Am Beispiel des Bereichs Lernstörungen sei das Vorgehen der Amerikaner aufgezeigt. Unter Lernstörungen verstehen sie Störungen unterschiedlicher Art, die beim Erwerb des Lesens, Schreiben, Hörverstehens, Sprechens, Argumentierens und Rechnens auftreten können, wie Dyslexie oder Wort-findungsstörungen. Kinder mit Lernstörungen können keine Strategien und Fertigkeiten entwickeln, um erfolgreich zu lernen. Da diese Schüler nach dem Lehrplan der allgemeinen Schulen unterrichtet werden, müssen für sie andere und neue Lehrstrategien entwickelt werden. Es gilt, die Anforderungen des Lehrplans an die Lernvoraussetzungen der Kinder anzupassen.
In den USA laufen Forschungen, um herauszufinden, wie diese Kinder am besten lernen können, ob durch eine vollständige Inklusion oder eine Teilinklusion. Die Teilinklusion sieht eine zeitweise, getrennte Beschulung in Kleingruppen vor. So gibt es für Kinder mit Lernstörungen spezielle Schulprogramme zum Lesen, Schreiben und Rechnen, die in Kleingruppen durchgeführt werden.
Eine geistige Behinderung liegt bei einem IQ von unter 70 vor. In den USA verfolgt man drei wesentliche Handlungsansätze, um diesen Kindern zu helfen:
• Community-Based Instructions: Hier werden Fähigkeiten in realen Situationen trainiert, etwa im Supermarkt oder im öffentlichen Schwimmbad.
• Team Collaboration: Förder-, Pflege- und Therapiemaßnahmen durch die Bezugspersonen sollen in alltäglichen Lebenszusammenhängen durchgeführt werden. Es wird dabei disziplinübergreifend vorgegangen.
• Positive Behavior Support: Um positive Verhaltensänderungen zu erreichen, sollen die Methoden der positiven Verstärkung sowie zwischenmenschliche Unterstützung angewendet werden. 16
Skandinavische Länder am Beispiel von Finnland: Jeder leistet auf seine Weise einen Beitrag für ein gemeinsames Ziel
Schulsystem in Finnland
• einjährige Vorschule
• neunjährige Schulpflicht beginnend mit dem vollendeten 7. Lebensjahr
• weitere Beschulung für drei Jahre in der allgemeinbildenden Sekundarstufe II mit Abschluss Abitur möglich
• die berufsbildende Sekundarstufe II kann mit einer Berufsausbildung oder Lehre absolviert werden
In den skandinavischen Ländern werden mehr als 90 % aller Kinder mit Förderbedarf an Regelschulen unterrichtet. Die Schulen haben dort eine wesentlich höhere Selbständigkeit als in Deutschland. Es können viele Entscheidungen flexibel auf kommunaler Ebene getroffen werden.
Im finnischen Schulsystem gibt es keine für alle verpflichtenden Tests. Es gibt nur freiwillige Tests, die nicht der Leistungsbewertung der Schüler dienen, sondern der Qualitätsbewertung der Schule und der Lehrkräfte. Das Unterstützungssystem an finnischen Schulen ist gut entwickelt. Jedes Kind hat das Recht auf eine Einzelförderung. Bis zu 25 % der Schüler machen im Laufe ihrer Schulzeit davon Gebrauch. Ein sogenanntes »Schülerpflegeteam«, bestehend aus Beratungslehrern, Sonderpädagogen, Sozialpädagogen und Krankenschwestern, setzt diese Einzelförderung um. Dazu legt es anhand eines Förderplans in Absprache mit den Eltern Art und Umfang der Förderstunden fest. Die Förderstunden finden kurzfristig und parallel zum Unterricht statt.
Teamarbeit wird auch zwischen Klassenlehrern und dem übrigen Lehrpersonal groß geschrieben. Es werden Erfahrungen und Beobachtungen ausgetauscht, so dass ein umfassendes Bild zu einem jeden Kind entsteht. Im Team wird auch der Stundenplan flexibel organisiert. Die Gestaltungsfreiheiten orientieren sich dabei an den Bedürfnissen des Kindes.
Im Unterricht überwiegt die Schülerarbeit die Lehreraktivität. Dadurch können die Lehrer ihre Schüler intensiver beobachten. Bei individuellen Fragen haben sie die Möglichkeit, direkt unterstützend einzugreifen.
