardts „Schall und Rauch“ in Berlin, machte die Kabarettform in Deutschland bekannt. Die „Elf Scharfrichter“ beschränkten sich »keineswegs auf Parodie und Amüsement« wie die Berliner „Überbrettl“ und „Schall und Rauch“ (Falckenberg 1944: 114) und waren jedenfalls wenig bieder und angepasst an den einschlägigen Publikumsgeschmack, deshalb mussten sie sich stets mit Problemen der Zensur herumschlagen. Man spielte dreimal in der Woche, dann vermutlich allabendlich, und jeden Monat wurde ein neues Programm vorgestellt, zu dessen Premiere regelmäßig auch die Kunstprominenz im Publikum saß. Zuständig für die Auswahl der Texte waren Marc Henry, Leo Greiner, Willy Rath und Otto Falckenberg; Hans Richard war eher als „Kapellmeister“ tätig. Nach dem von Leo Greiner gedichteten und von Weinhöppel komponierten Eröffnungslied bzw. Scharfrichtermarsch folgten Nummern unterschiedlicher Natur aufeinander: Satiren und Parodien, vor allem aus Hanns von Gumppenbergs Teutschem Dichterroß, Sketsche, Gedichte, klassische Lyrik, Lieder, die „erotisch-verruchten“ Chansons und Balladen Wedekinds, Musikstücke, Tanzgroteske, „automatisches Zeichnen“, Einakter und Ein-Satz-Theaterstücke von Bernard, Courteline, Paul Schlesinger, Keyserling, Falckenberg und von Marc Henri selbst, Ausschnitte aus dem zeitgenössischen Avantgardetheater, Schattenspiele, Puppenspiele. Am Ende sangen alle Zuschauer den Schlager Schwalangscher. Der riesige Erfolg des Kabaretts führte zu hochfliegenden Plänen, zu Kämpfen mit der Münchner Zensur, aber auch zu Streitereien unter den Ensemblemitgliedern wegen des Honorars der Stars. Schon im November 1903 spielten die „Elf Scharfrichter“ zum letzten Mal zusammen. Falckenberg behauptet: Für mich und die meisten anderen hatte die Sache ihren eigentümlichen romantischen Reiz, ihre innere künstlerische Fruchtbarkeitverloren. […] Zum ersten Male war ich nicht nur sympathisierender Zuschauer und bescheidener Helfer gewesen, sondern Mitspieler und Mitleiter an der Spitze einer gemeinschaftlichen künstlerischen Arbeitlauter junger begabter Menschen, einer Arbeit, die ihren Lohn in sich selbst trug. Denn es wird der Ruhm der „Elf Scharfrichter“ bleiben, daß diese Kleinkunstbühne – im Unterschied zu so vielen späteren, unliterarischen oder angeblich literarischen Kabaretts und auch zu den zahlreichen Berliner „Überbretteln“ der Zeit –, daß unsere Kleinkunstbühne wirklich nur aus einer echten künstlerischen und kunstpolitischen Leidenschaft und Begeisterung heraus lebte und schuf[…]. (1944: 137f.) (Herv. v.V.) Man könnte auch sagen, das Kabarett habe sich aufgelöst, weil die Gemeinschaft von Künstlern als Innovationsknotenpunkt zunehmend an Gewicht verloren hatte: Andere Unterhaltungstheaterformen waren in München entstanden, die über andere Quellen und Ressourcen verfügten, um die Utopie sozialer Reformen weiter durch die Kunst voranzutreiben. Schon am 20. April 1901 war das Schauspielhaus in der Maximilianstraße, nach zehnmonatiger Bauzeit, mit Johannesvon Hermann Sudermann eröffnet worden. Die Intendanz übernahm Ignaz Georg Stollberg, für den die Teilnahme an dem „Akademisch-Dramatischen Verein“ der Einstieg in seine große Karriere war. Das Schauspielhaus wurde blitzschnell zum Forum der Avantgarde, das aber ein Repertoire von schon etablierten modernen Dramen mit einer Vielfalt deutscher und französischer Possen verband. Das vom Architekt Littmann und vom Künstler des Jugendstils Riemerschmid errichtete Gebäude selbst war das Ergebnis einer modernen Theaterarchitektur, die gegen das sogenannte ‚Luxustheater‘ mehrere Versuche unternahm, das Auditorium einzubinden. Max Littmann11 erkannte gerade in der Einheit von Bühne und Publikum neue Wahrnehmungsmöglichkeiten: Er plädierte »entschieden gegen das Rangtheater zugunsten eines Amphitheaters, das sich durch eine weitgehende Gleichwertigkeit seiner Plätze auszeichnen würde« (Brauneck 1999: 