Inzwischen blätterte Walter in seinem Manuskript, das er sich für seinen Vortrag zurechtgelegt hatte, besann sich einige Augenblicke und setzte seinen Vortrag fort:
„Ich stand also“, sagte er, „bei unserer Ankunft im Lager unmittelbar vor dem Zaun - es war im Juli letzten Jahres. Ich stand da, spähte ins Lager hinein, betrachtete die Zelte und das ganze Gelände, die freie Stelle machte es ja möglich. Nachdem ich alles wahrgenommen hatte, was ich schon kannte, was mich aber immer wieder von neuem reizte, mir von dieser Stelle aus diesen ersten Eindruck zu verschaffen, ging ich zurück zu den anderen, die bereits vor dem Lagertor ungeduldig warteten. Hinter dem Torgitter sieht man einen breiten, von Berberitzenhecken eingefassten Gang, der am äußeren Ende eine scharfe Linkskurve beschreibt und sich unseren Augen dann entzieht. Noch einmal wurde geschellt, und bald kam jemand um die Ecke, eiligen Schrittes: es war Heinz Wagenbach, ein älterer Pfadfinderführer, gleichzeitig der für unseren Stamm VI zuständige Stammesführer. Er ist gewissermaßen die rechte Hand vom Chef. Ihn müsst ihr euch merken, denn er ist für die Sippe Paul Gerhard zuständig. Er trägt das schwarze Halstuch des Stammesführers und ist an seiner hohen, stattlichen Gestalt, an dem schwarzen, straff nach hinten gekämmten Haar und einer energischen Sprechweise zu erkennen.“
„Übrigens“, Walter hielt kurz inne, und indem er sich durch die Haare fuhr, machte er ein nachdenkliches Gesicht; dann sprach er, etwas stockend, weiter:
„Auch Frau Wagenbach werdet ihr wahrscheinlich im Lager antreffen. Sie ist - leider, muss ich sagen - auch sofort zu erkennen, und zwar an einem - äh, wie soll ich sagen - an einem äußeren Makel, einer Missbildung: Sie hat ein entstelltes Gesicht, schiefen Mund... und so.. - Nun, ich sage euch das, damit ihr nicht so hinglotzt oder dumme Sprüche macht, wenn ihr sie mal trefft, und das wird wahrscheinlich ziemlich oft der Fall sein.“
Ein Junge, vorne am Tischende neben dem Sippenführer sitzend, nutzte eine Kunstpause des Redners und richtete leise einige Worte an ihn. Elmar konnte allerdings ziemlich deutlich hören, wie der Junge, der Frau Wagenbach offenbar bereits kennen gelernt hatte, Näheres über deren unglückliche Entstellung erfahren wollte, ob ein Verkehrsunfall oder irgendein anderes Verhängnis, eine verheerende Krankheit vielleicht, die Ursache wäre.
Walter Harms beugte sich, um den Jungen besser zu verstehen, zu ihm herunter; etwas unwillig runzelte er die Stirn und sagte dann, ebenfalls mit leiser, aber barsch klingender Stimme: „Meines Wissens hat sie das von Geburt an. Genaueres weiß ich nicht, spielt für uns auch keine Rolle!“
Darauf sich wieder aufrichtend und einige Momente zerfahren nach Worten suchend, fuhr er mit seiner Erzählung fort:
„Herr Wagenbach öffnete also das Tor und. begrüßte uns mit seiner energischen Stimme, lachte herzlich, und wir traten in das Lager ein. Der E.F. sei noch nicht da; erst beim Abendappell, sagte Herr Wagenbach, werde er zur Begrüßung erscheinen. Nachdem man uns unsere Schlafstellen in einem der Zelte zugewiesen hatte, hieß es: „Antreten zum Appell!“ Sämtliche Jungen traten nun im Karree auf dem Appellplatz an, und bald erschien auch der E.F., das heißt unser Erstführer, Paul Bildner, in seiner gewohnten Kluft: weiße Jacke, Reithosen und Stiefel; er ist bereits etwas korpulent, hat einen kleinen Bauch, die Haare sind schon gelichtet, aber die geistige Verfassung zeugt von ewiger Jugend. Er hat Witz und Humor, er trifft immer den richtigen Ton, um uns Jungen zu begeistern.“
Walter machte wieder eine kleine Pause, räusperte sich, dann fuhr er fort:
„Nun folgte die von allen erwartete humorige Begrüßungsansprache des EF. Na ja, ich kann sie hier schlecht wiedergeben. Dafür fehlt mir die Rednergabe und auch der Witz des Erstführers. Aber so eine Ansprache wird euch ja auf alle Fälle nicht entgehen. Ihr werdet sie garantiert noch erleben, wenn ihr erst einmal nach ’Haus Sternbald’ kommt.“
Der Sippenführer unterbrach erneut seinen Vortrag, schaute auf die Uhr, sagte dann, er müsse gleich die Runde hier verlassen, da ihn andere Pflichten zur Zeit in Anspruch nähmen, welche, ließ er zunächst offen. Sein Stellvertreter Gerhard Nebel werde die „Rast“ weiter führen, fügte er noch hinzu. Walter deutete dabei auf einen Jungen, der zu seiner Rechten saß, offensichtlich ein Unterführer, denn er trug eine grüne Kordel um sein braunes Halstuch. Dieser, indem er angesprochen wurde, setzte sogleich eine übertrieben wichtige Miene auf, verzog seinen Mund zu einem dünnen Strich, klappte die Augenlider mehrmals auf und nieder und ließ sodann blitzschnell die Augen im Kreise kullern, was wohl heißen sollte, dass er die Ehre der übertragenen Aufgabe zu schätzen wusste.
