Es gelang meiner Mutter und den Männern, die gesuchten Kostbarkeiten sicherzustellen. Sie mussten die Lager nicht aufbrechen, denn sie waren schon offen. Vor ihnen hatten schon einige Rotarmisten die Schlösser abgerissen und untersucht, was die Keller enthielten. Die Soldaten lagerten im Umkreis des Ladens und leerten die Flaschen, die sie gefunden hatten. Die Gewehre hatten sie in die Gebüsche rundum geworfen. Das berichtete meine Mutter ganz aufgeregt meinem Vater, nachdem sie von ihrer Aktion zurückgekehrt war. Mein Vater meinte, dass die Armisten sträflich leichtsinnig wären, aber sie hätten schließlich Grund, den 1. Mai zu feiern. Das muss einen Tag vor der Kapitulation Berlins gewesen sein, die am 2. Mai erfolgte. Noch heute habe ich keine rechte Erklärung dafür, warum meine Mutter, noch dazu als einzige Frau, an dieser Aktion beteiligt war und nicht mein Vater. Es passte eigentlich wenig zu der unter ihnen üblichen Arbeitsteilung, bei der mein Vater immer auf den größeren historischen Schauplätzen arbeitete, während meine Mutter in der Küche oder im Garten beschäftigt blieb. Feigheit aufseiten meines Vaters möchte ich ausschließen, eher könnten Vorstellungen von Besitz und dessen Übernahme in die Hände des Volkes eine Rolle gespielt haben. So wird er vielleicht einfach nur anders beschäftigt gewesen sein, wenn er nicht überhaupt der Meinung war, am l. Mai 1945, dass es noch zu früh war zum Handeln.
Zu den Eindrücken der ersten Monate nach dem Krieg gehört für mich, dass wir in dieser Zeit ein sehr offenes Haus hatten. Bei uns gingen viele Leute, vor allem Frauen aus und ein, verbrachten ganze Tage bei uns. Leute, mit denen wir vorher kaum oder wenig zu tun gehabt hatten. Das gefiel mir, es war ein sich nicht wiederholender Frühling und Sommer mit langen Abenden. Es gab keinen Strom, aber es störte kaum. Erst viel später habe ich begriffen, dass diese Frauen bei meinem Vater Schutz suchten. Denn nach den ersten kurzen Berührungen mit der kämpfenden Truppe der Roten Armee war nun der Nachschub gekommen, der sich auf länger einzurichten begann. Unweit der Kommandantur in der Baumschule bei Späth schlugen sie in der Königsheide ein großes Zeltlager auf. Aus den umliegenden Siedlungen und Kleingartenanlagen holten sie Decken, Hausrat, Kochtöpfe, Geschirr usw. Natürlich war die Eigenheimsiedlung in Späthsfelde davon mehr betroffen, weil es dort einfach mehr zu holen gab, als aus den Laubenkolonien. Aber sie kamen auch zu uns. Andere kamen und suchten Frauen. "Vergewaltigen" war ein Wort, das in aller Munde war. Obwohl ich und auch meine Spielgefährten nicht so genau wussten, was damit gemeint war, spielten wir ”vergewaltigen". Wenn ich mich recht erinnere, funktionierte es als eine Abwandlung des Greifspiels vom Räuber und Gendarm.
Mein Vater mit seinen stümperhaften russischen Sprachkenntnissen konnte die Soldaten ansprechen. Dieses Überraschungsmoment reichte meist, um sie von ihren Vorhaben abzubringen. Er versuchte mit ihnen über Hitler und über Stalin zu reden, was sich in Kurzformeln niederschlug. Er verwickelte sie jedenfalls in anderes, als sie vorhatten. Einige ließen sich in unserer Wohnküche nieder, es entwickelte sich ein Kontakt. Meine Mutter kochte immerfort Pfefferminztee, den wir im Garten hatten. Sie radebrechten mit meinem Vater und lachten mit den Frauen. Schwierig wurde es, wenn sie angetrunken kamen. Dann trat mein Vater ihnen ebenfalls mit Zivilcourage entgegen, drohte mit Stalins Autorität, der von ihrem Verhalten nichts wissen durfte, und mit dem Kommandanten. Bis sie unverrichteter Dinge abzogen, spürte ich die lähmende Angst, die sich dann über alle ausbreitete. Man wagte kaum zu atmen, bis sie endlich fort waren. Wie das in den anderen Lauben zuging, weiß ich nicht. Aber ich nehme an, durch die offenen Türen von unserer Behausung wurden viele magisch angezogen. Vielleicht wegen ihrer Lage, nahe dem Spielplatz, im Zentrum unserer Gartenkolonie.
An einige merkwürdige Ereignisse und Gesichter aus dieser Zeit kann ich mich erinnern. An einen ukrainischen Soldaten, einen schwarzhaarigen schönen Mann, der mit wild um sich blickenden Augen und gezogener Maschinenpistole hineinstürmte und nach Nazis verlangte, die er erschießen wollte. Es gelang meinem Vater, ihn zu beruhigen. Nachdem er ihm russisch zu verstehen gegeben hatte, hier gebe es keine Nazis, antwortete der auf Deutsch, dass er bisher nur Nichtnazis angetroffen habe in Deutschland. Er suche die, die für den Tod seiner ganzen Familie verantwortlich waren. Bruchstückhaft bekamen wir mit, dass er Jude war, dass Eltern und Geschwister tot, Haus und Heimat zerstört waren. Dass er allein sei, ganz allein, wie er wiederholte, um die Seinigen zu rächen. Er kam mehrmals. Bei ihm hatte mein Vater Glück. Er konnte ihn für seine geretteten Schallplatten und Bücher interessieren. Wir hatten damals ein Grammophon, das mit seinem Trichter in einen Schrank eingebaut worden war und an der Seite aufgezogen werden musste. Dieses Grammophon gehörte mit wenigen Schallplatten zu den wichtigsten kulturellen Bildungselementen meiner Kindheit. Stolz zeigte mein Vater dem Soldaten einige Liederplatten von Ernst Busch, die er mit dem Etikett von Straußwalzern beklebt und so über die zwölf Jahre gerettet hatte.
