Hastig brachten die Soldaten die letzte Tafel in die Höhle. Im Ascheregen, der nach jeder Explosion dichter wurde, erkannte der Anführer die Prophezeiung, die in die Tafel geritzt war. Direkt darunter stand sein Name: Andrion. Er war kürzlich zur Sicherheit am Ende der Tafel hinzugefügt worden. Welch eine Ironie …, dachte er. Die Prophezeiung hat mich hergeführt, und nun begleitet sie mich bei meinem Abschied.
Ilias, der Besitzer des Hauses, war ausgesprochen freundlich zu den beiden.
„Ich lasse euch nicht gehen, bevor ihr nicht etwas gegessen habt. Sonst schiebe ich einfach einen Riegel vor die Kellertür und das war’s dann“, sagte er im Scherz.
Der Professor nahm Platz und steckte sich einen der kleinen traditionellen Kuchen von Santorin in den Mund. Sein Blick wanderte über die weißen Wohnzimmerwände, an denen Rahmen mit vergilbten Schwarz-Weiß-Fotos der Familie hingen.
„Die nennen sich Meletinia “, erklärte ihnen Ilias. „Eigentlich ist es ein Ostergebäck, aber wir machen es das ganze Jahr über.“
„Nicht schlecht!“, sagte Alexandros und streckte seine Hand nach einem zweiten Stück aus.
Er konnte Vanille oder Mastix herausschmecken und wollte gern genauer überprüfen, ob er wohl mit seinen gastronomischen Vermutungen recht hatte. Das Gebäck vor ihm bot eine willkommene Ablenkung, um seine Ungeduld in den Griff zu bekommen. Dazu gab es den süßen lokalen Rotwein, bekannt als Vinsanto. Vom Hausherrn selbst hergestellt und in seinem Keller gelagert, dort, wo sie nun gleich hinuntersteigen sollten.
„ Vin-santo, das heißt Vino di Santorini , also Wein aus Santorin“, übersetzte der Professor mit erhobenem Glas und nahm zwei Schlucke.
Als sie wenig später die Treppenstufen hinabstiegen, berichtete ihnen Ilias voller Stolz in Kurzform von der Tradition seiner Familie, einer der bekanntesten der Insel auf dem Gebiet des Weinbaus und der Weinherstellung. Die Holzfässer standen rechts und links in zwei Reihen und füllten fast den ganzen Keller aus. Dazwischen ließen sie nur einen schmalen Korridor frei. Das Duftgemisch aus Most und Holz verbreitete sich im ganzen Raum. Direkt gegenüber, am Ende des Kellers, gab es eine verrostete Eisentür. Mit seinem Gesicht berührte Alexandros fast den Rücken des Professors. Wenn der ohne Vorwarnung stehen bliebe, würden sie zusammenstoßen. Doch Nikodimos blieb keineswegs stehen.
„Vielen Dank, Ilias, von hier aus kenne ich den Weg.“ Der Professor hatte es eilig, diesen lästigen Einheimischen loszuwerden. Er wollte seine Entdeckung endlich mit jemandem teilen, der ihre Bedeutung einschätzen konnte. Er holte einen langen Metallschlüssel aus seiner Tasche und ging zur Tür.
„Braucht ihr ganz sicher keine Hilfe dort drinnen?“ An Ilias’ Gesicht konnte man die Enttäuschung ablesen. Die wenigen spärlichen Haare, die bis jetzt an seinem kahlen Kopf klebten, stellten sich widerspenstig auf. Er hatte gehofft, dass die Anwesenheit des neuen Mitarbeiters auch für ihn ein gewisses Mehr an Information über die Arbeit des Professors mit sich bringen würde.
„Ganz sicher nicht!“
Ton und Lautstärke, mit denen der Professor antwortete, ließen keinen Zweifel an seinen Worten. Der Störenfried unter ihnen machte grummelnd eine Kehrtwende und zog sich verstimmt zurück.
„Das hier soll mal ein Abstellraum werden. Ilias hat kürzlich damit begonnen, seinen Keller auszubauen. Der Untergrund auf der Insel ist so beschaffen, dass die Leute hier gern ihre Kellerräume vergrößern, indem sie den leicht zu bearbeitenden Bimsstein aushöhlen.“ Die Stimme des Professors hatte den gewohnten dozierenden Ton angenommen, während er die behelfsmäßige Tür aufschloss.
Alexandros schlug das Herz bis zum Hals. Seine Sinne waren bis zum Äußersten überreizt.
„Und siehe, es ward Licht!“, rief der Professor aus und betätigte gleichzeitig den Schalter zu seiner Rechten.
