Jamal hörte wie sich ihm Schritte näherten.
„Rae, warte!“, ertönte eine zweite Stimme. „Was, wenn das irgendein Verrückter ist.“
Die Frau, die als erstes gesprochen hatte, – Rae – schnaubte. „Du siehst bloß zu viele Filme. Vielleicht ist er ja verletzt.“ Wieder näherte sie sich ihm.
„Komm, wir rufen einfach die Polizei!“, sagte die zweite Stimme, die blieb wo sie war.
„Nein, lasst mich nachsehen, vielleicht schläft er ja bloß.“
Bei genauerem Hinhören, bemerkte Jamal, dass außer Rae und der anderen Frau noch mehr Personen vor dem Lokal standen und miteinander tuschelten. Vielleicht mehr Freundinnen von Rae?
Rae kam ihm immer näher, bis sie direkt neben ihm stand. Jamal ließ die Augen geschlossen. Als sie das nächste Mal sprach, war ihre Stimme sehr nah, anscheinend hatte sie sich hingekauert.
„Hey, Sie. Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“
Jamal öffnete die Augen und sah sie an. Braune, mit einigen bunten Strähnchen durchzogene, Locken umrahmten ihr ihr schmales Gesicht, sie hatte grün-graue Augen, eine kleine Stupsnase und volle – für ihr schmales Gesicht fast zu volle Lippen. Jamal holte tief Luft und wollte ihr antworten, doch beim Einatmen durchzuckte ihn ein starker Schmerz. Er hatte sich zuvor so sehr auf sein Bein konzentriert, dass ihm die anderen Verletzungen gar nicht aufgefallen waren. Doch jetzt stürmte der Schmerz auf ihn ein, dass er für einen kurzen Moment fast das Bewusstsein verlor. Zwei gebrochene Rippen, ein Knochensplitter steckte in seinem rechten Lungenflügel – daher die Schmerzen beim Atmen -, ein gebrochenes Schlüsselbein, eine ausgekugelte Schulter und natürlich das Bein. Die meisten Verletzungen würden schnell verheilt sein, aber trotzdem schmerzte es wie die Hölle.
Rae schien zu merken, dass er kurz wegsackte, denn sie machte ein erschrockenes Geräusch und stammelte: „I-ich rufe einen Krankenwagen.“
Aus den Augenwinkeln sah Jamal wie sie in ihrer Handtasche nach einem Handy suchte. „Nein!“, presste er hervor, „keinen… Arzt.“
Die Schmerzen waren fast unerträglich, wenn er sprach, doch er konnte nicht riskieren, dass sie einen Krankenwagen rief. Die Ärzte würden merken, dass mit ihm etwas nicht stimmte und in seiner momentanen Verfassung, wäre er nicht in der Lage zu gehen, bevor die Sanitäter ankommen würden.
„Aber… Sie sind schwer verletzt“, sagte sie verwirrt, hörte jedoch auf, nach ihrem Handy zu suchen.
„Kein Arzt… ver…sprechen Sie’s.“
Rae runzelte die Stirn und biss sich auf die Unterlippe. Sie hob die Hand doch bevor sie ihn berührte zuckte er zurück – was er besser nicht getan hätte, denn sofort stöhnte er vor Schmerzen auf. Etwas erschrocken über seine Reaktion zog Rae ihre Hand zurück.
„Versprechen!“, knurrte Jamal. Er war sich nicht sicher, ob es verständlich gewesen war, aber er hatte zu große Schmerzen, als dass er deutlich sprechen könnte.
„Sind Sie sich wirklich sicher?“, fragte sie mit sanfter Stimme nach.
„Ja, verdammte Scheiße!“, fluchte er, um einen erneuten Schmerzenslaut zu unterdrücken.
Sie atmete einige Male tief durch. „In Ordnung“, sagte sie schließlich. Jamal seufzte erleichtert auf. „Kann ich Ihnen etwas bringen?“, fragte sie sanft.
„Wasser“, keuchte er. „Bitte.“
„J-Ja natürlich. Ich bin gleich wieder da.“ Sie stand auf und lief mit hastigen Schritten in Richtung des Lokals. Er hörte wie sie kurz mit ihren Freundinnen sprach, sie erklärte ihnen kurz die Situation. Wenige Minuten später war sie wieder bei ihm.
„Ich habe eine Flasche Wasser. Können Sie den Kopf heben?“
Jamal versuchte sich ein wenig aufzurichten, doch die ausgerenkte Schulter und die Rippen machten es ihm unmöglich – auch wenn das Schlüsselbein inzwischen wieder geheilt war.
