Als der kleine William geboren wurde, entspannte sich die Situation, weil die Mutter so stark mit dem Säugling beschäftigt war, dass sie die Großen mehr sich selbst überlassen musste. Dann kamen die Älteren in die Pubertät, und es ging erneut los mit Krächen und Szenen. Godwin tat das einzig Richtige: Er schickte seine Mary nach Schottland, wo die Tochter das Klima genoss, ihre Studien trieb und Freundschaften pflegte. Auch Mrs Godwin ging es jetzt besser, denn ihre ärgste Rivalin um das Herz ihres Mannes war aus dem Haus. Doch Jane und Fanny entdeckten, wie gern sie Mary im Grunde hatten und wie vertraut sie mit ihr waren, und vermissten sie sehr. Sie schrieben ihr Briefe, gewöhnten sich dann aber doch an ihre Abwesenheit. Wer am meisten unter der Trennung litt, war Vater Godwin. Er stellte fest, dass er geradezu abhängig davon war, sein schönes und gelehriges Kind täglich zu sehen. Nun war sie fort. Ein Gelehrter wie Godwin wusste, wie er sich über Kummer und innere Leere hinweghelfen konnte: Er schloss sich in sein Studierzimmer ein und las die großen Werke. Gerne auch, zum wiederholten Male, die eigenen.
Jetzt, im Juni des Jahres 1814, war Mary zu Hause, und sie fand vieles verändert. Fanny war noch stiller geworden, sie schien ganz in ihren Träumen zu leben und ging ihr und Jane meist aus dem Weg. Jane war aufgeblüht, wie es Mary schien. Hübsch war sie geworden und nicht mehr so leicht beleidigt. Sie lachte viel, meist ohne Grund, als wolle sie einfach nur ihre schöne Stimme erklingen lassen. An Mary schloss sie sich eng an und erzählte, wer ihr beim Bäcker schon zum zweiten Mal ein Kompliment gemacht hatte, zuweilen musste Mary sie regelrecht abschütteln. Der Vater war zwar seiner Geldsorgen wegen dauernd verstimmt, aber wenn Mary zu ihm kam, etwa, um ihm anzubieten, aus der Zeitung vorzulesen oder einen Spaziergang zu machen, hellte sich seine Miene auf, er schloss sie in die Arme, und das machte sie glücklich. Charles war nicht mehr zu Hause, er hatte eine kaufmännische Lehre begonnen und kam nur ab und an zu Besuch. William war ein frecher Mops, bald zwölf Jahre alt und ziemlich laut, aber Mary mochte ihn, er glich dem Vater.
Und dann waren da die namhaften Gäste, die ein- und ausgingen. Allen voran Mr Shelley – der jetzt nur noch ohne seine Ehefrau erschien. Mary saß inzwischen ganz zwanglos nach dem Essen in der Runde mit dabei, sie mischte sich in die Diskussionen ein, vorsichtig noch und eher mit Fragen, aber sie hatte das Gefühl, dazuzugehören, schon deshalb, weil sie Schriftstellerin werden wollte und weil sie von Shelley und ihrem Vater wusste, dass sie das Talent dafür besaß. Sie hatte Percy ein Gedicht gezeigt und er hatte es laut gelesen, mit aparter Intonation, so wie nur er es konnte, mit seiner singenden Stimme. Sie sagte ihm, sie hätte nicht gewusst, wie schön das Gedicht sei, bis er es ihr vorgelesen hätte.
Als Mary das nächste Mal auf den Friedhof kam, es war der 26. Juni, allein und ohne verabredet zu sein, nur mit ihren Büchern und dem Notizheft im Beutel, war Shelley schon da. Er saß ein Stück von Wollstonecrafts Grab entfernt, unter einem Weidenbaum und aß einen Apfel. Wie er sie kommen sah, warf er den Rest des Apfels über die Gräber hinweg und streckte seine Hand nach ihr aus. Sie trat neben ihn, ließ ihren Beutel ins Gras fallen und gab ihm die Hand. Er zog sie zu sich runter, und sie küsste ihn auf den Mund, küsste immer weiter, weil er es auch tat und streckte sich über ihm aus, während sie mit ihren Händen über seine Schultern und Arme fuhr und in seine Haare hinein. Der Weidenbaum beschirmte diese Liebesszene. Und so lautet Shelleys poetische Erinnerung an seine erste Liebesnacht mit Mary:
Wir werden unsre eignen Riten haben ,
Um unseren Bund zu feiern
Denn unsre Kirche ist die Sternennacht
Und unser Hochaltar die Erde, grasbewachsen
und unser Priester der flüsternde Wind .