Eine nackte Glühbirne, die in der Mitte von der Decke hing, verdrängte das dichte Dunkel der Kammer. Alexandros’ Blick streifte rasch durch den Raum. Rechts von sich erkannte er sofort die archäologischen Spezialwerkzeuge für Ausgrabungen. Besonders fielen ihm ein kleiner Spaten und eine Hacke auf. Daneben lagen ein Spachtel und ein Handfeger sowie Pinsel in verschiedenen Größen. Links gab es ein paar elektronische Geräte, einen Laptop und einen digitalen Fotoapparat. Die Wand ihm gegenüber war ausgehöhlt. Auf einem Erdhaufen auf dem Boden lag eine rechteckige Tafel mit eingeritzten Zeichen. In der Wandöffnung war im schwachen Licht eine weitere ähnliche Tafel zu erkennen, die bis zur Hälfte mit einer dicken Schicht Erde bedeckt war.
„Ist das denn die Möglichkeit?!“ Der junge Archäologe wollte seinen Augen nicht trauen. Er rückte seine Brille zurecht. Verwirrt blickte er sich um, unfähig zu begreifen, was er da sah. Es war etwas, worauf er trotz seiner reichen Erfahrung nicht vorbereitet war. Μit religiöser Andacht kniete er vor der schräg liegenden Tafel nieder und begann, sie eingehend zu mustern, ohne sie dabei zu berühren. „Das ist wahrscheinlich Linear A, aber nicht nur ... da sind auch ... aber ist das denn die Möglichkeit?“ Seine Stimme zitterte, während er versuchte zu begreifen, was er da vor sich hatte.
„Ja, mein lieber Freund! Es sind Tontafeln, in die mit einem spitzen Werkzeug Schriften in den feuchten Ton eingeritzt wurden, und die danach in der Sonne trockneten“, der Professor lieferte die Antwort auf die Frage, die sein Schüler noch nicht zu stellen gewagt hatte, und fuhr mit der Erläuterung fort: „Linear A im oberen Teil der Tafel und direkt darunter eine Form von ägyptischen Hieroglyphen.“
„Haben Sie schon etwas entziffert? Gibt es schon Ergebnisse? Lässt sich der Text lesen?“ Alexandros’ Fragen prasselten wie Regen auf den Professor nieder.
„Wenn du nicht so aufgeregt wärst, hättest du es normalerweise bemerkt“, stellte Nikodimos fest, der seine Eigenschaft als gestrenger Lehrer nicht einfach abstreifen konnte. „Die Geschichte der ersten Funde mit ägyptischer Schrift beginnt 2600 v. Chr. Das hier sind Hieroglyphen der mittelägyptischen Sprache. Die gängige Schriftsprache des Mittleren Reichs im Zeitraum von 2050 bis 1450 v. Chr., die für Monumente, Inschriften, religiöse und literarische Zwecke benutzt wurde.“
„Können wir sie übersetzen?“ Eine Frage jagte die andere.
„Zu unserem großen Glück befindet sich einer der Besten seines Fachs gerade hier auf der Insel. Mein guter alter Freund Howard, Leiter des Fachbereichs für Archäologie und Anthropologie an der Universität Bristol. Wir sind heute noch mit ihm verabredet, um über die Resultate zu sprechen, die die Entzifferung der ersten Tafel ergeben haben.“
„Hier am Ende, hinter dem Hieroglyphentext, gibt es noch etwas ... noch ein Wort ... in Linear A ...“ Alexandros brachte die letzten Worte nur stockend und mit Mühe hervor. Die staubbedeckte Platte befand sich wenige Zentimeter vor ihm. Dieser antike Gegenstand schien etwas auszudünsten, das ihm in die Poren drang. Zur großen Überraschung des Professors tat er etwas, was ein absolutes Unding war: Er verletzte die erste Grundregel, an die sich selbst noch der unkundigste oder unerfahrenste Archäologe hielt. Wie hypnotisiert berührte er mit sanften Fingerspitzen das letzte Wort, das in die Platte eingeritzt war.
Plötzlich löste sich die Zeit auf. Sein Blick trübte sich, der Raum begann sich zu drehen. Es wurde warm und stickig, und er fühlte, wie er den Boden unter den Füßen verlor. Sein Körper hielt es nicht länger aus. Das Bild schien von irgendwo anders herzukommen, aus einer Schattenwelt, die keinen Bezug zur Wirklichkeit hatte. Gestalten und Gegenstände, die Natur selbst, ruhten dort in ewiger, nebulöser Starre, außerhalb von Raum und Zeit. Verworrene Bilder eines Mannes mit hartem, entschlossenem Gesicht auf einem Pferd. Lärm, Explosionen, Rauch ...
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