Unter individuell, wesentlich und dem Wesentlichstem versteht Nietzsche keinesfalls das, was unter diesen Namen allgemein geläufig ist; man wird noch sehen, in welcher Weise das Individuelle und das Nicht-Individuelle sich in einer ununterscheidbaren Einheit zusammenfinden, die von der Sorge um Authentizität geboten wird; in diesem Zusammenhang werden wir bei Nietzsche auf eine Reihe von Schwierigkeiten stoßen.
Wenn das bewußte Denken unfehlbar an dem Verrat übt, was wir als unser Wesentlichstes besitzen, wie kann sich dann dies Wesentliche auch nur uns selbst mitteilen? Wie kann es sich vom Herdenhaften unterscheiden, das immer schon unter dem pejorativen Begriff der Nützlichkeit steht; wie kann unser Wesentliches unserem eigenen Nützlichkeitsdenken entrinnen? Ist das Authentische an uns etwas in seiner Reinheit ganz und gar Nutzloses und so erst in Nietzsches Sinn eigentlich Wertvolles, ein Begreifen der Existenz, das sich selber genügt, die Möglichkeit, eins und alles zugleich zu sein?
Für das bewußte Denken – das Herden-Denken, das nichts für uns Wesentliches offenbart, für dies von Nietzsche für wertlos erklärte Denken ist das größte Elend dies, ohne Ziel zu sein. Zum Beispiel das Fehlen einer Wahrheit, die das bewußte Denken als höchstes Ziel zu erreichen suchen könnte. Das Bewußtsein muß sich seiner Natur nach auf etwas vor ihm Liegendes zubewegen, immer auf der Suche nach einem Ziel, das seine eigene Definition ist.
Umgekehrt ist der größte Genuß für das Pathos, im unbewußten Leben der Triebe, in diesem für uns Wesentlichen ohne Ziel zu sein. Und wenn andrerseits der Glaube an ein Ziel das Bewußtsein glücklich und das Denken sicher macht, so wird die Ausrichtung an einem Ziel vom Pathos als größter Notstand erfahren und wenn Nietzsche Spinoza kritisiert, meint er nichts andres als dies. Denn auch wenn die Triebe als Bedürfnisse das, was das Bewußtsein sieht, nicht kennen, so stellten sie doch das vor, dessen Bedürfnisse sie sind. Und so müssen sie das Bild, das sie von sich selbst haben, augenblicklich verlieren, sobald das Bewußtsein ein Ziel aufrichtet. Bilder ihrer selbst, veräußern die Triebe ihr eigenes Bild zugunsten dessen, was ihnen von Natur her unbekannt ist, zugunsten des Ziels.
Unser Wesentliches, wenn es im unausdrückbaren und durch sich selbst nicht mitteilbaren Pathos liegt, stellt als Gesamtheit des Trieblebens eine Gruppe von Bedürfnissen dar; aber sucht es nicht in der Selbstvergeudung seine Befriedigung? Und wie kommt es zu dieser Vergeudung und wie bringt sie es zur Befriedigung? Unser tiefstes Bedürfnis spricht das Wesentliche unsrer selbst zum Beispiel im Lachen und im Weinen aus und vergeudet sich als Lachen und Weinen selber, die das Bild dieses Bedürfnisses sind – Lachen und Weinen, die unabhängig von jedem Motiv entstehen, welches das bewußte Denken in seiner Zweckmäßigkeit ihnen zu Recht oder Unrecht beilegen mag. Und so verschwendete sich unser tiefstes Bedürfnis und der Verlust jeden Ziels würde für einen Augenblick mit unserem tiefen Glück zusammenfallen.
