Aber da war der Vater, der ihr Hausaufgaben in Latein und englischer Literatur gab, und da war Percy, der nichts lieber zu tun schien, als mit ihr gemeinsam Texte zu lesen und zu erörtern und der, wenn auf dem Friedhof niemand mehr zu sehen war, ihre Hand ergriff. Mary hielt ihr Herz fest, denn, was immer Shelley ihr erzählte, er war verheiratet und hatte ein Kind und wohl bald noch ein zweites – sie konnte, sie durfte sich ihrem Gefühl der Sehnsucht nach Nähe zu ihm, zu ihrem »Elfen«, wie sie ihn für sich selbst nannte, nicht hingeben. Aber es war inzwischen längst so weit, dass sie sich ein Leben ohne diese Besuche, diese Gespräche, dieses Beisammensein nicht mehr vorstellen mochte. Mit Befremden sah sie, dass es Fanny und Jane ähnlich erging. Auch sie stellten ihre innere Uhr nach der Stunde des möglichen Erscheinens von Percy Bysshe Shelley. Und wenn er kam, scherzte er mit Fanny oder ging mit Jane aus dem Haus, um Pilze zu sammeln oder Bier zu holen, oder er lockte Willy in den Garten, um mit ihm pyrotechnische Experimente zu machen. Mary zweifelte manchmal daran, dass wirklich sie es war, der seine intensivste Aufmerksamkeit galt. Aber wenn sie ihm beim Abschied Ort und Zeit eines möglichen Treffens zuflüsterte, etwa morgen Nachmittag im Studierzimmer, während Mrs Godwin mit Fanny auf dem Wochenmarkt einkaufte, dann war sein Blick so leuchtend und voller Andacht, dass sie ihre Zweifel vergaß.
Das Studierzimmer der Mädchen lag im Obergeschoss; Shelley sprang die Stufen hinauf, klopfte an und trat ein. Er blieb stehen, um sich an dem Anblick zu freuen: Mary stand am Bücherbord und schob die lateinische Grammatik hinein.
»Milton«, rief Shelley, »lass alle anderen Bücher liegen und lies immer nur Milton!«
Mary suchte kurz und zog Das verlorene Paradies aus dem Regal. Sie zeigte Shelley ihre Anstreichungen und deklamierte: »Lieber in der Hölle herrschen, als im Himmel dienen.«
»Was für eine Wucht hat dieses Gedicht!«, rief Shelley. »Wenn man es gelesen und wieder gelesen hat, begreift man das Gebot der Stunde: Widerrede leisten, in Zweifel ziehen, zum Aufstand blasen! Mein allerschönstes Mädchen, wie glücklich bin ich, dass du das verstehst. Satan hat den Schöpfergott herausgefordert, er ist der gefallene Engel und der wahre Engel. Er ist unser aller Vorfahr.«
Mary Wollstonecraft (1759–1797), Schriftstellerin, Philosophin und Frauenrechtlerin. Gemälde von John Opie, 1797
»Und Milton war Republikaner, Percy. Er ist ein Vorfahr, der noch gar nicht so lange tot ist. Nur ein gutes Jahrhundert liegt zwischen ihm und uns.«
»Wollen wir zusammen Milton lesen?«, Percy trat vor sie hin und strich über ihren Kragen. »Du trägst dich schlicht«, sagte er, »das gefällt mir.«
»Wirklich? Das rote Kleid, in dem Harriet sich hier eingeführt hat, ist heute noch Gesprächsstoff zwischen Fanny und Jane.«
»Harriet glaubt, weil sie mit einem Edelmann verheiratet ist, braucht sie eine erlesene Garderobe. So ein Blödsinn. Hat Eliza ihr eingeredet. Ich verachte die Prätentionen meiner Klasse. Weißt du, womit die Aristokratie ihre Zeit verbringt? Mit der Jagd und dem Kartenspiel.« Er stöhnte auf. »Einige wenige verwalten ihre Güter selbst oder machen Politik oder streben nach militärischen Ehren. Aber die meisten sind Parasiten vor Gott und der Natur. Jagd und Kartenspiel. Es ist zum Verzweifeln.«
»Weißt du, womit die Angehörigen meines Geschlechts ihre Zeit vertun? Mit Putz und Klatsch. Ist das besser? Und man könnte es so leicht ändern. Durch Bildungspläne für Töchter, durch Teilhabe der Frauen an euren Parlamenten, euren Vereinen, euren Akademien … Schlag nach bei Mary Wollstonecraft, da steht schon alles drin.«
Percy hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und drückte plötzlich seine Hand gegen das Brustbein. »Ich habe Schmerzen. Hier drin«, sagte er, »mein Arzt weiß nicht recht, was es ist. Am Ende die Schwindsucht?« Er lachte und hustete zugleich.