Auf der einen Seite sang Ernst Busch das "Lied der Arbeitslosen", das aber keinen besonderen Eindruck auf die jungen Soldaten machte. Ich habe mir den Text dagegen immer sehr genau angehört, weil ich hier einen Zusammenhang zu den Erzählungen meines Vaters über seine Arbeitslosenzeit fand.
"Keenen Sechser in der Tasche, bloß´n Stempelschein
durch die Löcher der Kleedaasche kiekt die Sonne rein
Mensch so stehste vor der Umwelt, jänzlich ohne was
Wenn dein Leichnam plötzlich umfällt, wird keen Ooge naß".
Auf der anderen Seite sang Ernst Busch das "Lied der Bergarbeiter". Die getragene Melodie stand im Kontrast zum unsentimentalen Berliner Jargon des Textes. Mein Vater fand bei den meisten Soldaten kein Interesse für seine Platten. Einigen legte er die "Internationale" auf. Die schüttelten die Köpfe, machten Tanzbewegungen und lachten. Der Ukrainer hörte zu, die Lieder schienen ihm etwas zu bedeuten. Einer soll nach Jazz gefragt haben, erzählte mein Vater später. Ich habe das nicht gehört und kann es nicht bezeugen. Ich bin mir auch nicht sicher, ob es stimmt, denn mein Vater neigte dazu, alle diese Dinge anekdotisch auszuschmücken.
Meinem Vater gelang es, bis zum Kommandanten vorzudringen, der in der Villa der Späthschen Baumschule residierte. Er brachte Beschwerden der Einwohner gegen die Plünderungen und Vergewaltigungen vor und erreichte, dass ein sowjetischer Offizier zu uns kam und auf dem Vereins- und Spielplatz zu den Bewohnern der umliegenden Laubenkolonien sprach. Er kam mit einem Dolmetscher, der den Leuten sagte, dass die Rote Armee nicht gekommen sei, um sich zu rächen. Das, was geschehen war, bezeichnete er als Übergriffe, die es auch in ihren Reihen gäbe. Sie würden unnachsichtig bestraft werden, versprach er. Ich kann mich an diese Situation genau erinnern, weil ich ihr mein erstes Fahrrad zu danken habe. Noch während der Offizier sprach, kam ein Soldat den Laubenweg entlang geradelt, der auf den Spielplatz zuführte. Er übte freihändig fahren, fasste aber schnell nach dem Lenker, als er den Offizier inmitten des Menschenauflaufs erblickte. Der ließ ihn stoppen und führte einen kurzen, schnellen Wortwechsel mit ihm. Dann gab er ihn in die Obacht eines anderen Soldaten. Der führte ihn an die Pappwand unseres Vereinshauses und ließ ihn dort mit erhobenen Händen und zur Wand gedrehtem Gesicht bis zum Ende der Rede stehen. Als der Offizier mit seiner Rede geendet hatte, wandte er sich an meinen Vater und übergab ihm das Fahrrad. Vom Dolmetscher erfuhr mein Vater, dass es bei uns sichergestellt werden sollte und in Kürze abgeholt werden würde. Dann zog die kleine Kolonne ab, der Radfahrer bildete mit dem Wachsoldaten das Schlusslicht. Ich schaute ihm nach und bedrängte meine Eltern mit der Frage, was aus ihm würde. Sie konnten mir keine Antwort geben, aber ihren Andeutungen konnte ich entnehmen, dass er nichts Gutes zu gewärtigen hatte. Er tat mir leid, weil er mir einen so fröhlichen Eindruck gemacht hatte, als er, die Arme ausgebreitet, angefahren kam. Es war allerdings nur ein ganz flüchtiges Empfinden, das von Neugierde über sein weiteres Schicksal überdeckt war. Aber vor allem freute ich mich darüber, dass wir wieder ein Fahrrad hatten. Denn mein Vater hatte sein Fahrrad auf ganz ähnliche Weise verloren, und das Rad meiner Mutter stand ohne Bereifung im Schuppen. Als es noch fahrtüchtig war, hatte ich darauf mehrmals geübt, obwohl es ein Herrenrad war und ich die Pedalen nur erreichte, wenn ich das Bein unter die Vorderstange hindurchschob. Das ergab dann das sogenannte Pfeffermalen, wie sich mein Vater ausdrückte. Es muss sehr komisch ausgesehen haben. Natürlich brannte ich darauf, meine Fahrkünste zu vervollkommnen. Aber trotz intensiven Bettelns und Bittens durfte ich das Fahrrad nicht anrühren. Es stand in unserem Schuppen neben dem kaputten Rad, und ich schaute es sehnsüchtig an. "Es gehört uns nicht. Es ist hier nur sichergestellt und wird abgeholt”, war die wiederkehrende Auskunft meines Vaters auf all mein Drängen und Bitten. Meine Mutter zuckte nur die Achseln und bekräftigte: "Hörst doch, hör' auf zu drängeln." So blieb es lange.
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