„Tja, warum ich euch das erzähle, werdet ihr sicher fragen!?“
Walter sah sich in der Runde um, als erwarte er eine Meldung eines Pfadfinders, der ihm seine Frage beantworten könnte. Vielleicht wusste er selbst nicht, wie die Antwort lauten könnte, oder die Erinnerung an diesen faszinierenden Anblick der Panzerkolonne, wie sie da auf der weit entfernten Allee blitzend im Sonnenlicht fuhr, hatte ihn einfach überwältigt!? Nach einer kurzen Pause folgte jedoch eine Antwort, die Elmar nicht erwartete hatte, weil sie eine ganz andere Einstellung Walters zu diesem Panzermanöver aufzeigte:
„Nun, der Grund meines Exkurses ist: Ich wollte euch noch einmal ganz klar meine Ansicht über den Sinn von Haus ’Sternbald’ erläutern, dass dieses Lager so unermesslich weit entfernt ist von den Praktiken der Welt da draußen, wo Krieg herrscht. Zwar schweigen zur Zeit die Waffen, und die Panzer fahren da nur herum. ’Doch die Werke der Welt sind böse’, sagt Jesus im Johannesevangelium. Bald wird sich, fürchte ich, der Unfriede der Welt wieder zu einem neuen heißen Krieg steigern. Die Tatsache, dass da Panzer herumfahren, deutet darauf hin. Nur bei uns, in Haus Sternbald, hat die heillose, böse Welt ihre Macht verloren, bei uns werden nur die Praktiken des Friedens und der Kameradschaft und Freundschaft gepflegt. Zwar wird auch bei uns Sternbaldpfadfindern gekämpft, aber, wie ihr schon wisst, kämpfen wir mit völlig anderen Waffen; mit Waffen, die keine Wunden reißen; und die Kämpfe, die wir austragen, nehmen auch kein furchtbares Ende, sondern sie schweißen unsere Truppe erst zu einer richtigen Kameradschaft zusammen, manchmal sogar wird aus der Kameradschaft eine Freundschaft, die ein ganzes Leben anhält! Auch die harten Gesetze der Gesellschaft gelten bei uns nicht. Rivalisieren und Konkurrieren oder der Zwang, Leistung zu erbringen, sind uns fremd, jedenfalls so lange wir in Haus Sternbald weilen. Konkurrenz ist für uns kein verbissener Kampf um Ansehen und Ehre, sondern Konkurrenz gilt uns nur als Spiel!’ -
So also erklärte Walter Harms plausibel den Sinn seiner Abschweifung. Die meisten Jungen schauten während dessen etwas verlegen drein, denn wohl keiner von ihnen hatte sich schon tiefere Gedanken über das Kriegerische der bösen Welt oder über die harten Bedingungen der Gesellschaft gemacht, doch sie nahmen Walter seine edle Denkart ab, jedenfalls Elmar tat es, und so wandte sich der Sippenführer erneut dem Verlauf des Geländespiels zu, das ganz in den Hintergrund getreten war. Das für sie maßgebende Trompetensignal - erläuterte er - sei wieder deutlicher zu hören gewesen, und nachdem er noch einmal angestrengt die grüne Masse der auf- und absteigenden Waldhügel abgesucht, natürlich in der Richtung, aus welcher das Signal zu ihnen herüberschallte, habe er sie doch noch entdeckt, die Räuber, weit weg vom Aufmarsch der Panzer: eine kleine Truppe, vielleicht erschöpfte Nachzügler, sei aus einer Waldschneise auf einen Weg herausgetreten und habe vorsichtig nach allen Seiten gespäht. Gleich habe er den Befehl zum Angriff gegeben, und sofort eilten seine Jäger, die Speere trotzig unter den Arm geklemmt, in die angegebene Richtung einen riesigen kahlgeschlagenen Hang hinunter. Durch Unterholz und Gestrüpp bahnten sie sich ihren Weg, wobei mancher mit seinem Speer in den Zweigen hängen blieb, aber alle seien nach kurzer Zeit wohlbehalten auf jenem Weg angekommen, an dessen unterem Ende sich die Räuber versammelt hätten. Diese, gerade dabei, sich eine Ruhepause zu gönnen, wären entsetzt hochgefahren und davon gestoben, doch es hätte ihnen nichts genützt; sie waren halt entdeckt und mussten sich dem Kampf stellen.