638). Ab 1903 wurde auch ein Volkstheater (Josephspitalstraße, Stadtteil Altstadt-Lehel) tätig: Als Eröffnungsvorstellung wurde Schillers Kabale und Liebegeboten. Das Repertoire bestand aber nicht nur aus Klassikern, sondern auch aus Schwänken, Possen und Farcen. Eine künstlerische und gesellschaftliche Neugeburt Im frühen 20. Jahrhundert wurde das Theater allmählich als notwendige, soziale, ja kulturelle Praxis betrachtet, um die Kluft zwischen Kunst und gesellschaftlichem Leben zu überbrücken. Jelavich’ These einer Karnevalisierung von Theaterformen, im Sinne einer Überwindung von binarischen Gedanken wie gut/böse, Seele/Körper oder Sein/Schein1, gewinnt in dieser Hinsicht an Bedeutung, wenn man sie als eine ästhetische Verdoppelung kultureller Aufführungen ansieht. Theaterformen und -stile, die sich mit der Theatralität im breitesten Sinn bekannt machen, produzieren eine kondensierte, gesteigerte Inszenierung einer sich selbst wahrnehmenden Öffentlichkeit, durch die sich das Publikum, mitsamt den Akteuren, seines Zustandes bewusst wird. Weitere Aufschlüsse über die abgezielte Transgression jedes ästhetischen sowie ethischen Wertsystems einer unfruchtbaren Vergangenheit, die das Volk als Quintessenz der Gesellschaft vergessen hatte, bringt die damalige Nietzsche-Rezeption. Nach dem Tod Nietzsches wurde sein Gesamtwerk als auch seine Person zum Gegenstand öffentlicher Debatten und opponierender Positionen: Es war ein Pflichtpensum, sich mit ihm auseinanderzusetzen2. Neben dem visionären Philosophen, der ein neues vom selbstschöpferischen Übermenschen beherrschtes Zeitalter prophezeite, zog man auch den Gesellschaftskritiker in Betracht, der das bürgerliche Vakuum demaskierte.3 Dieter Borchmeyer (2009) betont zu Recht, dass sich Nietzsche über die Moderne, bzw. über die Ästhetik und Kunst seiner Epoche, nie positiv geäußert hatte, und trotzdem wurde er zur Schlüsselfigur für viele künstlerisch und geistig Schaffende um die Jahrhundertwende. Das enthält jedoch kein Paradox, weil die heranwachsenden Künstler der Moderne sie nie als Endstation verstanden, sondern als Durchgangsstation. Wenn bei Nietzsche die moderne Kunst mit den Begriffen ‚Romantik‘ und ‚Dekadenz‘ verbunden ist, und daher die gegenwärtige Krankheit, Geistesschwäche und Identitätszersplitterung veranschaulicht, ist sie auch ein notwendiger Schritt in Richtung einer Neugeburt – der Kultur eben wie der Menschheit. Eines steht für Nietzsche fest: Auch wer die Décadence überwinden will, muss sie an sich selbst erfahren haben, muss sich ihr stellen und sie bis auf den Grund durchschauen. […] Nietzsches eigenes Ideal der dionysischen als einer Kunst des aufsteigenden Lebens entspricht demgegenüber der Selbsterfahrung des Décadent und bleibt dialektisch auf sie bezogen. (Borchmeyer 2009: 37) Die dekadente Moderne war für Maler, Schriftsteller, Theatermenschen und Denker um 1900 der Rahmen einer neuen Kreativität, eines reformstrebenden Debattierens und Experimentierens, der sich jenseits der Kunst ausdehnte und die Lebensführung selbst hineinzog. Kunst und Kultur galten somit als kräftige Re-Aktion auf eine heuchlerische, lästerliche, passive Zeit. »Persönlich konnten wir Älteren uns mit den Jüngsten im Allgemeinen recht gut verständigen. Sie gehörten fast alle zu der Boheme, die ja auch wir als Durchgangsstation passiert hatten, waren der Parteipolitik erfreulicherweise ziemlich fremd, der kommunistischen Utopie nur vereinzelt zugetan« (Martens 1924: 155). Was alle, sogar die exklusivsten Gesellschaften und Vereine der Schwabinger Bohème bestimmte, war eine Regenerationsbewegung, die nach einer allgemeinen gesellschaftlichen Erneuerung strebte. Die Erwartung und zugleich Vorbereitung dieser Neugeburt fand in der Münchner Faschingstradition ihre Spiegelung und die Teilnahme an beliebigen Karnevalsfesten übernahm für Künstler, Dichter und Denker eine wichtige