Siobhan öffnete ihre Augen, es war anders wie sonst zu sehen, klarer und dennoch nebulös. Der Körper schien ihr voll und rund. Das Atmen fiel ihr schwer.
Sie hatte keine Kraft in den Beinen, und Gleichgewicht war praktisch nicht vorhanden. Sie wollte sich irgendwo festhalten, um sich aufzurichten. Der Ast, nach dem sie griff, rutschte allerdings durch ihre Finger, da auch sie grazil und gebrechlich waren. Ein unweigerliches Aaah entwich ihrem Mund, und sie erschrak so sehr vor ihrer eigenen Stimme, dass sie aufsprang ohne das Gefühl jeder Anstrengung.
Da stand sie, verwirrt, makellos schön und nackt.
Und Ieuan erstarrte, als er sie vor sich sah.
Allem Anstand zum Trotz konnte er seine Blicke nicht von ihrem perfekt proportionierten Körper lassen.
„Das ist sehr unhöflich“, dachte sie eigentlich nur, doch die Worte waren ihrem Mund bereits entfleucht.
Aus seinem Wachtraum herausgerissen, öffnete er nervös und ungelenk sein Lèine, das Band, welches er um seine Hüften trug. Schnell zog er das Hemd über den Kopf, und nein, er zog sich nicht aus, um ihr gleich zu tun, er reichte es ihr langsam herüber. Gerade streckte sie ihre Hand aus, um es zu greifen, als ein lautes Donnern den Himmel erfüllte. Beide erschraken.
Ruaidhri schickte zwei Blitze los. Einer traf Ieuan, der sogleich das Bewusstsein verlor. Der andere machte Siobhan wieder zu dem, was sie war. Nur ein Hauch voller Gedanken, getragen vom Nebel zog sie gen Himmel. Wie ein flüchtiger Kuss streifte sie die schorfige Wange des Fremden zum Abschied.
In tiefer Nacht durchfuhr ihn ein Zucken. Und in der Sekunde, da sich seine Augen wieder öffneten, suchten seine Blicke sogleich die Verschollene. Die vorher herrschende Finsternis wurde nun durch den Mondschein verdrängt, der ein so wundervolles Schattenspiel in die Landschaft zauberte, dass Ieuan für einen Moment dachte, er würde sich noch immer in einem Traum befinden. Der Mond war voll und stand weit oben. Seine Helligkeit ließ nichts ungesehen.
So suchte Ieuan Ò Briain nach der Frau, die von nun an sein Leben verändern sollte.
„Du musst ihn vergessen!“
Seine Worte waren streng und bestimmend und schienen endgültig.
Siobhan weinte bittere Tränen.
„Ich kann ihn nicht vergessen. Als ich einen Körper hatte, konnte ich fühlen, wie mein Herz schlägt - für ihn, Vater.“
„Er ist ein Erdling. Ich befehle dir, ihn zu vergessen!“
Sie hatte sich in ihrer Trauer vergraben. Nicht ein einziges Mal mehr hatte sie getanzt. Ihr farbloser Körper regte sich nicht mehr, sie wirkte unsichtbar, kein Gedanke durchlief sie, kein Gefühl der Trauer und des Schmerzes regte sich in ihr. Ihre pergamentscheinende Hülle wirkte nun wie Glas. Niemand konnte ihren Geist erreichen. Ihre Schwestern machten sich Sorgen.
„Vater, du musst sie gehen lassen!“, Pearls Stimme durchdrang die Ohren des Königs wie ein Pfahl aus Eis.
Ruaidhris Blick ruhte auf dem Haus des Bogners. Er beobachtete ihn unaufhörlich seit jener Nacht. Tief im Innern wusste er, seine Tochter würde ihn bis ans Ende ihrer Tage verachten für seine Sturheit.
„Vater, du musst dich entscheiden.“
„Ich soll sie da runter schicken in dieses Elend?“
Alannah trat hervor, seine Jüngste. Mit sanfter Stimme sprach sie in sein Ohr: „Wir werden sie verlieren.“
„Ich hab sie doch schon verloren“, sprach er mit einem Grollen, das die Kraft seiner Worte unterstützte.
„Sie liebt dich doch.“
„Ist sie nah, ist sie dir fern. Und ist sie fern, wird sie dir nah sein. Du musst dich entscheiden!“
Pearl streifte die Hand ihres Vaters mit ihrer ganzen Wärme: „Gib ihr einen Körper! Nur du kannst das.“
Die Entscheidung war bereits gefallen. Doch versuchte ein letzter Zweifel seine Gedanken zu verlassen.