Herr Wagenbach als Schiedsrichter - schilderte Walter Harms weiter die Schlussphase des Waldspiels - hielt sich ständig in der Nähe der Räubergruppe auf, und mit energischer Stimme, unterstützt von seiner Trillerpfeife, gab er Anweisungen, wie die Schlachtreihe sich formieren, wo die Linie verlaufen sollte, die von keiner Partei übertreten werden durfte. Dann habe der Kampf begonnen: Die beiden ersten Schlachtreihen seien einander gegenübergetreten, das Startzeichen wurde gegeben, und schon flogen, begleitet vom Johlen und Hurra-Geschrei der Kämpfenden, die Speere hin und her, während die Triller des Schiedsrichters Treffer und Tod, das heißt den Abgang der „Gefallenen“ zu einem “Toten-Sammellager“ signalisierten. Er, Walter, habe fünf Räuber erledigt, bis auch ihn das Schicksal ereilte, das Polster eines gegnerischen Speeres traf sein rechtes Knie mit hartem Schlag, aber ohne irgendwie weh zu tun, und die Trillerpfeife habe „gesungen“. Erhobenen Hauptes zog er darauf ab in die ’ewigen Jagdgründe’. Zuletzt blieben zwei Kontrahenten übrig: O.K.H von der Sippe Paul Gerhard, ein Gendarm, und Thomas Lattemann, der Anführer der Räuber, ein Pfadfinder-Unterführer von der Sippe „Martin Luther“ aus G***. Es habe jetzt ein echter .Einzelspeerkampf begonnen. Sippenführer Walter, der sich förmlich in Begeisterung hineinredete, was sich sofort wieder auf die Anwesenden übertrug, schilderte diesen Zweikampf jetzt so: „Herr Wagenbach steckte ein Feld ab, mitten in der Menge der zuschauenden Pfadfinder, denn die gefallenen „Räuber“ und „Gendarmen“ waren inzwischen aus ihrem Sammellager wieder herbeigeeilt und bildeten eine dichte Kulisse. Die beiden Kämpfer legten je fünf Speere neben sich auf den Boden, schüttelten sich noch einmal kameradschaftlich die Hand, dann, auf ein Kommando, ging der Kampf los: Thomas zielte auf OKH’ s Füße, warf mit hartem Stoß den ersten Speer schräg von oben nach unten, doch mit blitzschnellem Grätschsprung wich OKH aus, um sogleich, noch im Fluge, seine Waffe Richtung Knie des Gegners “abzufeuern“. Thomas, ebenfalls flink und reaktionsschnell, warf sich zur Seite, so dass der nicht allzu hart gestoßene Speer ins Leere flog. Jetzt tänzelten, dribbelten, hopsten beide auf ihren Feldern hin und her, belauerten sich gegenseitig, spähten nach einer Chance, spitzten auf eine momentane Nachlässigkeit, auf eine Unkonzentriertheit des anderen. Plötzlich: wieder ein Stoß, wieder ein Sprung, und pfeilartig glitt der Speer, von OKH geschleudert, über den Waldweg ins Leere. Der Kampf wurde härter. Beide standen sich in einiger Entfernung von der Mittellinie nahezu regungslos gegenüber, jeder beobachtete den anderen noch schärfer als zuvor, nur der keuchende Atem verriet die Erregung, die Anstrengung. Thomas hatte drei Speere aufgenommen, hielt zwei in der Rechten, einen in der Linken, OKH begnügte sich mit zweien. Mit einem Male haute Thomas eine ganze Serie von Würfen OKH vor die Füße, doch der, nicht faul, ließ seine Füße samt den angewinkelten Unterschenkeln emporschnellen und schoss, wieder im Sprung, gleichfalls kurz hintereinander, seine beiden Speere ab, die aber Thomas, ebenso gekonnt, mit seinem letzten Speer abblockte. Die Kämpfer hatten jetzt jeder noch einen Speer, den sie sogleich vom Boden aufnahmen. Da, plötzlich, Thomas strauchelt, vielleicht vor Erschöpfung, fällt hin, hat für einen kurzen Augenblick seine Beine nicht unter Kontrolle; für OKH ein Kinderspiel, seinen letzten Speer in die richtige Richtung zischen zu lassen. Mit einem kurzen, trockenen „Blopp“ prallt der Speer gegen Thomas Lattemanns Schienbein, ein schriller Pfiff markiert das Aus, und ab ging Thomas ’zur großen Armee’!“
Walter hatte geendet. Die Augen der Anwesenden, die schon während der letzten Erzählpassagen dann und wann OKH kurz und ehrfürchtig gestreift hatten, richteten sich jetzt voll auf diesen. Karl-Heinz hatte ein glattes, hübsches Gesicht, blaue Augen und blondgelockte Haare, die ihm seitlich in die Stirn fielen und die er oft durch ein Schnicken ganz zur Seite beförderte. Zur Zeit schaute er ziemlich gelangweilt drein, so als wäre ihm die Herausstellung seiner Person lästig, doch ein kaum merkliches Glänzen seiner blauen Augen verriet, dass er insgeheim die bewundernden Blicke der Pfadfinder genoss. Auch die Gratulation derjenigen, die an dem Lager nicht teilgenommen, schien er nicht ungern, wenn auch widerstrebend, über sich ergehen zu lassen, eine Gratulation in Form einer trommelnden Akklamation, die auch Elmar mit seiner Faust auf dem Holztisch des Türmerzimmers ausführte. Der große Sieger des Waldspiels, das er für die Gendarmen und zur Ehre der Sippe Paul Gerhard entschieden hatte, nahm diese Anerkennung verdientermaßen entgegen, aber nach wie vor gleichmütig, beinah uninteressiert dreinschauend, als gehe ihn das alles gar nichts an.
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