„Wonach schaust du eigentlich die ganze Zeit?“, fragte Freya.
„Nach Walen!“, erklärte Einar. Er streckte die Hand aus. „Sieh mal, dort! Da sind welche!“
Freya kniff die Augen zusammen. Ein paar Wasserfontänen spritzen in einiger Entfernung in die Höhe. Einar wusste, dass es Wale gab, denen ein Horn aus Elfenbein aus dem Kopf wuchs – länger als ein Schwert. Narwale hießen die. Wie schwimmende Einhörner sahen die aus und wurden gejagt, wann immer sie auftauchten. Elfenbein war nämlich sehr wertvoll.
Einige der Männer an Bord schauten ebenfalls zu den Walen. Einar hörte ihren Gesprächen zu. Die Meisten meinten erkennen zu können, dass es keine Narwale waren.
„Die dort sind viel größer als die Einhörner!“, meinte Orm Einauge, ein großer, kräftiger Mann, der alle anderen an Bord um mindestens eine halben Kopf überragte. Er trug eine Augenklappe, weil er im Kampf ein Auge verloren hatte. Er wandte sich an Sven Bleichhaar. „Wir sollten uns von diesen Meeresriesen fernhalten, sonst zerschmettern sie das Schiff mit einem Flossenschlag!“
Von den Walen hielten sich die drei Schiffe fern und schließlich war von den Meeresriesen nichts mehr zu sehen.
Die Wolken türmten sich zu dunklen Gebirgen auf und der Wind blies immer heftiger. Zwei Männer mussten jetzt das Steuerruder halten. Manchmal wehte eine plötzliche Böe so stark in das Segel, dass der Schiffsrand, an dem die Schilde der Krieger befestigt worden waren, nur noch eine Handbreit über der Wasseroberfläche war.
Ab und zu schwappte dann etwas Wasser herein. Die Rinder und Ziegen wurden dadurch sehr unruhig. Sie waren zwar festgebunden und fingen nun aber an, an den Seilen zu ziehen. Orm versuchte, die Tiere zu beruhigen.
Eine große Welle schlug über dem Drachenkopf zusammen. Einar und Freya waren vollkommen nass. Das Wasser troff von ihrer Kleidung. Dann drückte der Wind den Rand des Schiffes so tief, dass eine zweite Welle hineinschwappen konnte.
Das Schiff lag sehr schief. Männer, Frauen und Kinder hielten sich fest. Manche schrien. Die Welle riss selbst einem so kräftigen Mann wie dem einäugigen Orm die Beine weg. Er rutschte über den Boden und bekam schließlich eine Kiste zu fassen, die gut festgebunden war.
Auch Einar klammerte sich so fest er konnte. Er hatte große Angst. Zwar hatte er oft den Geschichten der Seefahrer am Lagerfeuer gelauscht und wusste daher, dass die Schiffe bei Sturm und hohen Wellen oder starkem Regen so voller Wasser liefen wie eine Viehtränke. Er hatte auch von den Wellen gehört, die höher als ein Haus waren. Aber das hatte trotzdem alles nicht so schlimm angehört. Schließlich waren die Erzähler ja wohlbehalten zurückgekehrt!
Doch jetzt begriff Einar, wie mächtig das Meer und der Sturm waren – und dass selbst die größten Schiffe dort wie Nussschalen wirkten.
Mit aller Kraft klammerte er sich fest. Egal, welche Götter uns jetzt auch helfen, ich werde ihnen dafür ewig danken!, dachte er. Salzwasser spritzte ihm ins Gesicht. Es war so kalt, dass er einen Moment nicht atmen konnte. Eigentlich wollte er schreien, aber es ging nicht. Seine Hände, mit denen er sich festhielt, spürte er kaum noch.
Dann gab es einen Knall, der sogar das Getöse des Sturms übertönte.
Ein Tau riss und mehrere Fässer mit Met lösten sich. Sie rollten auf die Seite, zu der sich das Schiff neigte. Dadurch lag die WELLENDRACHE noch schiefer im Wasser. Zwei Fässer gingen dann über Bord. Es war sinnlos, sie zurückholen zu wollen. Innerhalb weniger Augenblicke waren sie versunken. Einar sah sich das an und dachte: Genauso geht es wahrscheinlich jedem, der über Bord schleudert wird.
„Schöpfen!“, dröhnte der Befehl seines Vaters, der schreien musste, damit er gehört wurde. Sven Bleichhaar konnte sich kaum auf den Beinen halten. Er hatte einen der Schöpfeimer ergriffen. Sie waren – wie alles Wichtige – mit Tauen im Schiff befestigt.
