Die Zeit steht im Ruf, unerbittlich und gnadenlos zu sein, weil sie stets nur unaufhaltsam verrinnt und lediglich im Ereignishorizont eines Schwarzen Loches eine Weile angehalten werden kann. Die Zeit mag auf ihre Art aber auch gerecht sein, denn ein Menschenleben, die Lebensspanne einer Art, die Dauer eines Zeitalters, die Tage einer Sonne, ja sogar die Stabilität einer schwarzen Singularität und selbst die Existenz eines ganzen Universums mögen begrenzt sein und irgendwann ein Ende finden. Schlichtweg scheint ein jegliches seine Zeit zu haben. Aber kann die zeitliche Endlichkeit des Seins schlechthin den Menschen wirklich Trost spenden?
Wer weiß? Doch die Legende von der untergegangenen Schönheit des irdischen Lebens scheint auch irgendwann und irgendwo einen evolutionären Neubeginn zu verheißen. Vielleicht ist es ein Trost und Wunder zugleich, davon träumen zu dürfen!
Legende vom irdischen Leben
Einst leuchtete ein Archipel in Raum und Zeit,
den Legenden Milchstraße genannt hatten.
Die Galaxie war eine der schönsten weit und breit.
Ihr Glanz überstrahlte am Himmel die Schatten.
Die Spirale formte einen Balken von hoher Symmetrie,
im Halo tummelten sich Kugel-Haufen uralter Sterne,
die Magellanschen Wolken umkreisten die Galaxie,
der Andromeda-Nebel schimmerte matt in der Ferne.
Es glühte im Orion-Arm der Milchstraßenwelt
eine Sonne, von acht großen Planeten umgeben,
der dritte war für ein Wunder auserwählt,
denn dort entstand eines Tages das Leben.
Die Begegnung von Erde und Theia schuf den Mond,
die Elemente waren wie entfesselt auf Erden.
Die Erde wurde mit der Entstehung des Lebens belohnt,
die Evolution hegte und pflegte dessen Werden.
Die Architektin des Lebens ging einen mühsamen Weg,
Erfolge und Irrtümer säumten ihn in allen Zeiten.
Fossilien sind für die Suche nach Perfektion ein Beleg,
nur Veränderung vermag dem Leben eine Zukunft bereiten.
Gewaltige Katastrophen suchten die Erde heim.
Sie drohten das Wunder des Lebens zu vernichten,
doch die Evolution sollte nicht zu besiegen sein
und noch vollkommener ihre Werke verrichten
Die Evolution erschuf eine Wunderwelt voller Leben
und schließlich sogar eine Art mit Vernunft und Verstand.
Die Erde konnte dem Leben lange eine Heimstatt geben,
bis es in der Nova der roten Sonne verschwand.
Doch vielleicht wurden zuvor von Sonnenwinden
Spuren des irdischen Lebens in die Galaxie verweht.
Dort mögen sie vom Wunder des Lebens künden,
das irgendwann im Strom der Zeit vergeht.
2. Brief vom 24. August 2019
Anlage
Himmel und Erde und die Verbindung dazwischen Überlegungen zu einer kosmologischen Theologie
Leipzig, 24. August 2019,
zu öffnen am 1. Mai 2036
Hallo, mein Enkeljunge,
heute drängt es mich, dir ein paar Gedanken mitzuteilen, für die mir das Leben in gemeinsamen Gesprächen vielleicht nicht mehr ausreichend Zeit einräumen könnte. Freilich vermag ich nicht zu sagen, ob du in knapp 17 Jahren meine Beweggründe verstehen kannst oder meine Gedanken als Spinnereien eines wunderlichen alten Mannes abtun wirst. Na ja, ich wage es trotzdem, selbst wenn du aus der Zukunft auf mich und meine Vorstellungen mitleidig herablächeln solltest.
Das Traktat, das ich dir heute ans Herz legen möchte, beschäftigt sich mit dem Gott-Glauben und der Religion sowie einigen Aspekten zu deren geschichtlicher Deutung. Darüber hinaus habe ich mir erlaubt, einige (nicht ganz ernst gemeinte) Überlegungen zu einer kosmologischen Theologie anzustellen. Versteh’ mich bitte nicht falsch, ich möchte meine Überlegungen ausdrücklich nicht als glaubensfeindlich verstanden wissen. Das würde meinem Verständnis von Toleranz zuwiderlaufen. Als glaubenskritisch würde ich sie dagegen schon bezeichnen. Immerhin stelle ich mit meinen Betrachtungen zu Gott und zur Religion einen wie auch immer gearteten Glauben an ein übernatürliches Wesen zur Diskussion und letztendlich auch infrage. Und das völlig zu Recht, wie ich meine!