Das Pathos versteht also sehr wohl uns, während wir an seiner Art, zu verstehen, nicht teilhaben können. Denn woher kommt uns plötzlich dies Fehlen eines vernünftigen Motivs und diese Befriedigung, die wir im Lachen oder Weinen vor dem offenbar grundlosesten Schauspiel finden, wie es uns die Ansicht einer plötzlich enthüllten Landschaft oder die Brandung am Meeresstrand bietet; etwas in uns lacht oder weint, das, um sich unsrer zu bedienen, uns verzückt und uns selbst uns entzieht; heißt das, daß dies Etwas nie anders als in den Tränen und im Lachen gegenwärtig ist? Denn wenn ich in dieser Weise lache und weine, verstehe ich nur, daß dies unbekannte Motiv, das in mir weder Gestalt noch Sinn gewonnen hat, sofort verschwindet, wenn es nicht das Bild dieses Waldes oder dieser eifersüchtigen Wellen über verschütteten Schätzen ist. In Beziehung auf dies unbekannte Motiv, das mir diese äußeren Bilder verbergen, bin ich nur Bruchstück , wie Nietzsche schreibt, mir selbst nur ein Rätsel und grauser Zufall . Und als Bruchstück , als Rätsel , als Zufall bleibe ich in Beziehung zu meinem Wesentlichsten, das sich, vielleicht, in diesem Lachen und diesem Weinen ohne vernünftigen Grund ausgesprochen hat; doch dies Wesentlichste, das sich in dieser Weise geäußert hätte, würde einem dem Licht des Bewußtseins verborgenen Bilde entsprechen, einem gegen mich selbst verkehrten Bilde, das ich, in der Perspektive des Ziels befangen und bei dem Versuch, diesem Lachen oder Weinen das größte Ausmaß an Bewußtsein zu schenken, zu begreifen versäumt habe; und es muß also eine Notwendigkeit geben, die mich lachen oder weinen machen will, als würde ich freiwillig lachen oder weinen; und ist diese Notwendigkeit nicht die selbe wie diejenige, die die Nacht in Tag verkehrt, den Schlaf in ein Wachen, darin das Bewußtsein seine Ziele aufrichtet? Sollte es nicht die selbe Notwendigkeit sein, die die Bilder des hellen Tages wieder in die der Nacht verkehrt? In der Perspektive auf ein Ziel leben und denken bedeutete also für mich, von meinem Wesentlichsten mich entfernen, von dieser Notwendigkeit, die sich in mir als mein tiefstes Bedürfnis ausspricht; mein Wesentlichstes wiederzuerlangen bedeutete folglich, gegen den Strich meines Bewußtseins zu leben, und in diese Notwendigkeit, die mich im Lachen und im Weinen überrascht hat, hätte ich all mein Wollen und mein Vertrauen zu setzen; denn dieselbe Bewegung, die das Bewußtsein aus der Nacht in die Morgenröte, wo sie ihr Ziel setzt, hinauswirft, entfernt mich von diesem Ziel, um mich zu dem zurückzuführen, was ich in der tiefen Mitternacht an Wesentlichem habe. Dieser Notwendigkeit unterworfen zu sein, ist eines; ein andres ist es, ihr wie einem Gesetz unterworfen zu sein; und wieder ein anderes, dieses Gesetz im Bild des Kreises zu formulieren.
Das Streben nach Wahrheit ist uns als Trieb gegeben und dieser Trieb mit der Funktion des Bewußtseins vermischt; zu fragen, inwieweit das Streben nach Wahrheit dem Pathos und seinen Irrtümern einverleibt werden kann, würde also heißen, daß das Pathos etwas erzeugt, was es sich noch einverleiben muß. Und tatsächlich – wenn das Bewußtsein nur diesem Streben als seinem eigenen Trieb folgt, so wirkt es, im Namen der Wahrheit, auf seinen eigenen Ruin hin: was ist es, das einem derartigen triebhaften Streben nachgeht, dies Ding oder dieser Zustand, den das Bewußtsein unter dem Namen der Wahrheit am hellichten Tage als sein Ziel aufstellt? Was ist dieser Name der Wahrheit andres als das verkehrte Bild dessen, wovon dieses Streben selber das Bedürfnis war? Und auf diese Weise diesen letzten Trieb, Streben nach Wahrheit genannt, seinerseits umzukehren – dieses Streben des in seiner Gesamtheit ergriffenen Pathos –, das Bild dieses Strebens umzukehren, heißt das zu formulieren, was Nietzsche im folgenden Satz ausspricht: Wahrheit ist die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte. Der Wert für das Leben entscheidet zuletzt . Das im Leben zuletzt aufgetretene Streben – das gefährliche Streben nach Wahrheit, wäre also bloß die Umkehrung des gesamten Pathos unter der Form des Ziels.
Doch hier entdecken wir bei Nietzsche etwas Beunruhigendes: in welcher Absicht stellt er die Frage, inwieweit die Wahrheit ihre Einverleibung in die Lebensbedingungen verträgt , in welchem Sinn sagte er, daß dies triebhafte Streben nach Wahrheit wie die natürlichen Irrtümer lebenserhaltend geworden sei? Hat er die Frage nicht in den Begriffen des bewußten, aber herdenhaften Denkens gestellt, in den Begriffen des Bewußtseins, das sich notwendig ein Ziel setzt, und erfüllen sich nicht die Begriffe von Irrtum und Wahrheit, ihres Gehalts durch die herdenhafte Bedeutung schon beraubt, sogleich mit deren Gehalt?
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