Der schwierige Weg der Selbstfindung
Ich führe meinen Lebenslauf, der sich deutlich von dem meiner Brüder und meiner Mutter unterscheidet, im Wesentlichen auf bessere Bedingungen in der Kindheit und auch auf bessere Anlagen zurück. Die vermittelten Werte und die erlebte Geborgenheit und Sicherheit haben maßgeblich dazu beigetragen, mich nicht in die Mühlen der Psychiatrie geraten zu lassen, mit all den schlimmen Folgen, die das für meinen jüngsten Bruder hatte. Ich lernte, nach Möglichkeit selbstständig zu leben und mich nicht in die Abhängigkeit einer Institution zu begeben.
Trotzdem verlief der Übergang ins Erwachsenenalter nicht reibungslos. Dabei stolperte ich immer wieder über meine Sensitivität [16]. Wie sollte ich denn erkennen, dass sie meine größte Stärke ist, wenn ich meine Wurzeln nicht kannte? Wie sollte ich wissen, in welche Richtung ich gehen musste, wenn ich nicht wusste, woher ich kam?
Wegen dieser Unwissenheit wählte ich anfänglich den falschen Beruf. Ich begann nach einem Orientierungsjahr eine Ausbildung zum Mechaniker und realisierte rasch, dass handwerkliches Arbeiten nichts für mich ist. Denn wenn ich den ganzen Tag an Maschinen stehe, fehlt mir der Kontakt zu Menschen und ich kann meine spezifische Stärke nicht ausspielen. Stattdessen kämpfte ich als Linkshänder mit Maschinen, die für Rechtshänder ausgelegt waren. Der Lehrbetrieb schickte mich deshalb für eine Potenzialabklärung zu einem Psychologen. Das Ergebnis sorgte für noch mehr Konfusion, weil der Psychologe mir eine gute bis sehr gute Intelligenz attestierte: »Sie können beruflich alles erreichen, was Sie wollen«, kommentierte er die Resultate. Das war das Gegenteil dessen, was Lehrmeister und Betrieb vermuteten. Sie reagierten auf diesen Befund ratlos und lösten nach zwei Jahren den Lehrvertrag mit der Bemerkung auf: »Wir haben Lehrlinge, die viel weniger intelligent sind als Sie, aber mit denen geht es und mit Ihnen nicht. Sie sind für uns ein großes Rätsel.«
Weil ich nun schon 20 Jahre alt war, absolvierte ich vorerst die Rekrutenschule und trat anschließend ins Feusi Gymnasium ein. Anfänglich lief alles gut, bis ich nach knapp zwei Jahren massive psychische Probleme bekam. Ich fühlte mich plötzlich ganz anders, wie in einem Film. Ich konnte mir nicht erklären, woher das kam, denn es gab keinen äußeren Auslöser. »Es kam wie angeworfen«, erklärte ich dem Klassenlehrer. Meine Leistungen sackten plötzlich so stark ab, dass der Chemielehrer mich einmal zur Seite nahm und frage, was los sei: »Ich verstehe das nicht. Ich sah Sie bisher als Stütze für die Klasse.« Wie sollte ich darauf reagieren, wenn ich selber nicht verstand, was los war?
Erst viel später, als ich meine Mutter kennenlernte, interpretierte ich das Unerklärliche als eine beginnende Schizophrenie. Das bestätigte mir auch der Arzt beim Eintrittsgespräch, als ich mich Ende 1996 – also mehr als acht Jahre nach dem Auftreten der ersten Symptome – selber in eine psychiatrische Klinik einwies: »Sie haben dasselbe wie Ihr Bruder, nur weniger ausgeprägt«, stellte er fest. Er konnte das vergleichen, weil mein Bruder Patient in der gleichen Klinik war. Der Arzt verschrieb mir ein Antipsychotikum, auf das ich gut ansprach. Das Medikament verschaffte mir einen Schutzschirm, der mir aufgrund meiner Sensitivität fehlte.
Ich musste die Ausbildung schließlich abbrechen, weil es einfach nicht mehr ging. Auch mit dem Nebenjob, den ich zu dieser Zeit auf der Schanzenpost ausübte, bekam ich Probleme, weil ich nicht mehr so zuverlässig war wie früher. Aufgrund der starken Persönlichkeitsveränderung nahm ich nun erstmals psychologische Hilfe in Anspruch. Über mehrere Monate versuchte ich, das Problem zu ergründen, aber wie soll das gehen, wenn man seine familiären Wurzeln nicht kennt? Obwohl man mir immer wieder zu einer stationären Behandlung riet, beendete ich schließlich die ambulante Therapie und wählte das Leben selbst als Lern- und Therapiefeld. Wie sich zeigen wird, war das vermutlich die richtige Entscheidung.