Das Argumentations-Papier „Himmel und Erde und die Verbindung dazwischen“ ist im Grunde genommen als eine Satire zu betrachten. Es versucht, naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit religiösen Positionen in Übereinstimmung zu bringen. Das kann natürlich nicht wirklich gelingen, denn Vernunft und Glaube sind wie Feuer und Wasser, zwischen denen es keine Kongruenz geben kann. Dennoch habe ich die Mühe auf mich genommen, bestimmte religiöse Positionen und Vorstellungen mit astrophysikalischen Erkenntnissen und kosmologischen Fragestellungen abzugleichen. Dabei habe ich die Suche nach vermeintlichen Übereinstimmungen mit theologischen Deutungen sogar interessant und vergnüglich gefunden. Um den Witz und den spirituellen Schalk der Angelegenheit nachvollziehen zu können, bedarf es aber eines bestimmten naturwissenschaftlichen Wissens. Wem nicht bekannt ist, dass sich das Standarduniversum aufgrund der (nicht verstandenen) wachsenden Stärke der dunklen Energie ausdehnt und dieser Prozess vielleicht nur durch den gravitativen Einfluss von dunkler Materie aufgehalten werden kann, wird die Ironie in Kapitel 4 nicht verstehen können. Matti, ich hoffe, dass du mit zwanzig Jahren in der Lage sein wirst, diese und andere Pointen meines hier und da durchaus provokanten, aber auch schelmischen Traktates nachzuempfinden.
Zur Religion möchte ich vorab anmerken, dass sie eine sehr einfache Sicht auf die komplexen Lebensverhältnisse der Menschen darstellt. Sie nutzt vor allem die Sehnsüchte der Leute nach einem sie weise lenkenden übernatürlichen Wesen aus. Diese göttliche Entität soll ihnen sagen, was zu tun oder zu lassen ist. Wenn man sich mit Gott-Glaube und Religion beschäftigt, sollte man sich bewusst sein, dass diese Vorstellungen aus den Kindertagen der menschlichen Zivilisationen stammen. Damals hatten die Menschen die Wirklichkeit von Raum und Zeit und die Struktur des Standarduniversums mit seinen Myriaden von Sternenwelten, Milliarden Galaxien und zahlreichen schwarzen Singularitäten noch nicht erkannt. Sie glaubten tatsächlich, dass Naturgewalten wie Erdbeben, Stürme und Gewitter mit Blitz und Donner Ausdrücke eines göttlichen Zorns waren. Den Himmel ihres Herrn haben sie sich dabei ganz gegenständlich direkt über ihnen in den Wolken oder darüber vorgestellt.
Das Traktat von der kosmologischen Theologie soll dir deutlich machen, dass religiöse Gedankengebäude einer umfassenden naturwissenschaftlichen Betrachtung und Beurteilung nicht standhalten können. Die wissenschaftlichen Befunde, Erkenntnisse und Einsichten, die religiöse Überzeugungen infrage stellen, sind erdrückend. Daher kann ein göttliches Wesen in den Weiten des Standarduniversums keinen Platz haben. Der berühmte französische Mathematiker und Physiker Pierre Simon de Laplace hat diesen Sachverhalt erstaunlicherweise schon vor über 200 Jahren erkannt. Auf eine entsprechende Anfrage Napoleons soll er nämlich geantwortet haben, dass die Annahme eines Gottes eine ganz und gar überflüssige Hypothese sei.
Freilich halten viele Menschen auch zu Beginn des dritten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung nach wie vor am Glauben an einen wie auch immer gearteten Gott fest. Davon solltest du dich aber nicht irritieren oder beeindrucken lassen. Religion scheint im gesellschaftlichen Leben der Menschheit im Großen und Ganzen dennoch eine Angelegenheit von gestern zu sein. Dass es heute (immer noch) ein lebendiges kirchliches Leben gibt, ist das Resultat von jahrhundertelangen gesellschaftlichen Entwicklungen, historischen Traditionen und soziokulturellen Gepflogenheiten. Sie wirken in Verbindung mit Defiziten im naturwissenschaftlichen Denken vieler Menschen mehr oder weniger nachhaltig fort. Der Zenit der soziokulturellen Wirksamkeit dieser Vorstellungen und Überzeugungen ist jedoch seit Langem überschritten. Religion und Theologie befinden sich zunehmend in einer intellektuellen und gesellschaftlichen Defensive. Kirchliche Dogmen und religiöse Glaubensvorsätze haben jahrhundertelang von der Unwissenheit ihrer Anhänger profitiert. In einem zunehmend von der Wissenschaft und rationalem Denken geprägten Zeitalter werden sie eines (zwar wohl noch fernen) Tages nur noch ein gesellschaftliches Nischendasein fristen können!
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