Noch sind viele der Forderungen der UN-Konvention in der Mitte der Gesellschaft nicht angekommen. In wie weit sie sich überhaupt für alle Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen realisieren lassen, werden die nächsten Jahre zeigen müssen.
1.4.4 Inklusion im Ausland
Deutschland hat bezüglich der Inklusion von behinderten Menschen noch Handlungsbedarf. Ein Beispiel ist die Beschulung von Kindern mit Behinderungen. Seit Frühjahr 2009 hat in Deutschland jedes Kind ungeachtet einer Behinderung, Verhaltensauffälligkeit oder chronischen Krankheit das Recht darauf, am Regelunterricht mit nicht-behinderten Kindern teilzunehmen. Soweit die Theorie. Die Praxis sieht so aus, dass etwa die Hälfte der Kinder mit einer Behinderung noch eine Sonder- oder Förderschule besuchen. So hatten im Schuljahr 2019/2020 an allgemeinbildenden Schulen mehr als 568 000 Kinder einen sonderpädagogischen Förderbedarf. Über 50 % dieser Schülerinnen und Schüler wurde auf speziellen Förderschulen unterrichtet, die übrigen besuchten integrative Schulen. 13 Zu beachten sind große Unterschiede in den einzelnen Bundesländern.
International sind einige Länder weiter als Deutschland. Doch was machen unsere europäischen Nachbarn und außereuropäischen Partner anders und besser? Wo können wir von ihnen lernen? Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wie andere Länder die Herausforderung Inklusion angenommen und welche Lösungen sie gefunden haben, um eine gemeinsame Beschulung zu ermöglichen.
Großbritannien: »Eine Schule für alle«
Schulsystem in Großbritannien
• Unterschiede im Schulsystem von England, Wales, Nordirland und Schottland
• Vorschulzeit: Betreuung zu Hause, Krabbelgruppen (Toddler Group), Kindergarten (Playgroup) oder Vorschule (Nursery School)
• Schulpflicht vom 5. bis zum 16. Lebensjahr
• Primary School: 5. bis 11. Lebensjahr; oft unterteilt in zwei Jahre Infant School und vier Jahre Junior School
• Secondary School bis zum 18. Lebensjahr (entspricht in etwa unseren Mittelschulen bzw. Gymnasien)
• das Schuljahr ist in drei Schulphasen (three terms) unterteilt
• pro Jahr zwölf bis 13 Wochen Ferien
Integration/Inklusion ist in Großbritannien schon lange Thema. 1928 gab es erste Initiativen, Regel- und Sonderschulen zusammenzulegen. Die Idee von Spezialklassen an der Regelschule für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf lebte in den Nachkriegsjahren wieder auf. Das Bildungsgesetz von 1976 forderte verstärkte Bemühungen zur Integration und ein verbessertes Angebot für Kinder mit besonderem Förderbedarf in Regelschulen. 1981 wurde vereinbart, dass die Regelschule für Kinder mit besonderem Förderbedarf (Special Educational Needs, SEN) der normale Bildungsort sein solle. Für diese Kinder sollen besondere Bildungsmaßnahmen (Special Educational Provision, SEP) ausgearbeitet und umgesetzt werden.
Heute soll in Großbritannien eine Pädagogik der Vielfalt gelebt werden, in der die Verschiedenheit der Menschen nicht nur geachtet, sondern auch als gewinnbringend wertgeschätzt wird. Sogenannte Lernunterstützungslehrer (Learning Support Teacher) sollen Kindern mit Behinderungen helfen, ihre Lernvorhaben an der Regelschule umzusetzen. Mit Lernunterstützung sind dabei alle Maßnahmen gemeint, die dazu beitragen, den Bedürfnissen dieser Schüler Rechnung zu tragen. Zu den unterstützenden Maßnahmen gehören zum Beispiel Veränderungen der Lernmaterialien und individuelle Hilfen, die mit den Betroffenen ausgehandelt werden. Ziel ist es, allen Kindern eine aktive Teilnahme zu ermöglichen, unabhängig von ihren Unterschiedlichkeiten.
Hinweise zur Umsetzung gibt es im »Index für Inklusion«, der 2011 überarbeitet wurde und nun in der dritten Ausgabe vorliegt. 14 Deutsche Übersetzungen liegen vor und können auch für das hiesige Bildungssystem einschließlich der Kindertagesstätten Denkanreize geben.
