Langsam steigt Nervosität auf, meine Blicke schweifen weiter umher. Immer wieder schiele ich verstohlen zum Fahrstuhl hinüber, der fast vollständig aus Glas besteht. Die Herrschaften lassen sich Zeit. Es ist schon zwanzig nach zehn, bemerke ich ungeduldig.
Um mich abzulenken, blättere ich in der internen Firmenzeitschrift, die auf dem Glastisch vor mir liegt. Hoffentlich kommen nicht so viele Fragen zu den Produkten. Varlo ist ein Zulieferer von irgendwelchen Mikrochips in der Luftfahrtbranche und beim Studieren der Homepage verstand ich nur Bahnhof. Technik liegt mir so fern wie den Blau-Weißen der Meistertitel.
Zweiunddreißig Minuten nach zehn. Im Fahrstuhl fahren zwei Personen hinunter. Männlich und weiblich, wie ich erkennen kann. Beide steuern mich zielstrebig an, das sind sie bestimmt. Neugierig und aufgeregt zugleich stehe ich zur Begrüßung auf.
„Entschuldigen Sie bitte die Verspätung - Karl Bach“, stellt der Herr sich außer Puste vor, „und das ist meine Kollegin Frau Horst.“
„Hallo!“, lächelt die Frau, ehe sie mir freundlich die Hand entgegenstreckt.
„Heidi Hagenbert.“
„Schön! Wir freuen uns, Sie kennen zu lernen.“
Gleich im Gespräch ist Konzentration angesagt, doch lässt dieser kurze Moment vorab Raum für erste Eindrücke. Ich betrachte die beiden ein wenig genauer.
Herr Bach, um die sechzig, ist wohlgenährt - wahrscheinlich zu erklären mit häufigen Geschäftsessen. Überdies liegt die Vermutung nahe, dass er reichlich Kaffee konsumiert und wenig Schlaf findet. Er wirkt ausgelaugt.
Frau Horst, eine auffällig kleine Person Mitte vierzig, steht die Erschöpfung ebenfalls ins Gesicht geschrieben. Mein flüchtiges Schmunzeln gilt aber weder diesem Umstand noch ihrem Kleidungsstil. Der klassische Hosenanzug samt der hochwertigen Schluppenbluse, die bis zum Hals zugeknöpft ist, wirkt mondän und steht ihr ausgezeichnet.
„Darf ich Ihnen ein Getränk anbieten?“, erfragt Frau Horst aufmerksam, kaum haben wir den nah gelegenen Besprechungsraum betreten.
„Gerne!“
Nach dem üblichen Small-Talk übernimmt Herr Bach die Gesprächsführung. Mit Hilfe von Umsatzzahlen und diversen anderen Fakten stellt er das Unternehmen ausführlich vor. Weltweit beschäftigt Varlo fast hundertsiebzigtausend Mitarbeiter, davon ungefähr zweitausend am Dortmunder Standort. Ähnlich umfassend widmet er sich dem Werdegang von Frau Horst, von ihren Anfängen bis hin zu ihrer jetzigen Position als Abteilungsleiterin der Buchhaltung und des Controllings. Nun bin ich an der Reihe.
„Mit neunzehn, äh achtzehn habe ich mein Abitur gemacht...“
Verflixt! Wieso entgleitet mir neuerlich die Kontrolle? Haspelnd referiere ich die Stufen meines jungen Daseins und eine Besserung ist nicht in Sicht.
Mitsamt Hoffnung entsinne ich mich an die Übungen des souveränen Franzosen. Dasselbe Maß an Sanftmut und Autorität ausstrahlen, in sich ruhen ohne Arroganz - eine Kunst, die ich erstrebe zu beherrschen. Zur Beruhigung konzentriere ich mich auf meine Atmung. Tief ein und langsam wieder aus. Es hilft tatsächlich - meine Stimme wirkt gefestigter, das Stottern kontrollierter.
„Interessant…“, stoppt Herr Bach mich nach einer Weile abrupt. „…also urplötzlich kam dann der Lehrer-Beruf für Fräulein Hagenbert nicht mehr in Frage?“
„Auf gar keinen Fall!“, reagiere ich zur eigenen Verblüffung nahezu mit selbstbewusster Empörung. In Anbetracht mangelnder Nerven und Geduld für pubertierende Schüler verbannte ich Nachhilfe geben relativ schnell meines Nebenjobrepertoires. „Wie kommen Sie darauf?“
„Na, aufgrund Ihres abgebrochenen Lehramtsstudiums!“
„Ich habe die Sprachen nicht auf Lehramt, sondern auf Magister studiert.“
Irritiert schaut er mich an. Irgendwie beruhigend, dass ins Fettnäpfchen treten nicht ausschließlich der unbeholfenen Heidi vorbehalten ist. Eine kleine Pause entsteht. Herr Bach blättert in seinen Unterlagen und umgeht die Situation geschickt, indem er seine Kollegin bittet, zu übernehmen. Eindringlich studiert Frau Horst meinen Lebenslauf.