Mary trat neben ihn und fragte:
»Wie lange hast du das schon?«
»Jahrelang«, gab er zur Antwort. »Ich bin ein Invalide.«
»Ich sah dich rennen wie ein Reh. Du kannst kein Invalide sein.«
»Und doch sticht es hier drinnen und sticht. Das muss eine Ursache haben.« Und er fing wieder an, wie verrückt zu lachen.
»Wir machen doch hier keine Scherze«, verwies Mary ihn irritiert.
»Mädchen«, sagte er, »ich war noch nie so ernst. Sag mir die Wahrheit. Was ist mit diesem Baxter-Jungen, der aus Schottland angereist ist? Jane sagt, er sei deinetwegen hier. Ist da was dran? Will er dich entführen?«
»Robert?« Mary lachte. »Selbst wenn er es wollte – ich würde niemals mit ihm gehen.«
Mary war vier Jahre alt, als ihr Vater zum zweiten Mal heiratete, als sie mit Jane und Charly erwünschte Spielgefährten bekam und mit der neuen Mrs Godwin eine strenge Stiefmutter. Die wusste wenig von den rousseauistischen Erziehungsprinzipien ihres Gatten und der verstorbenen Mary Wollstonecraft und fand, man müsse von Kindern vor allem Gehorsam und Disziplin fordern. So klein Mary auch war, erlebte sie doch die neue Hausherrin und deren Regiment als Bruch in ihrem Leben, zumal die zärtliche Kinderfrau, die sie bis dahin betreut hatte, entlassen wurde. Ihr Vater ahnte, was in seiner Tochter vor sich ging, aber er war froh, nach mehreren Fehlschlägen auf dem Heiratsmarkt nun doch noch eine Frau gefunden zu haben, die sich der Kinderschar resolut annahm und die ihm überdies gefiel. Mary Jane Clairmont war eine imposante Erscheinung und ein starker Charakter. Aber sie war eben auch ein Mensch, der darunter leidet, wenn er herabgesetzt wird. Gegen den übermächtigen Geist der verstorbenen Mary Wollstonecraft kam sie nicht an. Doch war sie klug genug, ihren geheimen Groll vor ihrem Ehemann zu verbergen. Das Töchterchen Mary jedoch, das sich für etwas Besseres hielt und auf Jane und Charly und selbst auf Fanny glaubte herabsehen zu können, das zankte sie mit Vorliebe aus, wenn es wieder nicht zeitig genug ins Bett gegangen war. In solchen Momenten ließ sie einiges von ihrer Unzufriedenheit mit dem Leben an Godwins Seite in harten Worten und auch mal durch die erhobene Hand zum Vorschein kommen. Und Mary konnte wenig mehr tun, als sich wegducken. Das hatte sie früher nicht nötig gehabt. Das trug sie dem Vater vor, doch als sie sah, wie unglücklich er sie anblickte, fast so, als wolle er sie hypnotisieren, hielt sie fortan lieber den Mund und bemühte sich, es der neuen Mutter recht zu machen. Aber tief in ihrem Herzen blieb sie die stolze Tochter einer nie gekannten, wundervollen, weithin berühmten Mutter und damit etwas ganz Besonderes. Der Einzige, der darum wusste und das auch so sah, war ihr Vater. Und wenn sie an dessen Tür klopfte, ließ er sie ein, holte ein Buch hervor und gab es ihr zu lesen; anschließend musste sie das Gelesene in eigenen Worten reproduzieren. Oder er gab ihr Stifte, damit sie zeichnete. Und er sagte nie so obenhin: »Das hast du aber fein gemacht«, sondern meinte, sie könne das noch besser, und stellte ihr Aufgaben für den folgenden Tag. Er unterrichtete auch Fanny und Jane; aber in Mary fand er einen Geist von wahrer Neugierde und frühreifem Verständnis, und so dauerte der Unterricht, den er ihr erteilte, mehr als doppelt so lange wie die knappen Stunden, die er für die beiden anderen übrig hatte. Mary blieb das alles nicht verborgen, und sie trug den Kopf hoch, die Konkurrenz zwischen den Halb- und Stiefgeschwistern war groß. Doch sie hielten auch zusammen – gegen die kontrollierende Mutter und den fordernden Vater.
Читать дальше