Über einen privaten Berater fand ich schließlich eine Möglichkeit, doch noch eine Ausbildung zu machen. In knapp zwei Jahren ließ ich mich zum Programmierer ausbilden. Hier hatte ich das Glück, dass ich auf ein förderndes und wohlwollendes Umfeld stieß. Trotz mehrerer psychischer Krisen gelang mir der Anschluss an die Berufswelt und mein nicht gerade starkes Selbstvertrauen besserte sich. Ich schloss schließlich die Berufsmatura mit sehr guten Noten ab, wobei ich in Physik sogar Jahrgangsbester war.
Die erstmalige Einweisung in eine psychiatrische Klinik Ende 1996 markierte zugleich einen Wendepunkt in meinem Leben. Ich stabilisierte ich mich dauerhaft und es gelang mir sogar, meine Sensitivität – über die ich bisher immer wieder gestolpert war – im Beratungsgeschäft erfolgreich einzusetzen. Dass ich später mit ihrer Hilfe sogar einen Serienkiller überführen und viele Morde verhindern würde, war zu diesem Zeitpunkt natürlich noch außerhalb jeder Vorstellung.
Ich war 30 Jahre alt, als ich psychisch endlich stabil war. Eine lange Zeit. Ich bin mir sicher, hätte ich die Wahrheit über meine familiäre Herkunft gewusst, so wäre vieles einfacher gewesen und ich hätte besser gegensteuern können.
Wenn ich Kritik am Heim übe, dann deswegen, weil man mich über die schwere Belastung meiner Familie mit Schizophrenie nicht früher aufgeklärt hat. Spätestens mit Eintritt in die Volljährigkeit und Aufhebung der Vormundschaft hätte man mir alles sagen müssen. Aber ich vermute, dass selbst die Verantwortlichen das ganze Ausmaß nicht kannten. Das ist schon am Motiv für die Kindswegnahme ersichtlich. Ich bin meiner Mutter weggenommen worden, weil sie unverheiratet war, und nicht wegen ihrer Erkrankung, die sich zu diesem Zeitpunkt vermutlich noch gar nicht zeigte.
Die Selbstfindung war für mich ein schwieriger und steiniger Weg. Hätte man mir ein paar Dinge gesagt, so hätte mir das enorm geholfen und ich hätte mich nicht mühsam über Versuch und Irrtum an mich selbst herantasten müssen. Dies gilt umso mehr, als ich eine schwere Hypothek mit mir herumtrug, von der ich nichts wusste.
Kehren wir zum Anfang des Kapitels zurück. Als ich meine Mutter kennenlernte, hatte ich das Gefühl, in eine andere, mir fremde Welt einzutauchen. Nachdem ich nun gedanklich durch meine Kindheit gereist bin, habe ich die Sensitivität als den roten Faden entdeckt, der mich über die ganze Zeit mit meiner Mutter verband. Dass mein Leben nicht so tragisch verlief, wie bei meinen Brüdern, verdanke ich dem anderen Weg, den ich gegangen bin. Es war höchste Zeit, meine Mutter kennenzulernen, denn ich begriff danach sofort die vielen Probleme, die ich bis zu meinem 30. Lebensjahr hatte, aber es macht mich auch stolz darauf, dass ich das den Problemen zugrunde liegende Potenzial letztlich produktiv umzusetzen vermochte.
Dass mein Rückblick in die Kindheit insgesamt positiv ausfällt, hängt sicherlich damit zusammen, dass ich in ein Heim kam, in dem jemand die Mutterrolle übernahm und nicht nur einen Job ausführte, dass ich die gesamte Kindheit in diesem Heim verbrachte und dass mir das stützende Umfeld des Heims letztlich ermöglichte, meine sensitive Veranlagung positiv zu nutzen.
Abb. 1: Ich mit Schwester Heidi Huber ( Mammeli ), Sommer 1968
Abb. 2: Ich mit Schwester Heidi Bächler ( Mueti ), Weihnachten 1968
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