Es war jetzt das Allerwichtigste, so schnell wie möglich, den Großteil des Wassers aus dem Schiff zu schöpfen. Der einäugige Orm kniete dabei im Wasser.
Und Sven Bleichhaar ging es genauso.
Doch dann kam eine weitere Welle. Sie schlug über dem vorderen Teil des Drachenschiffs zusammen. Für einige Augenblicke konnte Einar nichts sehen oder hören. Dann bemerkte er, dass das Bündel mit seinen Sachen nicht mehr da war. Es war einfach weggespült worden. Für einen Moment sah Einar es noch - zusammen mit einigen anderen über Bord gegangenen Sachen – im Wasser schwimmen, dann verschwand es hinter einem Wellenberg.
Das einzige, was er jetzt noch besaß war das, was er am Leib trug – und die Axt, die Großvater Björn ihm geschenkt hatte.
Das Wasser stand jetzt so hoch im Schiff, das es selbst vorne noch knietief stand. Freya schrie, aber es hörte sie niemand in dem Getöse.
Die beiden Zwillinge saßen im eiskalten Wasser.
Währenddessen versuchten die Männer verzweifelt, das Wasser schnell genug aus dem Schiff zu schöpfen, bevor die nächste große Welle kam.
Denn das war vielleicht die Letzte…
Wenn noch mehr Wasser ins Schiff kam, würde es sinken.
Ich muss mithelfen!, dachte Einar. Jeder volle Wassereimer, der herausgeschöpft wurde, konnte das Schiff vielleicht retten. Also ließ Einar die Reling los. Er hing jetzt noch an dem Tau, dass er sich um die Brust geschlungen hatte und rutschte gleich ein Stück. Das Tau zog sich stramm.
„Einar! Was tust du denn da?“, rief Freya, die sich noch immer festklammerte.
Einar konnte nun ein Tau erreichen, an dem ein Holzeimer hing. Der Eimer war über Bord gegangen und schwamm jetzt im Wasser. Einer zog ihn hoch. Beim ersten Mal schaffte er es nicht. Eine Welle hob das Schiff vorne erst an und ließ es anschließend tief fallen. Einar hatte einen Augenblick lang das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren und zu schweben. Dann verlor er das Gleichgewicht. Das Wasser stand im Schiff schon so hoch, dass er vollständig untertauchte. Als er sich wieder aufrappelte, versuchte er es noch einmal und zog den Eimer ins Schiff hinein. Das war ziemlich schwierig, denn der Eimer war halb mit Wasser gefüllt, das Einar zuerst ausgießen musste.
Dann konnte er endlich anfangen, Wasser zu schöpfen.
Eine Ziege hatte sich losgerissen und lief nun meckernd durch das Schiff, wobei ihr das Wasser bis zum Hals stand.
Der einäugige Orm fing sie ein und band sie wieder fest.
Unermüdlich wurde mit allem Wasser geschöpft, was sich dazu verwenden ließ. Manche an Bord versuchten es mit bloßen Händen.
Einar hielt einmal kurz nach den anderen Schiffen Ausschau. Aber es war nirgends noch etwas von ihnen zu sehen.
Vielleicht lagen sie längst auf dem Grund des Meeres.
„Ihr Götter! Verschont uns!“, rief Sven Bleichhaar – und tatsächlich schienen die Götter gnädig zu sein. Es kam zunächst einmal keine Welle mehr, die so hoch war, dass sie ins Schiff schwappte. Nur etwas Gischt spritzte herein.
So sank das Wasser im Schiff.
Schließlich gab es nur noch einige Pfützen in der Mitte, die immer dann, wenn die WELLENDRACHE über eine Welle stieg einmal durch das gesamte Schiff wanderte.
Einar zog sich an dem Tau, mit dem er sich festgebunden hatte wieder nach vorn und setzte sich zurück in die Spitze.
„Ich hoffe nur, dass der Sturm bald aufhört!“, rief Freya.
Einar nickte nur. „Ich auch“, keuchte er. Er blickte hinauf zum Mast, der schon bedenklich ächzte. Wenn er brach, waren sie verloren…
„Die anderen Schiffe sind weg!“, rief Freya.
„Ich weiß“, murmelte er und dachte: Gut möglich, dass unser Schiff jetzt ganz allein auf dem Meer ist…
Die Schiffe der Wikinger
Die Wikinger konnten mit ihren Schiffen auf dem Meer fahren und gegen den Wind kreuzen. So waren sie nicht darauf angewiesen, dass der Wind immer von hinten kommen musste und segelten auch mitten über das Meer, während alle anderen Seefahrer bis dahin immer an der Küste entlang fuhren…
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