„Wenn du Zeit hast, kannst du auch gleich mitkommen“, schlage ich vor. „Es ist noch früh, wir können Mittag essen gehen. Bei der Gelegenheit zeige ich dir gern die Stadt, zumindest die Stellen, die ich ins Herz geschlossen habe.“ Vince nickt, imitiert den Gruß eines Soldaten.
„Sie gehen voraus, Ma’am.“ Lachend hake ich mich bei Vince unter, führe ihn den Weg zu meinem Apartment. Obwohl meine Eltern es ablehnten, dass ich in einem Studentenaus wohne, habe ich mich durchgesetzt. Einmal wollte ich nicht nur das reiche Mädchen sein, sondern einfach Kasia. Nur eines ließen sie sich nicht nehmen – für die Zeit nach dem Studium haben sie mir bereits eine Wohnung gekauft. Wer weiß, ob ich je dort einziehen werde.
„Wollen wir uns nicht doch lieber ein Taxi nehmen?“, quengelt Vince bereits nach wenigen Minuten. Dabei ist der Ausblick auf die Bucht fast den gesamten Heimweg einfach wunderschön.
„Kommt ja gar nicht in Frage“, antworte ich schmunzelnd. „Ich weiß zufällig, dass du immer recht sportlich gewesen bist.“
„Gewesen?“ Fragend schaut Vince mich an, bleibt stehen, greift nach meiner Hand. „Ich bin immer noch sportlich.“
„Mag sein, aber es geht dir nicht gut, das sehe ich. Du bist schlanker als früher, deine Augen erzählen, wie viel Arbeit du in letzter Zeit haben musst.“ Vince lacht überrascht laut auf und nickt nur. „Na dann halt die Klappe und komm.“
Es ist so einfach mit Vince. Vom ersten Augenblick an konnten wir locker und unbefangen miteinander umgehen. Es gab nie merkwürdige Momente zwischen uns. Nicht mal, nachdem wir das erste Mal miteinander geschlafen haben. Allein der Gedanke, wie er mich damals immer packte, macht mich ganz wuschig. Seine starken Arme, die mich sanft halten, seine Hände, wie sie über meinen ganzen Körper wandern. Und dann sein Mund – oh dieser Mund, der so viel in mir anrichten konnte.
Mit heißen Wangen schüttle ich den Kopf, um wieder zurück auf den Gehweg zu kommen. Die Zeiten von Vince und Kasia sind vorbei. Sicher hat er schon längst wieder eine Freundin.
„Warum Lady Liberty?“, frage ich schließlich nur um mich von seinem Körper und seiner Nähe abzulenken.
„Du hast es gesehen“, stellt er trocken fest. „Es ist so klein gestochen, dass es bisher kaum jemanden aufgefallen ist.“
„Mir sofort. Du hast nicht viele vollschwarze Tattoos. Und hinter dem linken Ohr hattest du bisher gar keins. Man muss schon schlecht gucken können, wenn man es nicht sieht.“ Wieder nickt Vince nur. Eine Macke, die mich schon oft der Verzweiflung nah gebracht hat. Mein Freund ist nicht unbedingt für seine großen Rede bekannt. Allerdings kann man sich immer auf ihn verlassen, egal in welcher Lage.
„Wie dem auch sei“, fährt er fort. „Du kennst die Geschichte der Statur?“ Zu meinem Bedauern muss ich den Kopf schütteln. Da habe ich mehr als mein halbes Leben in New York gelebt und kenne die Geschichte des wohl berühmtesten Wahrzeichens des Landes nicht. Auf den zahlreichen Schulausflügen nach Liberty Island habe ich auch nicht wirklich zugehört. „Lady Liberty stellt die römische Göttin Libertas dar. In der Mythologie ist sie die personifizierte Freiheit. Es ist so viel passiert in den letzten Monaten, dass ich gern freier wäre. Ich musste es mir stechen lassen, um mich immer wieder anzumahnen, auch an mich zu denken. Eigentlich sollten sich alle aus meinem Umfeld daran erinnern, wenn sie es sehen. Nur leider ist so viel los, da vergessen sie es. Alle miteinander. Ihnen ist nicht klar, was sie sich gegenseitig eigentlich antun. Freiheit bedeutet doch auch Ehrlichkeit, nur leider ist das auch nur noch eine Phrase. Zumindest zurzeit.“
Verständnislos glotze ich Vince regelrecht an. Was ist passiert in New York? Was habe ich verpasst? Vince seufzt schwer auf. „Sag mir bitte nicht, dass Hayls dich nicht über alles auf dem Laufenden hält.“
„Worüber?“, frage ich heftiger als beabsichtigt. „Was hätte sie mir deiner Meinung nach denn sagen sollen? Ich habe ehrlich gesagt nicht nach dem neusten Stand gefragt, weil ich selbst genug um die Ohren habe.“ Ich bin wirklich eine schreckliche Freundin, wird mir in diesem Moment bewusst. Ich habe Hayley nicht ein einziges Mal gefragt, was bei ihr so los ist.