Funktion: die Erzeugung der geistigen Atmosphäre, die die neue Kunst inspirieren sollte. Selbst unter einem präzisen Reglement besteht das Festliche gerade darin, »bestimmte Regeln, nämlich die Beschränkungen des Alltags zu überschreiten – etwa zugunsten einer rauschhaften Verausgabung oder einer intensiven Gemeinschaftserfahrung« (Warstat 2005: 104). Emblematisch wirkt hierzu die Haltung der dem George-Kreis naheliegenden Gemeinschaft der „Kosmiker“. Um den ‚Meister‘ George gravitierten die ‚Enormen‘ Karl Wolfskehl, Ludwig Klages, Alfred Schuler und, bis 1901, Ludwig Derleth: Seit 1899 trafen sich die Freunde in der Wohnung Wolfskehls4 – Inbegriff des ‚Wahnmochings‘ –, im Café Luitpold oder in anderen Schwabinger Lokalen, um über Kultur, Mystizismus, Erotik und Zivilisation zu diskutieren. Der Name ‚Die Kosmiker‘ stammte aus ihrem ideologischen Credo, da »ihr Denken das kosmische Leben über das Einzelleben stellte und in kosmischen Beziehungen das Vorbild für symbiotische Verbände unter den Menschen erblickt wurde« (Schneider 1999: 386). Der Einfluss Nietzsches und die Begeisterung für dessen Wiederentdeckung des Heidentums und der Urnatur war nicht nur in der theoretischen Position der Kosmiker sichtbar, sondern auch in deren maßloser Leidenschaft für Feste, Bälle und Maskeraden.5 Die „heidnischen Feste“ der Kosmiker-Runde fanden vorwiegend während des Münchner Faschings statt und richteten sich an die Wiederbelebung einer heidnischen, reinen Lebensform. Sie bezogen daher Maskenumzüge mit historischen, mythologischen oder allegorischen Kostümen, Prozessionen mit Gesangbegleitung, saturnalische Tänze, bacchantische Betätigungen, Vorlesungen angemessener Werke, einen Rauschzustand und die Dionysos-Identifikation der (kosmischen) Beteiligten ein: Das Ganze konstituierte ein Ritual, eine kultische Feier mit steifem Zeremoniell. Die durch die Faschingsatmosphäre übermittelte Selbstinszenierung diente zur Belebung einer verkehrten, alternativen, geistigen Welt, in der eine gereinigte, regenerierte Menschheit erwachen konnte. Außer den privaten Feierpraktiken beteiligten sich die Kosmiker und andere Künstler mithin an der Wiederentdeckung von urtümlichen öffentlichen Theaterformen, wie die Krippenspiele6 oder die unter der Leitung des Literaten Frhr. Alexander von Bernus stehende Bühne „Schwabinger Schattenspiele“.7 Der moderne Mystiker Bernus – so wie er sich selbst konzipierte – verstand sein Unternehmen als ästhetisches Experiment, das sich von den naturalistischen Konventionen der zeitgenössischen Theaterpraxis löste: Das erneuerte Schattentheater sollte die Flächenkunst des Jugendstils zur szenischen Bühne des lyrischen Ausdrucks transformieren. Die Aufführungen zielten darauf hin, die »entmaterialisierte Welt der wachen Träume« als Ausdrucksform der neuromantischen Dichtkunst sichtbar zu machen (zit. nach Wilhelm 1993: 165). Neben Stücken des romantischen Schattenspielrepertoires kamen bald neue Dichtungen zur Aufführung, wie Karl Wolfskehls Thors Hammer, die der vom Symbolismus beeinflussten Sprachmagie Georges nahestanden. Die magische Qualität des Schattenspiels ermöglichte die Entdeckung einer mystischen Dimension jenseits der Grenzen der konventionellen Wahrnehmung, was auch Georg Fuchs ständig hervorhob. Die Popularisierung und Karnevalisierung des Theaters sind ihrerseits Zeichen dafür, dass die Münchner Theaterszene zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Gruppierungen multipler Mitgliedschaft charakterisiert war, die darauf abzielten, durch eine moderne – sprich: reformierte – Bühnenkunst auf den sozialpolitischen Kurs Einfluss zu haben. Die Bewusstmachung der Realität durch die verkehrte Welt des Theaters ebenso wie die Formation einer freien Öffentlichkeit wurden auch von der Volksbühnenbewegung propagiert, doch mit anderen Mitteln. Festspieltheateridee, Festspielprojekte und Volkstheater suchten im