Japan: Individuelle Unterstützung vs. Gleichbehandlung
Schulsystem in Japan
• vor der Schule: ab zwei Monate Kinderkrippe, Kindergarten im Alter von drei bis fünf Jahren
• Schulpflicht von neun Jahren
• sechs Jahre Grundschule
• drei Jahre Mittelschule
• 98 % der Schüler besuchen nach der Mittelschule freiwillig eine der weiterführende Schulen
− nach einer Aufnahmeprüfung drei Jahre Oberschule, Abschluss ist mit unserem Abitur vergleichbar
− Fachoberschulen mit einer Ausbildungsdauer von fünf Jahren
• während der Schulpflicht kein Sitzenbleiben, jeder Schüler wird automatisch versetzt
Japan hat ein hochentwickeltes Schulsystem. Chancengleichheit und Gleichbehandlung werden in Japan groß geschrieben. 98,2 % aller schulpflichtigen Kinder sind in Regelklassen eingeschult.
Im japanischen Sonderschulwesen gab es bis 2007 drei Schienen: Schulen für Sehgeschädigte, Schulen für Hörgeschädigte sowie Schulen für anders Behinderte, die auch Körperbehinderte, intellektuell Behinderte, sowie Kinder, die einer medizinischen Betreuung bedürfen, aufnahmen. Schulen für Lernbehinderte oder für Kinder mit Störungen im emotionalen Bereich waren nicht vorgesehen. Kinder mit Entwicklungsstörungen wie Lernstörungen, ADHS oder Störungen aus dem autistischen Spektrum wurden ohne weitere Unterstützung in wohnortnahe Regelklassen gegeben. Ein gesetzliches Anrecht auf Unterstützung gab es nicht.
Das hat sich 2007 geändert. Jetzt werden diese Kinder in speziellen Unterstützungsschulen, Unterstützungsklassen oder im schulinternen Tsukyu-Unterricht (Stütz- und Förderunterricht) gefördert. Die notwendigen Kenntnisse in Unterstützungspädagogik erhalten die Lehrer in Aus- und Weiterbildungen. Auch die Lehrziele für Kinder mit Behinderung wurden angepasst. Das Ziel besteht nicht mehr darin, die Schüler nur zu pflegen und zu trainieren, sondern darin, sie zu befähigen, ein selbständiges Leben zu führen.
Die Bemühungen um individuelle Unterstützung zeigen noch nicht überall Erfolge. In Japan gilt nach wie vor, dass der Gedanke der Gleichbehandlung vor das Prinzip der Individualisierung gestellt wird. Das widerspricht einem auf die Bedürfnisse des Einzelnen abgestimmten Vorgehen. Neue Unterrichtsmethoden zielen auf eine Differenzierung von gleichen Themen ab. Differenziert wird dabei nach Unterthemen, Schwierigkeitsgraden, Anforderungsgraden und Unterstützungsgraden.
Das japanische Schulwesen hat den Weg eingeschlagen, eine Schule für alle Kinder anzubieten. Die Herausforderung bleibt, jedes Kind seinen Bedürfnissen gemäß zu fördern. 15
USA: Lehrpläne an die Lernvoraussetzungen der Kinder anpassen
Schulsystem in den USA
• Einteilung in die drei Bereiche: Elementary (Primary) Schools, Secondary Education und Postsecondary Education
• Schulpflicht ist Sache der einzelnen Bundesstaaten
• uneinheitliche Dauer der Schulpflicht
• Unschooling (vom Kind geleitetes Lernen) oder Homeschooling (Hausunterricht) als Ersatz für den Schulbesuch
• Elementary Schools umfassen die Klassenstufen vom Kindergarten bis zur vierten, fünften oder sechsten Klasse und manchmal bis zur achten Klasse
• Junior High School als Bindeglied zwischen Elementary School und High School
• High School als Einheitsschule für die sekundäre Ausbildung der Klassenstufen 9 bis 12
1975 wurde erstmals ein Recht auf Bildung für alle Kinder mit Behinderung gesetzlich vorgeschrieben. Eine separate Beschulung soll nur dann stattfinden, wenn der gemeinsame Unterricht in der Regelschule durch Art oder Schweregrad der Behinderung trotz zusätzlicher Hilfen nicht erfolgreich durchgeführt werden kann.
Im Schuljahr 2004/2005 besuchten etwa 96 % der Schüler mit Behinderungen zwischen sechs und 21 Jahren eine Regelschule. Die Mehrheit dieser jungen Menschen, vor allem diejenigen mit spezifischen Lernstörungen oder geistiger Behinderung, verbrachten 80 % oder mehr ihres Schultages gemeinsam im Klassenzimmer mit den anderen Schülern. Die übrige Zeit wurden sie speziell gefördert.
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