„Ich kann nicht fassen, dass sie es dir nicht erzählt hat“, blubbert Vince vor sich hin, ehe er mich wieder ansieht. „Lass uns zu dir nach Hause gehen. Ich will nicht auf der Straße mit dir darüber sprechen.“
Zehn Minuten später betreten wir meine Wohnung. Obwohl ich fast vor Neugierde platze, entschuldige ich mich kurz, damit ich aus den engen Sportklamotten rauskomme. Einen Augenblick gönne ich mir Ruhe, setze mich auf mein Bett und schreibe Hayley eine Nachricht.
Rate, wen ich vorhin beim Joggen getroffen habe. Kleiner Tipp: Du kennst ihn.Ich füge eine Zwinker-Emoji an. Kaum habe ich die Nachricht abgeschickt, sehe ich, dass sie online ist und eine Nachricht tippt. Hab mich schon gefragt, wann diese Nachricht kommt. Liebe Grüße an Vince!
Ich lese die Nachricht zweimal, dreimal und ein viertes Mal, doch irgendetwas stört mich an ihren Worten. Wusste sie, dass Vince in San Francisco ist? Vergessen ist die Dusche, die ich nach dem Lauf eigentlich nötig hätte. Wer weiß noch, dass er hier ist? Verwirrt verlasse ich mein Schlafzimmer, gehe zu Vince ins Wohnzimmer. Aus der Küche höre ich die Kaffeemaschine blubbern, offensichtlich hat er uns eine Kanne aufgesetzt.
„Wusste Hayley, dass du nach San Francisco kommen würdest?“, frage ich geradeheraus. Er steht an meinem Fenster, blickt auf die Stadt, doch ich erkenne, dass seine Haltung sich verändert. Nur minimal, für eine fremde Person vermutlich nicht zu erkennen. Aber ich kenne ihn so gut, weiß, wie seine Muskeln arbeiten, wenn er eine bestimmte Bewegung macht. Ich weiß, wie sich sein Körper anfühlt, wenn er erregt, sauer oder zufrieden ist. Langsam dreht er sich zu mir um. Hatte ich gerade noch gehofft, dass mein stummer Vorwurf Einbildung ist, erkenne ich die Wahrheit in seinem Blick. In seinen Augen liegt ein Glanz, der teils entschuldigend wirkt, aber vor allem lese ich Mitleid in ihnen.
„Wusstest du, dass ich diese Strecke üblicherweise laufe?“
Vince sagt noch immer kein Wort, dreht sich weiter zu mir, macht ein paar Schritte in meine Richtung.
„“Bleib stehen“, flehe ich leise. „Bist du meinetwegen hierhergekommen?“ Ein tiefer Schluchzer lässt mich erbeben, Tränen finden ihren Weg aus meinen Augen, ich kann sie nicht daran hindern. Auch ohne eine Antwort seinerseits erkenne ich die Wahrheit.
„Sag mir bitte, dass du nicht dort auf mich gewartet hast. Hat Hayley dir gesagt, wo du mich wahrscheinlich antreffen wirst?“ Sein Blick wirkt plötzlich hilflos. „Verdammt Vince, sag endlich irgendwas!“ Kurz zuckt er zusammen, in ihm scheint es zu arbeiten.
„Ich musste dich einfach sehen“, flüstert er, was mich vollends aus der bahn zu werfen scheint. „Ich … Hayley hat mir geholfen, ja. Aber nicht gern, das kann ich dir sagen. Kasia, du bist einfach verschwunden, hast dich nicht von mir verabschiedet. Du warst einfach weg.“
„Geh“, flüstere ich, doch mein Freund rührt sich nicht vom Fleck. „Verdammt, Vince! Geh einfach!“
Noch immer nichts, als würde es ihn nicht interessieren, was ich sage.
„Kasia, Süße, ich werde nicht gehen. Nicht jetzt“, sagt er ruhig, kommt auf mich zu und schließt mich in seine Arme. Ich versuche ihn von mir zu schieben, doch er ignoriert mich. Im Gegenteil, sein Griff verstärkt sich noch. Die Tränen, die bisher stumm meine Wangen hinuntergeflossen sind, verwandeln sich in bitterliches Weinen. Vince hält mich fest, lässt mich weinen, dann toben und schreien, bis ich schließlich aufgebe und wir gemeinsam zu Boden sinken.
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