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I.Menschliche Natur und Tugendethik
Mit dem Hinweis auf affektive Bildung steht die Frage nach dem Verhältnis von Herz und Verstand, von Kognitionen und Affekten in individuellen und kollektiven Bildungs- und Lernprozessen im Zentrum, mehr noch: die Frage nach Bildsamkeit und Bildbarkeit und damit das Problem der moralischen Gefühle. Denn wie soll eine lebbare Moral greifen, wenn Menschen zu ihr nicht von Natur disponiert sind? Die abendländische Tradition verstand Erziehungsprozesse von Beginn an in einem engen und zugleich weiterführenden Verhältnis zur Natur. In ihren Anfängen war dieser Tradition ein anderes Verhältnis von Natur und Kultur gewärtig als der europäischen Moderne seit der Aufklärung. Sie kennt „Natur“ nur noch als einen Bereich kausal wirkender Notwendigkeiten, während sich der Bereich der „Kultur“ – ganz untragisch – mehr oder minder als Feld freien menschlichen Handelns offenbarte. Ein Rückgang auf die Antike freilich zeigt, daß diese Dichotomie weder sinnvoll noch notwendig ist 1Spätestens bei Aristoteles läßt sich lernen, daß man sinnvoll zwischen erster und zweiter Natur unterscheiden kann. Auffällig ist, daß dieser Begriff bzw. die Problematik einer zweiten Natur stets im Zusammenhang mit Bildung und Tugend erörtert wird: „Die Tugenden entstehen in uns“, so Aristoteles, „also weder von Natur noch gegen die Natur. Wir sind vielmehr von Natur dazu gebildet, sie aufzunehmen, aber vollendet werden sie durch die Gewöhnung.“ 2Dabei war Aristoteles keineswegs der erste, dem das quasi-natürliche Wesen menschlicher Verhaltensbereitschaften auffiel: „Die Natur und die Erziehung“, so ein Zeitgenosse des Sokrates, der Atomist Demokrit, „kommen einander gleich. Denn auch die Erziehung formt den Menschen um, und indem sie umformt, schafft sie Natur.“ 3
Diese Überlegung verdichtet sich bei Platon und Aristoteles in dem Gedanken, daß insbesondere menschliche Gewohnheiten zu Natur werden, mehr noch: daß am Ende – so der hellenistisch-jüdische Philosoph Philo – andauernde Gewohnheit stärker sei als Natur. Spätestens in der lateinischen Klassik, bei Cicero, wird dann der Begriff einer anderen, einer zweiten Natur explizit artikuliert: „consuetudine quasi alteram quandam naturam effici“ – „daß durch Gewohnheit gewissermaßen eine andere Natur hervorgebracht wird.“ 4
Da tote Gegenstände keine Gewohnheiten ausbilden, kann sich das, was hier als „andere Natur“ bezeichnet wird, sinnvollerweise nur auf lebende Organismen, zu denen auch die Angehörigen der menschlichen Gattung zählen, beziehen. Freilich fällt auf, daß Cicero noch zögert; in der zitierten Passage aus seiner Schrift über die höchsten Güter spricht er von einer „gewissermaßen anderen Natur“ und trifft damit eine Unterscheidung. Beinahe zweitausend Jahre später nimmt der Begründer der modernen Pädagogik, Jean-Jacques Rousseau, derlei Gedanken auf, wenn er in seinem Diskurs über die Ungleichheit der Menschen aus dem Jahr 1755 schreibt:
„Ich sehe in jedem Tier nur eine kunstreiche Maschine, der die Natur Sinne gegeben hat, um sich selbst wieder aufzuziehen und bis zu einem gewissen Grad gegen alles zu schützen, was sie zerstören oder in Unordnung bringen könnte. Genau das gleiche stelle ich an der menschlichen Maschine fest, nur mit dem Unterschied, daß bei den Bewegungen der Tiere die Natur alles tut, während der Mensch bei den seinen mithilft, insofern sein Wille frei ist.“ Im französischen Originaltext steht für das hier mit „mithilft“ übersetzte Verb „concourt“, das vielleicht genauer mit „mitwirkt“ zu übersetzen wäre. „Jenes“, so fährt Rousseau fort, „wählt oder verwirft mit Instinkt, dieser durch einen Akt der Freiheit, woraus sich ergibt, daß das Tier nicht den ihm vorgeschriebenen Gesetzen entgehen kann, selbst wenn es zu seinem Vorteil wäre, und daß der Mensch sich oft zu seinem Schaden davon entfernt.“ 5