Zuvor aber - Walter hatte sich wieder den Jungen zugewandt - wolle er noch kurz den Ablauf eines Lagertages schildern, vor allem wolle er von einem Waldspiel erzählen, das ihm noch frisch in Erinnerung sei; auch davon, wie es organisiert werde, welche Regeln, Tricks und Schliche man kennen müsse und was bei den Speerkämpfen oder Flussgefechten zu beachten sei, die jeweils den Höhe- und Schlusspunkt der Spiele bildeten.
„Was sind eigentlich Flussgefechte?“ fragte plötzlich einer, der offenbar zu den Neuen, noch nicht Eingeweihten zählte, ein Knappe mit blauem Halstuch, und Sippenführer Walter blieb die Antwort nicht schuldig:
„Flussgefechte sind Speerspiele in Gruppen, sie werden zu beiden Seiten eines Flussgrabens ausgetragen. Ideal hierfür ist die große Wiese des Lagers. Der breite Graben stellt den ’Fluss’ dar, die kämpfenden Parteien stehen dann diesseits und jenseits des ’Flusses’. Aber auch während des Geländespiels, wenn die beiden Parteien aufeinanderprallen, werden oft Flussgefechte ausgetragen. Jeder Spielteilnehmer bekommt zu Beginn des Spiels einen Speer, der vorne gepolstert ist, und man versucht, sobald der Kampf beginnt, den Gegner unterhalb des Knies zu treffen. Die Schiedsrichter beobachten die Kämpfe und entscheiden, wer ausscheiden muss. Das Ganze macht natürlich Riesenspaß und ist völlig ungefährlich. Ein zu hoch angesetzter Wurf kann wegen der Polsterung des Speers keine Verletzungen hervorrufen.“
„Und wenn der Speer ins Gesicht trifft?“, wollte der Knappe noch wissen.
„Das ist noch nie passiert! Die Schiedsrichter achten scharf darauf, dass die Speere immer von oben nach unten geworfen werden. Genauso werden auch alle vorher instruiert: ja nicht waagrecht zielen oder gar nach oben, Richtung Kopf! Die Jungen halten sich daran; bei uns Pfadfindern will ja keiner den anderen verletzen! Wer trotzdem den Speer zu hoch ansetzt, scheidet sofort aus. Ein schriller Pfiff des Schiedsrichters, und der Junge muss sich in die Büsche schlagen.“
Der Fragesteller, ungefähr 15 Jahre alt, mit Pausbacken und Sommersprossen, nickte zufrieden, und Walter konnte seinen Vortrag fortsetzen. Zunächst informierte er seine Zuhörer, wie angekündigt, über den Ablauf eines Lagertages, und zwar minuziös, von der Frühfanfare, die, von einem Jungen um sechs Uhr geblasen, das Lagerleben in Gang setze, über den morgendlichen Appell mit gleichzeitiger Verkündung der Tageslosung, über Frühstück, Bibelstunde, Spielstunde bis zum Mittagessen, sodann folgt die Stille Freizeit, dann das Vesper mit anschließendem Wandern oder Spielen am Nachmittag, gefolgt vom Abendessen, schließlich die Vorlese- oder Erzählstunde, wo jeder talentierte Erzähler eine vorbereitete Geschichte mit möglichst viel Spannung vortragen dürfe, gefolgt schließlich von der Abendandacht bis hin zum Spätappell, der mit klassischer Musik, meistens mit Grieg- oder Händelmusik den Lagertag beschließe, während die Spätfanfare um 22 Uhr die beginnende Nachtruhe ankündige.
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