festlichen, zeremoniellen Rahmen der Aufführung eine Gemeinschaftsbindung von Darstellern und Zuschauern, die das Volk als utopische Einheit erscheinen ließ und daher zur Begegnung mit sich selbst bringen konnte. Die Orientierung an einer atavistischen, von Raumbewegungen, Gebärden, Tänzen, Ritualen dominierten Festkultur revolutionierte nicht nur die Vorstellung des Theaters als eine Kunst sui generis,8 die anders als die Literatur funktioniert, sondern auch die Rolle des Zuschauers, der zum mitschaffenden Bestandteil der Aufführung, des Kunstwerkes wurde. Georg Fuchs stellte fest, die Künstlertheaterbewegung sei ein Kampf gegen die Literatur gewesen, um »de[n] Orgiasmus, de[n] erhobene[n] Rauschzustand der schauenden Menge« als das Wesentliche anzuerkennen, woraus erst die Aufführung hervorgeht, um das Bühnenbild, die Schauspielkunst und das Drama als gleichberechtigte Elemente des Theaters zu würdigen (1909: 11). Bezüglich Georg Fuchs’ Essay Die Revolution des Theatersbemerkt Manfred Brauneck, seine moderne Theatervision habe sich in einer Art von »Massentheater, das bei den Beteiligten ein rauschhaftes Gemeinschaftserlebnis im Sinne einer „Volksgemeinschaft“ bewirken sollte« enthüllt9 (1999: 638). Fuchs war für die Entwicklung des Theaters in München besonders wichtig, weil er geistiger Urheber sowie Direktor und Dramaturg des „Münchner Künstlertheaters“ war und langjährig versuchte, ein Theater für das neue, große Publikum, bzw. für das ganze Volk, zu fördern. Wenn sich die sog. Bühnenreform – wie in den Versuchen der Shakespearebühne oder der Drehbühne – nur auf die Bühne konzentrierte, verlangte die Theaterreform Fuchs’ noch mehr: »das ganze räumliche Verhältnis, das Drama und Zuschauer umfaßt,« zu reformieren (Fuchs 1909: 109). Es muss aber hinzugefügt werden, dass Fuchs’ Idee eines reformierten Theaters schon mit Peter Behrens ihren ersten Ausdruck gefunden hatte. Auch er hatte für eine Revolution in der Theaterarchitektur plädiert, um ein Gesamtkunstwerk mystisch-symbolischer Natur zu erzeugen,10 um die »Kunst der Geisteskultur« zu verwirklichen (1900: 25). Angeregt von Franz von Stuck, Max von Schillings, Friedrich August von Kaulbach, Fritz von Uhde, Fritz Erler, Ferdinand von Miller, Frhr. von Speidel (Generalintendant der Königlichen Bühnen) und selbstverständlich Georg Fuchs wurde das Künstlertheater am 17. Mai 1908 mit Goethes Fausteröffnet11 (R: Albert Heine). Kurz davor hatte der Georg-Müller-Verlag eine kleine Broschüre mit drei Beiträgen veröffentlicht, welche die Mission des Münchner Künstlertheaters und seine Gründung erklärten – darunter befand sich auch Georg Fuchs Die Ziele des Münchner Künstlertheaters. Das als problematisch empfundene Hauptmerkmal des damaligen deutschen Theaters war der sog. „Barbarismus“ seiner Ausstattung, die eine künstlerische Armut erzeugte.12 Nach Ansicht der Theaterreformer war das deutsche Theater von der aus dem 16. und 17. Jahrhundert übernommenen Oper-, Ballett-, und Guckkastenbühne beherrscht. Weder die Guckkastenbühne noch die „erhabene Bühne“ des Naturalismus hätten einen direkten Kontakt zum Publikum ermöglicht. Die vorgeschlagene Theaterreform betraf daher in erster Linie die Architektur, im Sinne von Spielraum und Dekoration. Der Grund dafür war die Annahme, dass der Kunstcharakter des Theaters nicht im Drama liegt, sondern in der Aufführung. Mit anderen Worten umfasste die Bestrebung nach der „Retheatralisierung des Theaters“ nicht nur eine neue Ästhetik des Mediums, sondern auch ein innovatives, experimentelles Theaterverständnis: Man musste eine wirksame theatrale Sprache entwickeln und die konstruktive Interaktion Darsteller-Publikum fördern. Sehr bald bildete sich eine starke Interessentengruppe, die eine Reform der „dekorativen Ausstattung“, im Gegensatz zu Kulissen, Kitsch, falscher Perspektive und zauberhafter Bühnenausstattung verlangte. Das Ziel war