Das ist die Fähigkeit der Menschen, sich willentlich und frei zu ihrer (ersten) Natur zu verhalten und dabei eine zweite, eine charakterliche Natur zu schaffen. Diese zweite, anerzogene und gebildete Natur entfaltet sich in Zuständen „eines Charakters, dessen Träger im Hinblick auf einen bestimmten Bereich von Verhaltensfragen zu richtigen Antworten gelangt“ 6Diese Charakterzustände lassen sich als „Tugenden“ bezeichnen. Um sie besser zu verstehen, ist zu klären, wie menschliche Charaktere, d. h. die je nachdem tugend- oder laster haften, dauerhaften Prägungen und Neigungen eines Menschen entstehen bzw. welches ihre Bestandteile sind. Wenn der Charakter Ausdruck, ja sogar Inbegriff der zweiten Natur ist, diese aber wesentlich durch Gewohnheitsbildung entsteht, und wenn bestimmte Charakterzüge deshalb als „tugendhaft“ ausgezeichnet sind, weil sie es Menschen ermöglichen, bestimmten normativen Ansprüchen zu genügen, dann setzt dies zugleich eine bestimmte Empfänglichkeit dafür voraus, was in gegebenen Situationen zu tun ist. Tugenden basieren mithin auf intelligenten Empfindsamkeiten für eigene und andere Befindlichkeiten, auf Sensitivitäten, genauer gesagt: eine einzige Sensitivität, „die ihrerseits nichts anderes ist als die Tugend überhaupt, also eine Fähigkeit, die von Situationen an das Verhalten gestellten Forderungen als solche zu erkennen.“ 7
Es geht also um intelligente Gefühle bzw. „eine einzige komplexe Form der Sensitivität“, die zugleich eine moralische Sichtweise begründet. Demnach beruhen Tugenden mindestens so sehr auf affektiven Haltungen, wie sie in kognitive Fähigkeiten münden. Freilich können es kaum alle affektiven Haltungen sein, die zu tugendhaften Charakteren disponieren. Die zweite, in einer bestimmten normativen Form gebildete menschliche Natur resultiert damit aus einer spezifischen Art der Affektbildung, wenn man so will aus einer „éducation sentimentale“ 8Ein Verständnis der Tugend, der Tugenden erheischt demnach eine Entschlüsselung des moralischen Charakters von Gefühlen im Lauf des menschlichen Lebens. Dies war das Programm Rousseaus, der in seinem Emile eine Bildung zur Liebe als Basis moralischen Verständnisses forderte.
„Seine ersten Zuneigungen“, so Rousseau über den jungen Menschen, „sind die Zügel, mit denen man all seine Bewegungen lenkt; er war frei, und ich sehe ihn unterworfen. Solange er nichts liebte, hing er nur von sich selbst und von seinen Bedürfnissen ab. Auf diese Art werden die ersten Bande gebildet, die ihn mit Wesen seiner Art vereinigen. Wenn er seine erwachende Empfindsamkeit auf sie richtet, so glaube man nicht, daß sie gleich anfangs alle Menschen umfaßt und daß das Wort Menschengeschlecht ihm etwas bedeutet. Nein, diese Empfindsamkeit wird sich zunächst auf seinesgleichen beschränken, und seinesgleichen werden keine Unbekannten für ihn sein, sondern diejenigen, mit denen er Verbindungen hat, diejenigen, welche ihm die Gewohnheit lieb und notwendig gemacht hat, diejenigen, welche augenscheinlich ebenso denken und empfinden wie er, diejenigen, die er den gleichen Leiden, die er gelitten hat, ausgesetzt sieht und die für die gleichen Freuden, die er genossen hat, empfänglich sind – mit einem Worte, diejenigen, bei denen die natürliche Gleichheit augenfälliger ist und ihm eine größere Neigung zu lieben gibt.“ 9
Die auf der Basis identifikatorischer Prozesse stattfindende affektive Bindung Gleichartiger führt zu einer partikularen Solidarität, die die notwendige Bedingung zur Ausbildung einer universalistischen Moral hier und einer entfalteten Individualität dort ist, die sich im Prozeß ihrer Herausbildung wechselseitig bedingen. Rousseau fährt fort: „Er wird erst nachdem er sein Naturell auf tausenderlei Art entwickelt hat, erst nach vielen Betrachtungen über seine eigenen Gefühle und über diejenigen, die er an anderen beobachten wird, dahin gelangen, daß er seine einzelnen Vorstellungen unter dem abstrakten Begriff der Menschheit verallgemeinert und seinen besonderen Neigungen diejenigen hinzufügt, durch die er sich mit seiner Art zu identifizieren vermag.“ 10
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