„Warten Sie, ich versuche Ihnen zu helfen.“
Er hörte wie sie die Wasserflasche abstellte und wenig später saß sie hinter ihm und half ihm vorsichtig sich aufzurichten, sodass er sich an ihr anlehnen konnte. „Hier.“ Sie legte ihm die Flasche vorsichtig an die Lippen und hielt sie so, dass er daraus trinken konnte.
„Danke“, seufzte er erleichtert, nachdem er die halbe Flasche ausgetrunken hatte.
„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“, fragte sie ihn und er konnte die Besorgnis in ihrer Stimme hören.
Ob sie wohl genug Kraft hatte, um seine Schulter wieder einzurenken? Denn diese Verletzung konnte nicht so einfach heilen wie die anderen.
„Wie stark sind Sie?“, fragte er sie und seine Stimme klang schon etwas besser.
„Wie bitte?“ Sie klang verwirrt.
„Denken Sie, Sie haben genug Kraft, um meine Schulter einzurenken?“
„Was?“ Sie keuchte leicht auf. „I-ich…“
„Würden Sie es versuchen?“, unterbrach er sie, bevor sie noch mehr sagen konnte.
„Ich… weiß nicht. Was, wenn ich nicht genug Kraft habe? Dann sind die ganzen Schmerzen umsonst. Und mal abgesehen davon bin ich kein Arzt. Ich kann das nicht. Bitte, lassen Sie mich einen Krankenwagen rufen.“
„Keine Krankenwagen! Bitte, versuchen Sie es!“
„Na gut“, stimmte sie zögerlich zu. „Können Sie sich wieder hinlegen?“
Jamal nickte und Rae rückte langsam von ihm ab, während sie ihn zurück auf den Boden sinken ließ. Die Bewegungen wirkten nicht sehr sicher, aber es waren auf jeden Fall die richtigen, denn sie schaffte es seine Schulter einzurenken.
„Oh, vielen Dank!“, stöhnte er, als das Schultergelenk wieder an seinem Platz war und hob seinen Arm und bewegte ihn leicht. Die Schädigung an den Bändern war Minuten später auch geheilt und seine Lunge fühlte sich langsam aber sicher auch besser an. Wie lange lag er eigentlich schon hier?
„Hab ich es richtig gemacht?“, fragte Rae ihn unsicher.
„Ja… es ist alles bestens. Vielen Dank.“
Eine Weile sagte keiner von ihnen etwas, doch dann fegte ein Windstoß durch die Luft und Jamal fiel auf, dass es für einen Menschen bestimmt sehr kalt war. „Sie können ruhig wieder gehen“, sagte er deshalb zu ihr.
Sie schwieg eine Weile und als er zu ihr hinsah, sah er, dass sie sich auf die Lippen biss. „Ich weiß nicht“, meinte sie schließlich zögerlich. „Wenn ich schon keinen Krangenwagen rufen darf, würde ich lieber bei Ihnen bleiben. Ich möchte nicht, dass Ihnen noch mehr passiert.“
„Ach was. Glauben Sie mir. Ich bin bald wieder fit.“
Sie schob die Augenbrauen zusammen und senkte den Blick. Sie schien ihm nicht zu glauben. Natürlich nicht. Wenn man bedachte, in was für einer Verfassung er gewesen war, als sie zu ihm gekommen war, war es für einen Menschen sicherlich schwer zu glauben, wie viel besser es ihm bereits ging.
„Aber Sie sind doch schwer verletzt. Ich kann Sie hier nicht einfach liegen lassen“, bestätigte sie seine Gedanken.
„Glauben Sie mir, mit mir ist alles in Ordnung. Mein Körper heilt sehr schnell.“ Das war noch nicht einmal gelogen.
Wieder runzelte die Stirn. „Aber doch nicht so schnell.“
Jamal setzte dazu an, etwas zu sagen, um sie zum Gehen zu bewegen – nicht, dass er sie loshaben wollte, aber es war schlichtweg zu kalt für sie hier draußen -, doch sie fiel ihm ins Wort: „Und außerdem, wenn Sie wirklich so schnell heilen, kann ich doch bei Ihnen bleiben, bis es Ihnen wieder besser geht.“
Auf Jamals Lippen bildete sich ein kleines Lächeln. – Er konnte einfach nicht anders. „In Ordnung“, sagte er dann, „aber warten Sie.“ Er richtete sich auf – seine Rippen und Lunge waren inzwischen soweit geheilt, dass er das ohne große Schmerzen tun konnte – und streifte sich, hoffend, dass kein Blut daran war, seine Lederjacke ab und reichte sie Rae. „Hier. Es ist ziemlich kalt heute Abend.“
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