dementsprechend, die räumliche Trennung zwischen Publikum und Darstellern zu überwinden und somit das Illusionsprinzip des naturalistischen Theaters zu vermeiden. Das Gebäude wurde von Max Littmann realisiert, der sich über den Bau des Bühnenraums und des Zuschauerraums wie folgt äußerte: Man braucht sich noch nicht auf den Standpunkt Gabriele d’Annunzios zu stellen, der vom Drama sagt, daß es nichts anders sein könne als ein „Gottesdienst“ oder eine „Botschaft“, die Überzeugung ist aber jetzt schon allgemein, daß wir im Drama ein nicht genug zu schätzendes ästhetisches Mittel zur Erhebung für unser Volk haben, das in möglichst vollkommener Form dargeboten werden muß. In dem Logenhaus ist aber das Verhältnis der Besucher zu einander die Hauptsache, und das Verhältnis des Zuschauers zu der Bühne, von der die erhebende Wirkung ausgeht, durch die erwähnten Mängel so gestört, daß unmöglich durch die Musik, durch das gesungene und gesprochen Wort jene ernste, weihevolle Stimmung erzielt werden kann, welche die feinsten Empfindungen der menschlichen Seele auszulösen vermag. (1908: 18f.) Malerische Hauptfiguren des Münchner Künstlertheaters waren Thomas Theodor Heine, Wilhelm Schultz und Hans Beatus Wieland. Die vier neuen Vorschläge waren die Verkürzung der Szene und das reliefartig ausgestaltete Bühnenbild13, die Reduzierung der szenischen Mittel durch Anwendung stilistisch vereinfachter Dekorationen und Hintergrundmalerei nach dem Muster der jugendstilischen Flächenkunst, die strengste Unterordnung unter den Gesetzen des dramatischen Stils und die ausgiebige Zuziehung der „angewandten Kunst“.14 Trotz des klaren Projekts verfehlte das Münchner Künstlertheater gerade in seinen entscheidenden Neuerungen, so dass es sich am 29. Januar 1909, infolge ökonomischer und künstlerischer Schwierigkeiten, kapitulierte. Der erste Pächter war bemerkenswerterweise Max Reinhardt: Der Regisseur brachte nach München acht eigene Inszenierungen aus Berlin mit ( Sommernachtstraum, Was ihr wollt, Der Kaufmann von Venedig, Faust I, Die Räuber, Lysistrata, Gespensterund Revolution in Krähwinkel). Er begann dagegen die Berliner Festspiele im Künstlertheater mit einer neuen Inszenierung: Hamlet. Es folgten andere Münchner Premieren: Die Braut von Messina, Judithund Hauptmanns Hanneles Himmelfahrt. Was Reinhardt in München für zwei Saisons (1909 und 1910) neu inszenierte, brachte er später nach Berlin.15 Reinhardt erschöpfte die Kunstidee des „Münchner Künstlertheaters“ völlig und übertrug sogar dessen künstlerische Prinzipien auf die Operette: Die Grundidee eines Festspieltheaters der Stilbühne, einer kritischen Öffentlichkeit für das gesamte Volk war mit dem Triumph eines dem Profit gewidmeten Geschäfts endgültig ausgelaugt. Doch Fuchs’ Forderung eines re-theatralisierten Theaters, das sich von der zerdrückenden Übermacht des Dramas befreien konnte, wirkte in der Kunst- und Theatergeschichte der Moderne weiter, wie etwa auf das von Paul Brann aufgestellte „Marionettentheater Münchner Künstler“ oder auf Wassily Kandinskys künstlerische Versuche.16 Seine auf der Bühne zu übertragende Synästhesie von Farbe, Klang und raum-zeitlicher Bewegung auf Kosten der naturalistischen Genauigkeit war nämlich mit der Suche nach einer sinnlichen, vollkommenen Wahrnehmung verbunden, die jahrelang von künstlerischen Zirkeln der Münchner Moderne betrieben wurde. Alle Maler, Architekten, Theatermenschen, Publizisten und Wissenschaftler, die an der Reform des „Münchner Künstlertheaters“ teilgenommen hatten, wollten einfach ihre Arbeit »nicht anders als einen „Versuch“ eingeschätzt wissen, ein Versuch, der seinen Zweck vollauf erfüllt, wenn er anderen Anregung gibt, auf der betretenen Bahn weiter zu arbeiten« (Littmann 1908: 39). Конец ознакомительного фрагмента. Текст предоставлен ООО «ЛитРес». Прочитайте эту книгу цел
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