Für den regelmäßig stattfindenden Projektunterricht werden klassenübergreifende und jahrgangsgemischte Gruppen gebildet. Dadurch sollen die Kinder erleben, dass egal wie unterschiedlich Fähigkeiten auch sind, ein jeder für das Erreichen eines gemeinsamen Ziels einen wichtigen Beitrag leisten kann. Eine weitere Besonderheit im finnischen Schulsystem: Es gibt kein »Sitzen bleiben« und auch kein »Abschieben« in die nächstniedrigere Schulform. So kann sich jedes Kind auf- und angenommen fühlen und ist als gleichberechtigtes Mitglied der Schulgemeinschaft anerkannt. 17
Italien: Musterbeispiel für ein seit Jahrzehnten aufgebautes inklusives Schulsystem
Schulsystem in Italien
• Schulpflicht für alle Kinder vom 6. bis zum 18. Lebensjahr
• gemeinsame Beschulung aller Kinder und Jugendliche bis zum 14. Lebensjahr (8. Klasse)
• nach der 8. Klasse können die Jugendlichen zwischen drei Optionen wählen:
− Besuch eines Gymnasiums (liceo) mit dem Abschluss Abitur
− Besuch einer Fachoberschule mit dem Abschluss einer Fachprüfung nach 3 Jahren oder Abitur nach 5 Jahren
− Besuch einer Landesberufsschule mit dem Abschluss »Berufliche Qualifikation«
In Italien ist Inklusion im Schulsystem schon lange gelebte Realität. Dort wurden die Förderschulen und Sonderklassen bereits vor 30 Jahren abgeschafft. Weder an Kindergärten noch an Grund-, Mittel-, Ober- oder Berufsschulen gibt es Sonder- oder Fördereinrichtungen. Das bedeutet: Jedes Kind mit Behinderung muss in die Regelschule gehen – ob das Kind oder die Eltern das wollen oder nicht, ist egal. Und: Kein Kindergarten und keine Schule darf ein Kind mit Behinderung ablehnen. Vielmehr stehen diese Einrichtungen in der Pflicht, geeignete Bedingungen für Menschen mit Behinderungen zu schaffen.
In den Klassen ist es Alltag, dass Schüler mit ganz unterschiedlichem Förderbedarf zusammensitzen. Einerseits gibt es Hochbegabte, die intellektuell herausgefordert werden wollen, andererseits geistesbehinderte Kinder, für die es ein Erfolg sein kann, einen ganzen Satz am Stück zu sprechen. Die Flexibilität des italienischen Schulsystems ermöglicht es, dass dennoch ein gemeinsames Lernen möglich ist.
Die Regelschulen bieten alternative Unterrichtsziele für Kinder mit Behinderungen an. Sie müssen nicht alle Lehrveranstaltungen mitmachen, die der Rest der Klasse besucht. Stattdessen werden für sie geeignete Alternativen angeboten. Ein Kind, das nicht schreiben kann, beschäftigt sich beispielsweise in der Zeit, in der der Rest der Klasse schriftliche Abfassungen zustande bringen soll, mit mehr spielerischen und künstlerischen Ansätzen. Festgesetzt werden diese speziellen Lernziele in sogenannten individuellen Entwicklungsplänen (IEP). Voraussetzung dafür, dass ein Kind das Anrecht auf einen individuellen Entwicklungsplan und damit verbunden auf veränderte Lernziele hat, ist die Feststellung der Behinderung. Laut Gesetz obliegt dies den verantwortlichen Institutionen, also den Fachkräften vom Gesundheitsamt. Anstelle eines Zeugnisses mit Noten kann es am Schuljahresende für ein Kind mit Behinderung eine Bescheinigung darüber geben, was es alles kann und gelernt hat.
Die Schulen betreiben einen großen Aufwand, Inklusion zu leben, und lassen sich das viel Geld kosten. Wenn jede Schule auf alle mögliche Arten von Behinderungen eingestellt sein muss, muss dafür eine entsprechende Infrastruktur vorhanden sein. Bauliche Maßnahmen sind erforderlich, um etwa die Schule barrierefrei für Rollstuhlfahrer zu gestalten. Für Kinder mit Autismus könnten Ruheräume notwendig sein. Therapeutische Hilfsmittel, Integrationshelfer, ein Bring- und Abholdienst für die Kinder und besondere Schulungen und Fortbildungen für die Lehrer sind weiterhin vonnöten und werden in Italien auch an vielen Schulen konsequent zur Verfügung gestellt.
Das gemeinsame Lernen führt oft zwangsläufig dazu, dass die speziell auf die Behinderung abgestimmten Förderungen eines Kindes leiden. Eine sonderpädagogische Rundumbetreuung ist nicht vorgesehen. Die Lehrkräfte an den Regelschulen sind auch keine auf eine Behinderungsform spezialisierten Sonderschullehrer. An den integrativen Schulen in Italien unterrichten vielmehr Fachlehrer, die ein kurzes Aufbaustudium absolviert haben, in dem alle möglichen Behinderungen angesprochen werden. Die Kenntnisse über diese ganzen Behinderungen können dabei nicht sehr tief reichen, was bedeutet, dass sich die Pädagogen auf jedes neue Kind und dessen Behinderung nicht nur neu einstellen, sondern auch fachlich entsprechend fortbilden müssen. Unterstützt werden sie dabei von Beratungsstellen, Therapeuten und Integrationshelfern.
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