Shelley sagte später, der 26. Juni sei sein eigentlicher Geburtstag gewesen .
II »Zu glücklich, um zu schlafen«
Auf der Flucht
Als Mary am nächsten Morgen nach kurzem Schlaf erwachte, wusste sie, dass ihr Leben neu begonnen hatte. Alles, was sie bisher gewollt, versucht und sich ausgemalt hatte, im Schreiben und im Leben, war nur eine Vorstufe gewesen für das, was jetzt kommen sollte: ihr Leben mit Shelley. Sie war sich sicher und sie war ruhig, sie stand am Anfang und sah voraus, dass sie mit dem Geliebten vom Baum der Erkenntnis essen würde und dass das richtig sei und wunderbar. Sie dachte an die Worte, die in der letzten Nacht, draußen unterm Baum, gefallen waren, und dass sie selbst die Erste gewesen war, die von Liebe gesprochen hatte. Sie dachte an die Umarmungen, die auf ihre Weise von Liebe gesprochen hatten, sie verspürte einen Stich unterm Brustbein, weil Shelley jetzt nicht bei ihr war. Doch in das Glücksgefühl, das die Erinnerung an die letzte Nacht hervorrief, mischte sich Furcht. Sie und Shelley mussten ihren Weg freiräumen. Doch wie sollte das gehen? Beide wollten sich nicht mit der Sehnsucht nach der großen Liebe begnügen, um dann doch einen Kompromiss zu schließen, sie wollten die Ausgeburten ihrer Träume in die Wirklichkeit führen und waren entschlossen, dabei auf die Gefühle Dritter im Zweifelsfall keine Rücksicht zu nehmen. Mary sah sich dazu berechtigt, weil sie wusste, dass der Bund, den sie mit Percy in der vergangenen Nacht geschlossen hatte, ein Geschenk des Schicksals war, kostbar und einzigartig, was ihr nicht nur erlaubte, sondern von ihr forderte, ihn um jeden Preis zu verteidigen. Aber was würde der Vater sagen? Sein Bild stand lebensvoll neben dem des Geliebten. Ihr graute davor, den Papa zu verletzen, aber wenn es sein musste, würde sie es tun. Die Stiefmutter war ihr egal. Fanny war verreist, sie würde von allem erst später erfahren. Und Isabel? Ihre Freundin, die, wie sie gehört hatte, bald heiraten würde? Ich werde ihr schreiben, dachte Mary, sie wird uns verstehen. Doch wer wird uns helfen? Jane kam ihr in den Sinn, die Stiefschwester würde zu ihr halten. Flüchtig dachte sie an Harriet, es schien ihr aber, dass diese Frau und Shelley schon geschiedene Leute seien und es keineswegs ihre Sache sein könne, die unglückselige Verbindung zu verteidigen. Auch wusste sie, dass er zu seiner Frau gehen und ihr die Wahrheit über seine neue Liebe sagen wollte.
Shelley war jetzt ganz Mann der Tat. Am Tage nach seiner und Marys erster Liebesnacht im Angesicht des Mondes, der Sterne und der Feenkönigin (Queen Mab) trat er vor William Godwin hin und bekannte geradeheraus, dass er Mary liebe und sie ihn und dass er mit ihr fortgehen wolle. So lustvoll er als Dichter den Sinn und die Botschaft zwischen den Zeilen versteckte, so wichtig war ihm im Leben die klare Ansage. Mit Godwins Fassungslosigkeit, gefolgt von schierer Wut, hatte er nicht gerechnet. War nicht dieser Mann, den er Vater nennen wollte, der beredte Befürworter der wahren Liebe gewesen, weit entfernt davon, papiernen Verträgen im Reich der Sinne und der Leidenschaft irgendeinen Wert beizumessen? Und jetzt das! Godwin bezichtigte ihn des Verrats und der schändlichen Verführung und brach schließlich unterm Portrait der in Liebesdingen so radikal freiheitlich gesonnenen Mary Wollstonecraft auf seinem Schreibtischstuhl zusammen. Shelley hob entsetzt die Hände.
»Es ist beschlossen«, rief er mit seiner nervösen, hohen Stimme, »Mary und ich gehören zusammen, wir werden bald von hier aufbrechen und unser gemeinsames Leben beginnen. Es gibt nichts, was uns aufhalten könnte.«
Percy Bysshe Shelley (1792–1822), Zeichnung von Amelia Curran, 1819
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