„Ah, ich sehe - Sie haben zwei SAP Seminare im Studium belegt.“ Interessiert hebt sie ihren Blick. „Bravissimo - wie der Zufall es vorsieht, arbeiten wir mit diesem Programm. Worin lagen die thematischen Schwerpunkte Ihrer Kurse?“
„Kostenstellen- und Investitionsrechnung.“
„Wunderbar! Welche Methoden hatten Sie behandelt?“, fragt sie gezielt nach.
„Eine war - glaube ich - die Kostenvergleichsrechnung…“
„Glauben kann man an den lieben Gott! Sie wollten sagen, Sie wissen es?“
„Ja genau - ich weiß es.“
„Gut, und die anderen?“
Hilfe, ich bin nicht imstande, sämtliche Methoden wiederzugeben. Die beiden Seminare sind eine Weile her und an Einzelheiten kann ich mich nur wage erinnern. Durchatmen! Mit der empfehlenswerten Taktik in Form penetranter Gegenfragen rette ich mich von Frage zu Frage, aber sobald annähernd Zufriedenheit waltet, schiebt Frau Horst rasch die nächste Stolperfalle hinterher. Dieses Spielchen läuft seit nunmehr zwanzig Minuten. Oder noch länger?
„Does you agree, that we will continue our conversation now in english? If you work at Varlo, it is very important, that you can speak English without mistakes!”
„Sure!“, übe ich mich mehr schlecht als recht in Souveränität - unvermeidbar huscht mir der Hauch eines Grinsens übers Gesicht. Heißt es nicht Do you agree ?
Frau Horst startet erneut einen Fragenmarathon und obwohl ich wiederholt versuche, ihr sinnreiche Antworten zu liefern, schwimme ich weiterhin in einer Tour.
„Schluss für heute!“, unterbricht Herr Bach sie irgendwann endlich. „Wir werden schon sehen, ob sie was drauf hat. Wenn ja, bleibt sie und wenn nicht, kriegt sie nach den drei Monaten ein Zeugnis und gut ist.“
„Karl - du nimmst kein Blatt in den Mund!“, fügt Frau Horst dem hinzu.
Cool, das hört sich ganz nach einer Zusage an. Geht doch! Jedoch fühle ich mich wie eine Statistin, da Herr Bach durchgängig in der dritten Person von mir redet. „Sie dürfen mich ruhig direkt ansprechen, auch wenn Sie mich nicht für voll nehmen, weil ich nervös bin. Ich hatte bisher nicht viele Gespräche dieser Art“, würde ich ihm am liebsten sagen, aber das lass ich lieber.
„Heißt das, mir ist der Praktikumsplatz sicher?“, frage ich stattdessen schüchtern nach, um hundertprozentige Gewissheit zu erlangen.
„Selbstverständlich. Ab November geht`s los - sobald das Praktikum bei den Fischessern vorüber ist“, sorgt Herr Bach in seiner lockeren und burschikosen Art für finale Klarheit. „Gehalt zahlen wir dasselbe, Urlaub gibt`s bei uns nicht! Ein junger Hüpfer muss erstmal Gras fressen!“
Moment mal! Eine Verschlechterung meines vorherigen Sklavendaseins. Warum erhalte ich keinen Urlaub? Ist das überhaupt rechtens? Ehe sich die Gutsherren hastig aus Termingründen verabschieden, lächeln sie mir aufmunternd zu. Den Arbeitsvertrag wollen sie mir postalisch zusenden.
Mit authentischer Vorfreude verlasse ich meinen zukünftigen Arbeitgeber. Wir werden sehen. Entweder ich überzeuge oder nicht. Ich werde jedenfalls alles in meiner Macht stehende tun, um mein Ziel zu erreichen.
Herr Bach kriegt jeden Morgen einen frisch gepressten Orangensaft und sollte ich einen guten Draht zu Frau Horst entwickeln, werde ich das Malheur mit den gelblichen Haaren samt Feingefühl in die richtigen Wege leiten. Brünette können gleichermaßen Spaß erleben - das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen.
Jenseits all dieser potenziell karrierefördernden Initiativen fürchte ich bei manch weiterem Akt an persönliche Schmerzgrenzen zu stoßen. Weder werde ich Gras fressen noch Blätter in den Mund nehmen! Geschweige denn gewisse andere Dinge.
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