„Ich soll sie da runter schicken, da wo die Männer sich seit Jahrhunderten auf den Feldern abschlachten wie Vieh, und ihre Frauen verbrennen auf Scheiterhaufen ? Wie könnte ich das tun?“
Clar Cloinne Mhuiris/November 1783:
Seine Verzweiflung ließ das Wetter über dem County unberechenbar werden. In einer Minute schien die Sonne, der Wind wehte gleichmäßig von Westen her, und Sile Ò Ceallaigh hängte ihre Wäsche auf.
In der anderen Minute zogen finstere Wolken auf und der Regen prasselte im 45° Winkel auf Siles frische Wäsche, die sie sogleich wieder abnahm.
Dann schien wieder die Sonne. Sile schaute misstrauisch und hängte nach kurzem Zögern ihre Wäsche wieder auf.
Dann zogen Wolken auf, finsterer noch. Sile schnaubte und riss die Sachen wieder von der Leine. Und so ging das stundenlang.
Währenddessen hockte Ieuan in seinem Haus aus Stein und Lehm, eigentlich war es nur eine Hütte, und er fühlte sich hier schon lange nicht mehr zu Hause. Das Dach musste repariert werden, die Tür schloss nicht mehr richtig. Eines der drei Fenster im vorderen Teil war zu gehangen. Seit Monaten hatte niemand mehr den Boden gefegt oder Staub gewischt. Es war schummerig. Jegliches Gefühl von häuslicher Geborgenheit war im März diesen Jahres mit seiner Mutter gestorben. Ieuan erinnerte sich an diesen furchtbaren Tag und ihre Worte:
„Es ist ein Ende abzusehen, mein Sohn.“
Was sie damit meinte, wusste er damals noch nicht. Máire sagte es jedes mal, wenn sie zu der alten, knochigen Eiche kamen. Der Baum war riesig und wirkte beinah lebendig. Wenn Ieuan unter ihm im dichten Gras lag, schienen seine gewaltigen Äste vom Wind getrieben nach ihm zu greifen.
Ieuan wurde älter, wuchs heran, und mit ihm das Wissen, welches das Geschehen um ihn herum betraf. Es wurde seltener, aber der Geruch, der widerliche Gestank brannte sich in seine Nase. Eigentlich waren die schlimmsten Zeiten der Hexenverfolgung und Verbrennung in Irland bereits vorbei. Und sie hatten noch Glück gehabt. In Mitteleuropa , erinnerte er sich gehört zu haben, gab es Tausende, meist Frauen und auch deren Kinder, die sie auf den Scheiterhaufen verbrannten. Doch es gab auch hier immer irgendeinen von teuflischem Ehrgeiz getriebenen Inquisitor, der einen Grund für eine Anklage fand.
Ieuans Körper spannte sich an, jeder Muskel verhärtete sich. Und im schummerigen Licht der Kerzen konnte man meinen, sein Körper sei in Bronze gegossen. Wie glühende Kohle hatten sich die Worte seiner Cousine von jenem Tag in sein Hirn gebrannt:
"Sie sind hinter mir her. Sie wollen mich töten! Lasst nicht zu, dass sie mir weh tun!"
„Caoimhe, beruhige dich!“
Máire holte sie ins Haus und nahm ihr den durchnässten Umhang ab. Ihr Gesicht war mit Blut und Dreck verschmiert.
Ieuan saß in der Ecke und schnitzte Pfeile für die Jagd. Er war groß gewachsen wie sein Vater. Und er hatte den Schein der Abendsonne im Gesicht, der sich durch die Fensteröffnungen quälte.
Stumm und Anteillos verfolgte er das hastige Gespräch zwischen Caoimhe und seiner Mutter.
„Sie werden dich nicht auf den Scheiterhaufen bringen. Sie haben keine Beweise.“
„Sie brauchen keine Beweise. Letzten Monat nahmen sie die junge Brighid Ó Riagáin und ihren erst drei Jahre alten Sohn Fearghas fest. Nur einen Tag später wurden sie beide verurteilt und verbrannt.“
Caoimhe zitterte am ganzen Leib. Die Angst schnürte ihren Hals so eng, dass sie nur noch flüsterte. Máire schüttelte ihren Kopf unweigerlich hin und her, nicht verstehend, was hier passierte. Sie wollte ihr Trost spenden und hielt ihre Hände. Sie waren geschwitzt und kalt.
„Was war die Anklage?“
Caoimhe trank hastig einen Schluck Wasser, den Máire ihr in einem Tonbecher gereicht hatte.
„Für uns brauchen sie doch keine Anklage. Wir sind Frauen, Mütter.“
Sie schluchzte und rang nach Atem, bevor sie weiter reden konnte.
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